Donnerstag, August 31, 2006

Engel aus Eis

Geschmolzen
Zu Wasser
Geformt
Zu Wolken
Geregnet
Zu Pfützen
Geflossen
Zu Bächen
Gefroren

Zum Engel aus Eis stand kaum lesbar auf dem verschwommenen Schild über der Tür.

Wie ein Verdurstender hatte er sich zuvor mit synthetischen Flüssigkeiten gefüllt und war im toten Winkel einer synthetischen Bar gestanden, die von Schaufensterpuppen bevölkert war. Die windstille Stadt, durch die er anschließend trieb wie ein Geisterschiff, an dessen Dasein er selbst gezweifelt hätte, war ein schwarzes und einsames Polarmeer. Ein entgegenkommendes Schiff wäre durch ihn hindurch gesegelt.

Die Tür ließ sich kaum öffnen, aber er stemmte sich mit seinem massigen Körper dagegen, und schwer atmend stand er auf der Schwelle zum Innenraum des Lokals. Diese Uhrzeit im Zentrum der Nacht existierte nicht in der Welt der Schlafenden, und so wäre er der einzige Gast im Engel aus Eis gewesen.

Hinter dem Tresen stand ein Greis mit bleichem Haar und sah ihn aus einer nicht allzu fernen Zukunft mit rötlichen Augen an. Er stand bis ans Ende aller Dinge im Türrahmen. Dann wendete er sich ab.

Die Morgendämmerung streute staubiges Licht in seine Augen, als er zurück auf die Straße trat. Vom Regen gereinigte Luft öffnete die Zellen an der Oberfläche seiner übernächtigten Haut. Er atmete. Als das blecherne Geprassel des Regens auf dem Weg zum Hotel den Hindipop und die Stimme des Taxifahrers übertönte, wusste er, dass er die Nacht nicht geträumt hatte.

Und sein Innerstes, die Stammkneipe seiner flüchtigen Seele, hatte er wieder nicht betreten.

Mittwoch, August 30, 2006

Weltmeister Schwanzmann

Im Finale gingen die fünfzig besten Athleten der Welt an den Start. Während der Vorrunden, die sich über die gesamte Saison erstreckten, waren Tausende Triathleten gegeneinander angetreten. Aber bei der härtesten Disziplin in diesem Sport, der Ultradistanz, schafften es nur Profisportler ins Finale. Bis auf eine Ausnahme.

Der siebenundsiebzigjährige Robold Schwanzmann war der einzige Amateur im Feld der Berufsathleten. Nachdem er im Vorjahr mit seinem, internationales Aufsehen erregenden, vierten Platz das Siegertreppchen knapp verfehlte, hatte er diesmal den Weltmeistertitel im Visier. Er war in Topform, vollkommen austrainiert. Diesen Idealzustand hatte er sich im Verlauf unzähliger Trainingsstunden angeeignet.

Als am Sonntagmorgen um fünf Uhr der Startschuss fiel, schäumte das Wasser. Nach hundert Metern erkämpfte sich Schwanzmann mit seinem Tretboot eine Position in der Führungsgruppe. In den vergangenen Jahren hatte sich dieser Sport zu einer Materialschlacht entwickelt. Schwanzmanns Tretboot war ein Eigenbau nach längst verschollen geglaubtem Reißbrettgekritzel aus dem Dritten Reich. Es zischte wie ein Torpedo durchs Wasser. Als er das Ziel nach fünfhundert Metern erreichte, waren nur sechs andere Athleten vor Schwanzmann aus ihren Tretbooten geklettert.

Obwohl Minigolf seine schwächste Disziplin war, gelang es ihm nach Durchlauf der achtzehn Bahnen, seine Position in der Gesamtwertung um zwei Plätze zu verbessern. Ernsthafte Schwierigkeiten hatten ihm diesmal nur die Gedankenmühle und das Labyrinth der unfassbaren Emotionen bereitet. Aber damit hatte er gerechnet.

Freiluftkegeln war seine beste Triathlon-Disziplin. Er wusste, dass er alles auf eine Kugel setzen musste. Aber seine Entscheidung fiel auf das falsche Sportgerät. Es stellte sich heraus, dass an diesem weltmeisterschaftlich verregneten Wettkampftag die Kugel mit der Oberfläche aus Schmirgelpappe die bessere Wahl gewesen wäre. Schwanzmann hatte die zwar unschlagbar schnelle, aber bei Niederschlag außerordentlich sensibel reagierende Glasmurmel gewählt. Damit war das Rennen entschieden. Schwanzmann konnte sich zwar um einen weiteren Platz verbessern, was aber umso mehr schmerzte, da er schon wieder Vierter war.

Eine Woche später änderte sich alles. Die Welt stand Kopf. Der größte Skandal aller Zeiten im Triathlon. Sämtliche Medien berichteten über die positiven Doping-Kontrollen der drei Erstplazierten. Beim Weltmeister fand man Spuren von Käsekuchen in der Probe. Beim Vizeweltmeister war es Schwarzwälder Kirschtorte, und der Drittplatzierte hatte seine sportliche Leistung mit der unerlaubten Einnahme von Eierlikör manipuliert.

Schwanzmann bekam nachträglich die ersehnte Goldmedaille umgehängt, auf der das Konterfei von Hans Rosenthal eingestanzt war.

Dienstag, August 29, 2006

Wiederbelebung eines Themas

Das Thema lag nicht nur leblos vor ihm. Es war vollkommen ausgeschlachtet. Eine von vielen Leichen, über die man im Alltag stolperte. Erfahrene Jäger hatten das Thema zur Strecke gebracht und anschließend die besten Stücke mit stumpfen Bleistiften aus dem Körper gehackt, als das Fleisch noch warm war.

Danach kamen die Leichenfledderer. Hyänen und Aasgeier. Sie fraßen fast den kompletten Rest der Geschichte. Sie ließen nichts außer den Knochen und der rechten Hälfte des Kopfes übrig. Teilweise zersetzten sich die verbliebenen Hautfetzen in der Hitze der Wüstenlandschaft mit Unterstützung von Kleinstlebewesen. Teilweise mumifizierten sie zu einer Hülle aus rissigem Leder.

Trotz des hässlichen Anblicks eines gewaltsamen Todes und dem Gestank der Verwesung war er stehen geblieben. Die gekrümmte Körperhaltung des Themas weckte seine Neugier. Er wollte die sterblichen Überreste untersuchen. Während er sich über die Leiche beugte, um herauszufinden, ob noch Details zu sehen waren, hielt er seine Gedanken auf einem Notizblock fest.

Mit seinem Atem auf dem Papier hauchte er dem Thema neues Leben ein, ohne es zu merken. Frisches Fleisch bildete sich an den bleichen Knochen, und aus scheinbar unkontrolliert wuchernden Zellklumpen wuchsen neue Organe. Als die Muskeln und Sehnen ausgebildet und von einer Fettschicht gepolstert waren, wuchs eine Haut darüber. Irgendwann zuckte es, und sein Herz begann zu schlagen.

Die Wiederbelebung kostete ihn große Anstrengung. Mit jeder neuen Maßnahme fühlte er seine Kräfte schwinden. Als es die Augen öffnete und ihn ansah, verlor er das Bewusstsein. Das Thema erhob sich und lächelte den am Boden Liegenden an, bevor es sich umdrehte und davon ging.

Montag, August 28, 2006

Blogmord

Ein bösartiges Lächeln zuckte in seinem rechten Mundwinkel, als er gerade einen durchdachten, doppeldeutigen Kommentar im Weblog der Zielperson verfasste. S hatte sich über seine originellen Kommentare Amora genähert und ihr Vertrauen gewonnen. Speziell für diesen Auftrag hatte er ein eigenes Weblog unter dem Pseudonym S-Senzio eingerichtet, und manchmal, wenn er sie mit einem besonders treffenden Kommentar auf seine Seite gelockt hatte, kommentierte sie auch seine Beiträge, die er ausschließlich vor dem Hintergrund psychologischer Fallen schrieb.

Inzwischen war er sich sicher, dass Amora eine Frau war und keiner von den Männern, die sich im Internet als Frauen ausgaben. Sie ging mit ihren Texten immer bis an die Grenze ihrer Persönlichkeit, die sie allerdings genauso wenig überschritt, wie sie zu einem Austausch über Email bereit war. Obwohl sie wenig schrieb, was Rückschlüsse auf ihre momentane Identität und ihren Aufenthaltsort zuließ, war er sich seiner Sache sicher. Er spürte, wie er ihr von Tag zu Tag näher kam.

Mit technischen Mitteln war Amora nicht zu fassen. Das hatte ihm sein römischer Auftraggeber gleich zu Anfang gesagt, als S ihn angerufen hatte. Der Römer erklärte ihm, dass er einige talentierte Hacker auf sie angesetzt hatte, aber Amoras Weblog befand sich auf einem Server in Asien, und immer wenn sie darauf zugriff, verwischte sie ihre IP-Adresse. Außerdem war es möglich, dass sie häufig die Stadt wechselte und sich von Internet-Cafés aus einwählte.

S beobachtete Amora seit drei Monaten, er hatte jeden ihrer Blogbeiträge analysiert. Auch aus den Kommentaren der Besucher ihres Online-Tagebuchs filterte er aufschlussreiche Hinweise, die er dann kritisch auswertete. Bei einem ihrer Kontakte war sich S sicher, dass Amora ihn persönlich kannte. Sein Pseudonym war Odium, aber er machte in einem Impressum Angaben zu seinem Klarnamen und zu der Stadt, in der er wohnte. S hatte sich bereits vor einigen Wochen Zugang zu Odiums Wohnung verschafft und sich dort während dessen Abwesenheit umgesehen. Kurz zuvor hatte Odium in seinem Weblog angekündigt, dass er für mehrere Monate beruflich ins Ausland müsse.

Das Appartement war stilvoll und detailverliebt eingerichtet. S gewann interessante Einblicke in Odiums Persönlichkeit, aber auch auf dem Computer fand er keine Hinweise auf Amora. Trotzdem spürte er ihre Nähe. Er wusste, dass er auf dem richtigen Weg war.

Als S gerade das Fenster geöffnet hatte, um frische Luft ins Zimmer zu lassen, wurde er von einem Pfeil getroffen, der von schräg oben direkt unter dem linken Schlüsselbein in die Brust eintrat und sein Herz durchbohrte. Der Pfeil war von Amora abgeschossen worden, der mit einer Präzisionsarmbrust hinter dem Kamin des gegenüber liegenden Hauses stand.

Amora liebte sein Spiel. Es bestand darin, sich Methoden auszudenken, um die Identität und den Aufenthaltsort von Profikillern herauszufinden, die er dann zur Strecke brachte. In diesem Fall hatte er die Online-Variante gewählt. Nachdem er S über den Mittelsmann beauftragt hatte, rief dieser ihn an und er nannte S die Webadresse von Amoras Weblog, den er kurz zuvor ins Leben gerufen hatte und mit scheinbar verschlüsselten Texten fütterte.

Zusätzlich richtete er ein zweites Weblog ein. Von dort aus agierte er unter dem Decknamen Odium und schrieb Kommentare bei Amora. Das Impressum in Odiums Weblog führte zu einem Appartement, das er speziell für diese Jagd angemietet und mit Liebe zum Detail eingerichtet hatte. Es war klar, dass S früher oder später in der Wohnung auftauchen, und ihn von dort zu seiner eigenen Adresse führen würde.

Amora legte die Ambrust in den schwarzen Plastikkoffer. Er war ein leibhaftiger Superheld, und ein bösartiges Lächeln zuckte in seinem linken Mundwinkel.

Sonntag, August 27, 2006

Globalderby



Es waren die einzigen Abenteuer in Existenzen, die ansonsten entweder aus stumpfsinniger Arbeit bestanden, oder aus Arbeitslosigkeit, die noch stumpfsinniger war.

Das Blut der Ereignisse vom vergangenen Spieltag war kaum getrocknet, die Verluste kaum verschmerzt, wenn wieder eine leere Woche vor ihnen lag, in der sie sich auf die nächste Begegnung vorbereiteten. Es war immer die kommende Begegnung, die sie sich noch härter und brutaler wünschten, als alle vorangegangenen. Im Biernebel ihres Stammlokals wurden abends Taktiken und Kampfaufstellungen besprochen.

In den vergangenen Jahren hatte sich die Gewalt von den ersten Ligen in die Regionalligen verlagert. Hier war die Situation für die Polizeibehörden zu unüberschaubar, um wirkungsvolle Maßnahmen zu ergreifen und die Fans voreinander zu schützen.

Ältere Beamte erinnerten sich gern an längst vergangene Zeiten, in denen sich radikale Mitglieder von verfeindeten Fanklubs hinter echten Stadien verabredeten, um mit echten Schlagringen und echten Stahlkappenstiefeln aufeinander loszugehen.

Seit sich die Auseinandersetzungen in Software-Welten verlagert hatten und über Online-Netzwerke ausgetragen wurden, war die Szene völlig unkontrollierbar geworden. Selbst wenn man durch verdeckte Ermittler herausgefunden hatte, wann und wo eine Prügelei stattfinden sollte, war die Arbeit der Sondereinsatzkommandos mit großen gesundheitlichen Risiken verbunden. Um in die Kampfhandlungen einzugreifen, mussten sich die Beamten mittels Elektroden mit dem Netz verdrahten.

Es wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Anbieter von Hooligamez 3.0 dazu verpflichtete, einen Emergency Link in die Software einzubauen. Diese Funktion ermöglichte zwar im Vergleich zu älteren Versionen den rechtzeitigen Ausstieg und verhinderte meistens tödliche Verletzungen, löschte aber gleichzeitig alle Spuren und das gesamte Beweismaterial.

Außerdem waren die Fanklubs den Behörden in der Entwicklung von hinterhältigen Hacks immer einen Schritt voraus.

Samstag, August 26, 2006

Der gefeuerte Hilfsteufel

Ein Märchen für Kinder ab 666 Jahren

Der kleine Hilfsteufel taugte nichts. Im Innendienst stellte er sich an wie der letzte Mensch, und seine Akquisitionsquoten im Außendienst waren miserabel. Sein Abteilungsleiter war der Ansicht, dass er im Grunde kein guter Kerl war, aber von Seiten des wichtigsten Auftraggebers, der Paradies AG, hatte man sich mehrfach über den Hilfsteufel beschwert.

Nachdem das Kind schon wieder an der roten Ampel stehen geblieben war, und dem Crackraucher trotz intensiver Betreuung ein erfolgreicher Entzug gelang, konnte sein Vorgesetzter eine weitere Beschäftigung des ungeschickten Hilfsteufels nicht mehr länger rechtfertigen.

Entlassungen auf der niedersten Hierarchieebene der Hölle mbH, einer Tochterfirma des Hades Konzerns, wurden nicht vom Geschäftsführer Satan persönlich, sondern vom jeweiligen Bereichsleiter ausgesprochen. Dieser empfahl ihm mürrisch, sich als Schutzengel zu bewerben.

Als er sich auf die Stelle eines Bürogehilfen im elften Vorzimmer des Erzengels Gabriel bewarb, lehnte man ihn mit einem formalen Standardschreiben ab. Die Begründung lautete, er sei überqualifiziert. Auf seine fernmündliche Nachfrage teilte ihm ein Sachbearbeiter aus der Personalabteilung sein Bedauern darüber mit, dass keine Position ausgeschrieben sei, die den emotionalen Leistungen des Hilfsteufels angemessen war. Man wünschte ihm viel Erfolg für die berufliche Zukunft. Mit seiner hervorragenden Qualifikation und dem glänzenden Lebenslauf gäbe es sicher keine Schwierigkeiten, eine Anstellung zu finden. Trotz der kleinen biografischen Lücke von etwa 2000 Jahren.

Aber auch nach 666 Bewerbungen hatte er noch kein einziges Vorstellungsgespräch. Für die einen war er zu gut und für die anderen zu schlecht.

Es war sowieso alles ein großes Missverständnis, das auf dem Fehler eines Zollbeamten an der Grenze zu Aeterna vor 2000 Jahren beruhte. Er schaltete den Fernseher ein, ließ sich auf seine durchgesessene Couch fallen und öffnete eine weitere Bierbüchse.

Er hätte nie gedacht, dass ausgerechnet er, als Sohn Gottes, irgendwann einmal so tief sinken würde.

Freitag, August 25, 2006

Menschen/Menschen

Kann man die Menschheit einteilen in die einen, die eine Bereicherung sind, und in die anderen, die zur Verarmung beitragen?

Donnerstag, August 24, 2006

Lebensabendbrot

Um mir selbst die krokodilstränenreiche Haushaltstätigkeit des Zwiebelschälens für den Belag des Lebensabendbrotes zu ersparen, will ich mit der Produktion von Biomüll frühzeitig beginnen:

Ich habe den Dienst an der Waffe verweigert.

So. Jetzt ist es öffentlich dokumentiert und weltweit verfügbar. Keiner wird mir in 40 Jahren vorwerfen können, ich hätte dieses Geständnis früher ablegen müssen.

Deswegen sollte man doch kein schlechtes Gewissen haben, könnte man dem überpünktlichen Geständigen jetzt mitleidig zuraunen, aber wer weiß, wie die Zeitgenossen in 40 Jahren darüber urteilen werden? Vielleicht wird dieses biografische Detail zu einer Ergänzung des Vorstrafenregisters, zu Freiheitsentzug, oder zur standrechtlichen Erschießung führen. Vielleicht wird sogar mit dem Entzug des Nobelpreises oder eines anderen Tombolagewinns gedroht, wenn sich herausstellt, dass man einst die Verteidigung des Vaterlandes unter Einsatz von Gewalt ablehnte.

Ich bin davon überzeugt, dass die vor 20 Jahren getroffene Entscheidung richtig war, aber meine Haltung gegenüber militärischen Einsätzen ist heute differenzierter als damals. Und die Haltung von Günter Grass gegenüber menschenverachtenden Diktaturen ist nicht erst seit gestern differenzierter als vor über 60 Jahren.

Seine literarische Größe kann keiner abstreiten, der etwas vom Metier versteht. Wer ihm einen Vorwurf aus der Mitgliedschaft in der Waffen-SS macht, sollte seine Zeit besser auf die Frage verwenden, wie man sich selbst in den Jahren zwischen 1918 und 1945 verhalten hätte. Die einzige richtige Antwort darauf ist, dass man es nicht mit letzter Gewissheit sagen kann, und worüber man sich im eigenen Fall nicht sicher ist, darüber sollte man bei anderen nicht urteilen.

Im Fall von Günter Grass bleibt nur eine Frage offen: Warum konnte er die biografische Lüge nicht vor oder während der Verleihung des Nobelpreises oder anderen Auszeichnungen korrigieren? Es wäre hinsichtlich seiner künstlerischen Karriere riskant gewesen, aber er hätte den Jury-Mitgliedern und dem Wert der Auszeichnungen zu wahrer Größe verhelfen können, wenn er die Möglichkeit der Entscheidung eingeräumt hätte, ihn trotz menschlicher Schwächen für seine Stärken zu ehren. Vor allem aber hätte er sich selbst zu menschlicher Größe verholfen.

Grass verstand es schon immer, sich medial in Szene zu setzen, und Eigenmarketing ist einem Künstler, der den Erfolg seiner Arbeit in der Öffentlichkeit sucht, nicht vorzuwerfen. Aber seine Natur der Selbstinszenierung ist vermutlich nicht der Grund des späten Publikationszeitpunktes. Im Interview mit Ulrich Wickert (s.a. Spiegel Nr. 34 vom 21.8.06) äußerste sich Grass über seine Zeit in der Waffen-SS glaubhaft: Das lag bei mir begraben.

Fast kann er einem leid tun bei dem Gedanken, dass er ein alter Mann ist, dem auf den letzten Gängen zum Beichtstuhl vielleicht nicht mehr viel Zeit bleibt. Es liegt viel in uns begraben, das eine wahre menschliche Größe verhindern kann. Traurig, wenn man erst im Alter die Angst vor der Bergung der eigenen Leiche aus dem Keller verliert. Aber besser als nie.

Mittwoch, August 23, 2006

Kein Rosengarten




Als die Polizisten zehn Minuten nach Zwei am frühen Nachmittag vor dem Hochhaus in Tokios Stadtteil Kanda standen, übte Tetsuo seit sieben Stunden und zwölf Minuten. Er hatte während dieser Zeit die acht Quadratmeter seines Zimmers nicht verlassen.

Im Gegensatz zu Yamazuka, der Bratsche spielte, konnte Tetsuo es sich erlauben, in den eigenen vier Wänden zu üben. Als Dirigent bekam er keinen Ärger mit den Nachbarn. Dank seiner Kopfhörer studierte er neue Stücke ein, ohne dass die Außenwelt etwas davon mitbekam. Orchesterliteratur, die er
auswendig beherrschte, dirigierte Tetsuo ohne Hilfe der Kopfhörer. Tetsuo war ein lautloser Musiker. An diesem Dienstag dirigierte er Bruckners achte Sinfonie in c-moll, die er seit Jahren nur über die Vorstellung der Musik in seinem Kopf perfektionierte.

Tetsuos Mitbewohner Yamazuka musste sich jeden Tag in die Listen vor den begehrten Übungszellen an der Hochschule eintragen, um ein angemessenes Übungspensum zu erreichen. Die beiden Studenten sahen sich kaum, was aber keinen störte, da jeder in seinem eigenen musikalischen Universum lebte.

Tetsuo wunderte sich, dass er Yamazuka drei Stunden und acht Minuten zuvor für die Dauer von exakt zwei Minuten und fünfzig Sekunden pfeifen hörte. Es war eine Angewohnheit Tetsuos, bei jedem außergewöhnlichen akustischen Ereignis kurze Blicke auf die Uhr zu werfen und sich Anfang und Ende, sowie die exakte Länge des Ereignisses zu merken. Diese Zeitdaten konnte er dauerhaft in eigens dafür eingerichteten Schubladen seines Gedächtnisses ablegen. Tetsuos Formel seines Daseins lautete: Leben = Hören x Zeit.

Das Pfeifen war zu dieser Uhrzeit ein außergewöhnliches akustisches Ereignis, denn eigentlich sollte
Yamazuka in seiner Übungszelle sein.

Yamazuka hatte die lästige Angewohnheit, ständig irgendwelche Schlagertitel vor sich hin zu pfeifen. Keine japanischen Schlager, sondern westliche Melodien. Tetsuo konnte sich nicht erklären, woher sein Mitbewohner diese Lieder überhaupt kannte, da das Studium der klassischen Notenliteratur seiner Meinung nach die gesamte Zeit eines Musikers beanspruchte.

Das Lied, das er an diesem Tag gepfiffen hatte, setzte sich aufgrund verschiedener Umstände in Tetsuos Gedächtnis fest. Es war nicht einfach zu pfeifen, und obwohl Tetsuo die Melodie nicht kannte, fiel ihm auf, dass Yamazukas Zeitmaß zwar exakt war, er aber an drei Stellen um einen Halbton daneben lag. Schlager sind in ihren musikalischen Strukturen banal und die zugrunde liegenden Kompositionsregeln waren
nach Tetsuos Ansicht international vergleichbar, solange man die kulturell bedingt unterschiedlichen Tonleitern berücksichtigte.

Merkwürdig war aber vor allem, dass das Pfeifen nicht aus Yamazukas Zimmer zu kommen schien. Aber Tetsuo war sich sicher, dass es nur Yamazuka sein konnte, der pfiff, denn er hätte Yamazukas Pfeifen unter jedem anderen heraushören können.

An Tetsuos und Yamazukas Wohnung hatten die Polizisten zuerst geklingelt, weil die beiden direkte Nachbarn der jungen Frau Hakase waren. Akemi Hakase war
kurz zuvor von ihrem Vater tot in ihrer Wohnung entdeckt worden. Überall in der winzigen Wohnung klebte Blut. Der mit Tatamimatten ausgelegte Boden, die Wände, und sogar die Decke waren mit Blut beschmiert.

Der Arzt stellte fest, dass der Tod der jungen Frau gegen elf Uhr eingetreten sein musste. Die Befragung der Nachbarn ergab, dass keiner um diese Uhrzeit etwa Besonderes bemerkt hatte.


Frau Hakase war auf eine außerordentlich grausame Weise gefoltert und ermordet worden. Man hatte ihr den Mund mit einem breiten Lederriemen geknebelt. Der Rest ihres Körpers war mit dünnem, aber reißfestem Nylon in der Art von Angelschnur gefesselt. Die durchsichtige Schnur war so fest angezogen, dass sie unter die Haut bis
tief ins Fleisch und an zwei Stellen sogar bis auf die Knochen schnitt. Der Mörder musste beim Festziehen der Schnur eine ungeheure Kraft aufgewendet haben. Zusätzlich war Akemi Hakases Körper von einer Unmenge kleiner Schnittwunden übersäht, die man ihr mit einer Rasierklinge beigebracht hatte. Die tiefen Wunden wären als einzelne Verletzungen zwar schmerzhaft, aber nicht tödlich gewesen. Die Menge der Verletzungen führte zu einem hohen Blutverlust mit Todesfolge.

An eine Wand des Wohnraumes hatte der Mörder
in westlicher Schrift mit dem Blut der toten Frau, quer über ein Bild des Buddha, die Worte I never promised you a rosegarden geschmiert.

Bei der Vernehmung sagte
Tetsuo dem Polizisten mit Dienstgrad eines Keibi, er habe nichts von dem Mord mitbekommen. Auf die Frage nach seinem Mitbewohner antwortete er, Yamazuka sei noch vor Sonnenaufgang zum Üben in die Hochschule gefahren. Als Yamazuka am späten Abend aus dem Karate Dojo kam, fragte er ihn, ob er gegen elf Uhr in der Wohnung gewesen sei. Aber Yamazuka schaute ihn nur irritiert an und schüttelte den Kopf. Tetsuo musste sich getäuscht haben, denn Yamazuka vertrat die traditionelle, japanische Auffassung von Ehre.

Genau wie die anderen Nachbarn mussten sich die beiden Musikstudenten eine Woche später zu einer weiteren Vernehmung auf dem Revier einfinden.

Die Suche nach dem Mörder blieb nicht erfolglos. Vier Wochen nach der Tat wurde ein Arbeitskollege von Frau Hakase festgenommen, der laut ihren Kolleginnen bereits durch sexuelle Belästigungen aufgefallen war. Auf der Festplatte seines Computers fand man Unmengen pornografisches Material aus dem SM-Bereich, das sich der Mann von illegalen Internet-Servern heruntergeladen hatte. Nach tagelangen Vernehmungen gestand der Verdächtige die Tat.

Yamazuka stand kurz vor dem Abschluss seines Hochschulstudiums und zog zwei Monate nach dem Mord aus der gemeinsamen Wohnung aus. Er ging in die Vereinigten Staaten, wo er in verschiedenen Orchestern spielte. Die beiden verloren schnell den Kontakt und auch Tetsuo zog nach seinem Examen weg aus Tokio. Nach einigen Orchesterstationen in Europa arbeitete er als Dirigent in Yokohama.

Während einer Europatournee mit seinem Sinfonieorchester stöpselte Tetsuo auf dem Flug zwischen Wien und Mailand die Kopfhörer in das Bordradio ein. Er hatte zwar ein digitales Arsenal an eigenen Tonkonserven dabei, aber manchmal hörte er gerne Radio, weil er den Überraschungseffekt mochte. Auf der Suche nach dem Klassiksender hörte Tetsuo plötzlich fünf Töne einer Melodie, die ihm bekannt vorkam. Er war für die Dauer von höchstens zwei Sekunden bei dem Programm hängengeblieben, weil der Schalter für die Sendersuche klemmte. Obwohl er weitergeschaltet hatte, blieb ein beklemmendes Gefühl. Er schaltete wieder zurück auf den anderen Sender, wo eine Frauenstimme diesen
amerikanischen Countrytitel sang.

Als er die zweite Textzeile des Refrains hörte, konnte Tetsuo die Melodie plötzlich wieder zuordnen und an seinen Schläfen bildeten sich winzige Schweißperlen. Der Radiomoderator nannte als Interpretin Lynn Anderson. Um sich eine letzte Sicherheit zu verschaffen, suchte Tetsuo nach seiner Ankunft in Mailand sofort einen Musikladen auf
und verlangte alle verfügbaren Tonträger von Lynn Anderson. Das Stück befand sich auf der CD Rose Garden und hatte eine Länge von zwei Minuten und fünfzig Sekunden.

Dienstag, August 22, 2006

Wie heißt du?

Montag, August 21, 2006

Stresstest

Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause sprach mich eine Dame auf der Kaiserstraße an.

Endlich ein zwischenmenschlicher Beitrag mit Pep auf dieser stinkenden Textmüllkippe, könnte man beim Lesen des vorangegangenen Satzes meinen, zumal sich die Frankfurter Kaiserstraße einst eines gewissen zwischenmenschlichen Rufes erfreute.

Aber weit gefehlt, reines Täuschungsmanöver, kein Pep. Die Dame gehörte einer Interessengemeinschaft an, die nur zehn Prozent ihres Gehirns nutzt. Zumindest kann ich mich mit Unterstützung der anderen neunzig Prozent meines Gehirns daran erinnern, dass der Verein irgendwann mit dieser erschütternden Selbstdiagnose um Opfer Mitglieder geworben hat.

- Darf ich Sie zu einem kostenlosen Stresstest einladen?

Ich antwortete ihr, dass ich mich glücklicher Weise zu dem Teil der Bevölkerung zählen darf, der noch nicht auf der Straße steht und fremde Menschen ansprechen muss.

- Ich verbringe in meinem Job über ein Drittel des Tages mit pausenlosen Stresstests, und mir fällt kein zwingender Grund ein, das in meiner Freizeit fortzusetzen.

Der Dame fielen offenbar auch keine zwingenden Gründe ein. Sie blinzelte mich wie gehirngewaschen an und hielt ihren Kopf in Schräglage, bis ich ihr noch einen sonnigen Rest des Tages wünschte.

Nutzt ein Großteil der Zeitgenossen tatsächlich nur zehn Prozent des Gehirns? Wie sonst kann man mit dem dünnen Konzept kostenloser Stresstests erfolgreich Opfer Kunden Mitglieder ködern? Ich kann mir das höchstens noch mit akuten Stressdefiziten erklären.

Sonntag, August 20, 2006

Das Schnarchen

Es begann kaum hörbar, mit dem Hauch eines Röchelns, irgendwo in den lichtlosen Niederungen der Luftröhre. Um es wahrzunehmen, wäre ein Stethoskop erforderlich gewesen. Vielleicht hätte man es in diesem Stadium noch zum Verstummen bringen können. Es war leise und störte noch keinen. Aber es wuchs.

Aus dem Röcheln wurde ein ungeöltes, organisches Geräusch, das an die knarrende Tür eines Kleiderschranks mit unsachgemäß eingestellten Scharnieren erinnerte. Im Wachzustand wäre ein Kitzeln in der Rachengegend zu spüren gewesen. Das Knarren vermischte sich mit einem Gurgeln, wodurch das kehlige Geräusch zunächst angefeuchtet und dann zunehmend bewässert wurde, bis das plätschernde Rinnsal zu einer blubbernden, schäumenden, brodelnden Dezibelflut anschwoll.

Die durch das Geräusch entstehenden Vibrationen ließen einige Teetassen auf der Spülablage klirren. Als eine der Tassen in das Edelstahlbecken fiel und zerbrach, wackelten bereits Einrichtungsgegenstände. Die Lautstärke nahm weiter zu.

Der Ärger der Nachbarn wandelte sich in Sorge. Als das Gebäude wie bei einem leichten Erdbeben erzitterte, verließen die Ersten ihre Wohnungen. Bald war die ganze Straße von dem Beben erfasst. Das Geräusch dehnte sich aus. Inzwischen war es unaufhaltbar und wuchs mit orkanartiger Geschwindigkeit. Es ereilte Straßenzüge und binnen Sekunden die ganze Stadt. Für den Einsatz von Ordnungsorganen war es längst zu spät, denn das gewaltige Geräusch hatte nicht nur das ganze Land ergriffen, sondern rollte über den Kontinent und setzte sich auf anderen Kontinenten fort. Es löste Seebeben aus und ließ Berge einstürzen. Tiefe Risse zogen sich durch die Erde, der Planet fiel auseinander.

Inzwischen hatten die Schallwellen gigantische Dimensionen erreicht, sie überwanden die Physik und setzten sich im luftleeren Raum fort. Himmelskörper wurden aus ihren Umlaufbahnen geschleudert und zerschellten aneinander. Sonnensysteme stürzten in sich zusammen, Galaxien wurden auseinander gerissen. Das Universum wackelte in seiner Verankerung.

Es war die Rache an der schöpferischen Kraft, es war der entgegen gesetzte Urknall.

Und nur ein einziges Wesen wusste, woher es kam.
Das Schnarchen begann in dir.

Samstag, August 19, 2006

Motto #4, in Ergänzung zu #3

Nichts unterschreiben ist Grundgesetz.

-- Illustration --

Text unter Porträtfoto:
"Wir unterschreiben nicht. Es wird jedoch der Tag kommen, da wir Kommunisten dieses Grundgesetz gegen die verteidigen werden, die es angenommen haben." Max Reimann

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Motto #3

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Freitag, August 18, 2006

Bildungsreise im Lastenaufzug

Wenn Escher Akten aus fremden Abteilungen benötigte, bereiste er die entlegenen Stockwerke des Amtsgebäudes mit Hilfe eines Paternosters. Am Vormittag eines glutheißen Tages im August musste er der handschriftlichen Information auf einem Schild entnehmen, dass der Paternoster wegen einer Störung außer Betrieb war. Die sorgfältige und zugleich energische Schrift ermöglichte eindeutige Rückschlüsse auf die Zuverlässigkeit des Verfassers.

Trotzdem steckte Escher seinen Kopf kurz in den stillen Schacht. Er vernahm gedämpfte Stimmen aus einem anderen Stockwerk, aber vom Summen der in belebten Zeiten auf-, und absteigenden Plattformen war nichts zu hören. Der Paternoster war ein abgestorbenes Organ im mechanischen Eingeweide des Gebäudes.

- Nehmen Sie doch den Lastenaufzug,

hörte er die mit einem Kehlkopfmikrofon erzeugte Stimme hinter sich krächzen. Obwohl ihm die Stimme vertraut war, erschrak Escher bei seiner Kontemplation in Sachen Paternoster-Problematik. Als er sich umdrehte, sah er gerade noch den grauen Rücken seines Vorgesetzten um die Ecke biegen.

Der Lastenaufzug. Er befand sich direkt neben dem Paternoster, und noch nie war es Escher in den Sinn gekommen, einen Fuß in dieses monströse Beförderungsmittel zu setzen.

Ohne den Inhalt der Akten zu kennen, wusste er von seinem Vorgesetzten um die Dringlichkeit der Bearbeitung. Es handelte sich um eine Dienstanweisung von ganz oben.

Er hätte den Weg zum fünf Stockwerke tiefer liegenden Standort der Akten über das Treppenhaus bewältigen können, aber der Rückweg mit den schweren Ordnern voller Papier hätte seine Konstitution unverhältnismäßig strapaziert.

Der auf ihm lastende Aktenbearbeitungsdruck führte zu Eschers Erwägung, tatsächlich den Lastenaufzug zu benutzen. Vorsichtig strich er über den nach unten zeigenden Pfeil, und noch bevor er sich versah, hatte er den Knopf gedrückt. Es passierte wie versehentlich, aber vor sich selbst hätte er weder seine versteckte Absicht, noch die Neugier auf eine außergewöhnliche Erfahrung leugnen können. Die Entscheidung war gefallen, es gab kaum mehr ein Zurück. Irgendwo im Inneren des Schachts setzten sich die Stahlseiltentakel des Monstrums in Bewegung.

In den Lack der Beförderungskabine hatte jemand ordinäre Bezeichnungen für weibliche Geschlechtsorgane geritzt. Escher wurde mulmig, er warf einen Blick auf seine Uhr. Nachdem er den Knopf mit der gewünschten Zielangabe gedrückt hatte, setzte sich der Fahrstuhl mit einem Ruck in Bewegung.

Die Kabine war zur Hälfte mit Kartons gefüllt, die man bis unter die Decke gestapelt hatte. Im Neonlicht las Escher die Beschriftungen. In den Kartons befanden sich offenbar Lebensmittel.

Die Fahrt schien kein Ende zu nehmen. Da die Stockwerkanzeige über der Tür ausgefallen war, hatte Escher keine Orientierung hinsichtlich seiner vertikalen Position. Eine nervöse Unruhe machte sich in ihm breit. Seine Armbanduhr war ausgefallen, und der Fahrstuhl bewegte sich mit einer bedrohlichen Langsamkeit abwärts. In Eschers inneren Uhr verstrichen die Minuten, die Stunden. Der Lastenaufzug verfügte über keinen Notruf.


Escher hatte eine Weile in der Ecke gekauert, als er einen gewaltigen Appetit verspürte. Durch das Anstarren der Beschriftungen auf den Kartons wuchs der Appetit, und irgendwann entschloss er sich, eine der Verpackungen zu öffnen. Dabei kippte ein Stapel Kartons zur Seite und gab den Blick auf ein Fenster frei, das in der Seitenwand des Lastenaufzugs eingelassen war. Vor dem Fenster zog eine tropische Landschaft in der mittleren Reisegeschwindigkeit eines D-Zuges vorbei. Das Fenster ließ sich allerdings nicht öffnen, und die senkrechte Bewegung des Fahrstuhls stand keineswegs im Einklang zur waagrecht vorbeiziehenden Tropenlandschaft. Nach einer kurzen Übelkeit gewöhnte sich Escher an das ungewöhnliche Fahrgefühl. Im Lastenaufzug wurde es warm, Kondenswassertropfen rannen über den zerkratzten Lack.

Schwitzend räumte Escher die Kartons zur Seite, darunter entdeckte er ein frisch bezogenes Feldbett. In der hinteren Ecke befand sich eine unverschmutzte Toilette. Vor dem Fenster ging in diesem Moment eine tropische Sonne unter, und nachdem Escher das Naturspektakel beobachtet hatte, legte er sich schlafen.

Sieben Mal ging die Sonne auf und wieder unter. Escher bediente sich vom schmackhaften Inhalt der Kartons und legte sich bei Einbruch der Nacht auf dem Feldbett zur Ruhe. Leider konnte man das Neonlicht in der Kabine nicht abschalten. An jedem neuen Tag zog vor dem Fenster ein anderes imposantes Bauwerk vorbei. Einem Reiseführer, den er unter der Matratze entdeckt hatte, entnahm Escher, dass es sich bei den Bauwerken um die sieben Weltwunder der Antike handelte: die Pyramiden von Gizeh, die Zeusstatue des Phidias, den Artemis-Tempel, das Grabmal von Mausolos, die Hängenden Gärten von Babylon, den Koloss von Rhodos, und der Kreis schloss sich beim Leuchtturm von Pharos. Eschers Befindlichkeit verbesserte sich beständig, denn er war sich der Einzigartigkeit der Reise bewusst. In der letzten Nacht stoppte der Lastenaufzug plötzlich, und die Tür öffnete sich.

Beim Verlassen der Kabine warf Escher einen Blick auf seine Armbanduhr. Er stellte fest, dass die Zeitmessung wieder funktionierte. Seit Beginn seiner Reise waren sechsundfünfzig Sekunden vergangen. Wie nach einer längeren Seereise, hatte er ein Gefühl, als ob der feste Boden unter seinen Füßen schwankte. Auf dem Weg zurück in sein Büro entschied sich Escher, trotz der konstitutionellen Verausgabung, ohne das geringste Zögern für die Treppen.

Die Bearbeitung der Akten erfolgte ordnungsgemäß und rechtzeitig. Der Paternoster wurde nie wieder instand gesetzt, und Eschers körperliche Ausdauer verbesserte sich mit jeder neuen Woche.

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Donnerstag, August 17, 2006

Traumlosigkeitsdeutung

Mit Leid im Freud herumgeirrt und daher aus psychologischer Froschperspektive mit Vorsicht formuliert: Ist es möglich, im nächtlichen Schlaf zu träumen, dass man nichts träumt, und sich daher niemals an den Inhalt eines Traumes zu erinnern, um nach Erwachen irrtümlicher Weise davon auszugehen, dass man nicht geträumt hat?

Mittwoch, August 16, 2006

Nekrolog für einen Pausenclown (Entwurf)

Fröhliche Trauergemeinde! Um die wichtigsten Angelegenheiten während und nach dem irdischen Intermezzo sollte man sich persönlich kümmern. Daher kam der Verstorbene vor seinem Ableben nicht umhin, sich geschwind noch einen Nekrolog auf den toten Leib in spe zu schneidern.

Um es nicht inszeniert wirken zu lassen, sollte diese Grabrede ursprünglich aus unartikuliertem Geschrei und Gesabber komponiert sein, so wie der Mensch direkt nach seinem Eintritt in die Welt der autonomen Stoffwechselprozesse nur in der Lage ist, unartikuliert zu schreien und zu sabbern. Unartikuliertes Geschrei und Gesabber wären vielleicht überhaupt die würdigsten Ausdrucksformen in allen Lebenslagen. Aber damit es auch für die banal Strukturierten unter den Versammelten verständlich bleibt, wird hier kaum gesabbert, und schon gar nicht unartikuliert geschrieen.

Wie dem größten Teil des anwesenden Publikums bekannt sein dürfte, hat der Verstorbene die meiste Zeit seines irdischen Daseins damit zugebracht, als Pausenclown halbwegs anständig über die Runden zu kommen. Dieses rechtschaffene Ansinnen scheiterte zuweilen bereits an der glitschigen Schwelle seines eigenen Humors. Er stürzte sich gern zum Lachen in den Keller, weil sich dort unten, hinter Kohlen und Kartoffeln, die kapitalsten Brüller versteckten.

Trotz ungesundem Humor strengte sich der Abgekratzte an, seinen Zeitgenossen mit Respekt zu begegnen. Er bedauerte den Verlust religiöser Neigungen, denn die Toten waren ihm nicht annähernd so gleichgültig wie alles, was vor ihm lag. Rituale waren ihm verdächtig, und er hasste die Mittelmäßigkeit. Lieber völlig verstört, als mittelmäßig. So lautete sein Credo, und dennoch waren die Momente außerhalb der Mittelmäßigkeit trotz anhaltender Verstörung selten.

Heute pfeifen wir einen ins letzte Loch, dem ein einziger Blick auf ein Gemälde von Rembrand mehr wert war, als das gesamte verworrene Drehbuch der bewegten Bilder. Einen, für den Musik kein Stimmungsbarometer, sondern die einzige begreifbare Analyse des Seins war. Einen, der die unordentlichen Erfahrungen den ordentlichen vorzog. Einen, der bei langen Reden gerne herzhaft gähnte und dabei hoffte, dass es jeder mitbekam. Einen, der an diesem Grab stehend die letzte Möglichkeit nicht verpasst hätte, auf die fadenscheinigste Informationsquelle aller Zeiten: www.frischerfischvonvorgestern.de hinzuweisen. Surfen Sie mal vorbei, fröhliche Trauergemeinde. Etc.

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Anmerkung:
Ich hoffe, dass der Text nicht zeitnah benötigt wird, denn ich würde gerne noch eine Weile daran herumfeilen, bevor ich umkippe. Hundertprozentig zufrieden bin ich mit diesem ersten Entwurf nämlich nicht, aber so ähnlich könnte ein Grabgelaber nach meinem Gusto formuliert sein. Oder alle halten einfach nur die Schnauze - falls überhaupt jemand auftaucht. Selbstverständlich lege ich jedem notorischen Partygänger jetzt schon nahe, seine Zeit nicht auf meiner Beerdigung zu verbummeln, da sich bestimmt noch sinnfreiere Tätigkeiten finden lassen. Dieser offene Hinweis entspricht meinem Verständnis von Fairness, denn man sollte bei aller Vergnügungssucht stets der Möglichkeit gewahr sein, den persönlichen Zeitplan an der größtmöglichen Sinnfreiheit auszurichten. So kommt man dem eigentlichen Wesen des Daseins relativ hurtig auf die Schliche.

In den USA scheint es üblich zu sein, dass Freunde eines Verstorbenen während der Bestattungszeremonie an das Rednerpult treten und Anekdoten aus dem früheren, gemeinsamen Leben erzählen. Ich habe das einmal auf der Beerdigung eines amerikanischen Bekannten erlebt und halte es für eine drollige Variante, um die einschläfernden Beisetzungszeremonien mit Unterhaltungswert anzureichern. Falls bei meinem Urnenspektakel also doch noch einer auftaucht, würde ich mich jetzt schon über Schilderungen besonders wüster Szenen freuen.

Aber ich mache es sowieso wie Fidel Castro und überlebe einfach alle. ¡Salud señoritas, auf die kommenden hundert Jahre! Hasta la muerte siempre!

Dienstag, August 15, 2006

Die Verpflichtung

Im Moment eines Sekundenschlafes haben sie ihm heimlich das Abspielgerät entwendet. Seither beharrten sie auf ihrer Behauptung, er hätte nichts bei sich gehabt, als man ihn zu seinem Nachtdienst einlieferte.

Er war sich vollkommen sicher, dass er das Abspielgerät und einige andere Dinge unter dem Arm hatte, als er in den cremefarbenen Wagen stieg. Aber seine Patienten wollten ihm weismachen, dass er getobt und geschrieen habe, und dass er überhaupt nichts bei sich trug. Dass er auch keine Kleidung am Körper getragen habe. Dass alles verbrannt sei in einem Feuer. Dass angeblich er das Feuer gelegt haben soll.

Jetzt lag er auf dem Bett in seinem cremefarbenen Bereitschaftszimmer und starrte durch den Rauch seiner Zigarette die Bilder an den Wänden an, auf denen exotische Schmetterlinge flimmerten. Er trug die unvermeidbare weiße Dienstkleidung. Seine private Garderobe war schwarz und zum größten Teil aus Leder gefertigt.

Er konnte sich kaum noch wach halten. Aber falls er einschlief, würde er ihnen die Kontrolle überlassen.
Er durfte sich keine Schwäche erlauben.

Schlimmer als die Müdigkeit war die Simulation des Schlafes. Wenn er die Augen schloss, um ihnen vorzutäuschen, dass er schlief, bestand die Gefahr, tatsächlich einzuschlafen. Aber die Simulation war von enormer Bedeutung, da er trotz seiner Resistenz nicht zusätzlich mit der Einnahme von Schlafmitteln konfrontiert werden wollte. Seine Patienten waren schlau. Sie wussten immer, wie lange er die Psychopharmaka in seinen Backen versteckte, und in welchem Moment er die Pillen schluckte. Es war unmöglich, sie in diesen Dingen zu täuschen, denn sie besaßen jahrelange Erfahrung.

Wenn er sich
scheinbar ihrem Willen unterordnete, handelte es sich nur um Täuschungsmanöver. Er wog seine Patienten in Sicherheit, um sie besser beobachten zu können.

Die Kollegen waren zu sehr in Arbeitsroutinen verhaftet, als dass sie eine kreative Unterstützung gewesen wären. Kreativität war gefragt, mit konventionellen Therapiemethoden kam man nicht weiter. Musikalische Untermalung in den Fluren und Zimmern mit Hilfe seines Abspielgeräts hielt er für unerlässlich. Zur Unterbreitung dieses und anderer Innovationsvorschläge wollte er eine Personalversammlung einberufen. Das war ihm bisher nicht gelungen, da seine Kollegen sich ihrer Verantwortung durch fadenscheinige Vorwände und Beschäftigungen entzogen. Anstatt ihre Patienten an das Wesentliche heranzuführen, verschwendeten sie kostbare Zeit mit Töpfer- und Malkursen.

Seine eigenen Patienten versuchten unentwegt, ihm falsche Informationen über frühere Forschungsreihen zu vermitteln. Es waren wichtige mystizistische Experimente, die er zumeist an Tauben und kleinen Säugetieren vollzogen hatte. An kleine Menschen konnte er sich nicht erinnern. Nach allem, was er in seiner Kindheit erlebt hatte, war dieser Vorwurf ungeheuerlich.
Wenn es darum ging, ihn in eine Ecke zu drängen, schreckten seine Patienten vor nichts zurück.

Letzten Endes war er ihr Therapeut und aufgrund seines hippokratischen Eides dazu verpflichtet, ihnen zu helfen. Aber er wusste nicht, wie er ihnen beibringen sollte, dass sie allesamt hoffnungslose Fälle waren, und dass es nicht die geringste Aussicht auf geistige Genesung für sie gab.

Montag, August 14, 2006

Sammeln und Auflösen

Sobald das Kind versteht, dass die Oberflächen der Dinge nicht nur Sinnlichkeit besitzen, sondern einander, entsprechend ihrer Erscheinung, zugeordnet werden können, beginnt es mit dem Sammeln. Das Phänomen des Sammelns ist Teil des großen Versuchs, die Welt zu ordnen.

Meine ersten Sammlungen bestanden aus Federn, Blättern, Kastanien und anderen Gegenständen, die ich in der Natur fand. Später waren es Fossilien, die vornehmlich im Herbst auf Äckern lagen, nachdem sie durch das Pflügen der Erde an die Oberfläche befördert worden waren. Die Vorstellung, dass im Gestein Überreste von Wesen eingeschlossen sind, die vor Millionen Jahren gelebt hatten, übt noch heute eine schaurige Faszination auf mich aus.

Mit zunehmenden Alter wird der Sammler zum Jäger, sei es als Kunstsammler, der sich auf Auktionen herumtreibt, oder im wörtlichen Sinn des Jagens als Sammler von Insekten und anderen Lebewesen - eine Leidenschaft, die sich von jeher meinem Verständnis entzog. Ich kann aufgespießten Schmetterlingen oder Käfern keine Schönheit mehr abgewinnen.

Durch das Sammeln scheint sich die Einzigartigkeit der Gegenstände addieren zu lassen. Eine Sammlung ist aber mehr als die Summe der einzelnen Gegenstände, sie wird selbst zu einer Gestalt, deren Atem uns berühren kann. Die Bestandteile einer Sammlung sind mit Organen vergleichbar, bei einem besonders wichtigen Organ spricht man auch vom Herzstück der Sammlung.

Viele Sammler vergessen die Vergänglichkeit, und dass die Auflösung, also der Tod einer Sammlung wichtiger Bestandteil ihrer Existenz ist. Sobald man das erkannt hat, fällt es nicht mehr schwer, sich von den Dingen zu trennen. Manches wird vernichtet, aber das Meiste wird zum Bestandteil neuer Zusammenhänge und lebt dadurch weiter.

Abgesehen von meiner Bibliothek, die ich kürzlich um einen Großteil des Bestands erleichtert habe, und den digitalen Sammlungen aus Texten und Bildern, besitze ich noch eine umfangreiche Sammlung von Beuteln, die von verschiedenen Fluggesellschaften und Schifffahrtslinien, von denen ich mich transportieren ließ, für den Fall der Luft- oder Seekrankheit entwickelt wurden. Vermutlich wird auch diese Sammlung durch die eine oder andere Nutzungsmöglichkeit irgendwann aufgelöst.

Samstag, August 12, 2006

Treffer

S traf die Auftraggeber nie persönlich. Ein Mittelsmann, dem er seit sieben Jahren vertraute, überprüfte die Kunden und nannte ihm anschließend eine Telefonnummer. Dann meldete S sich bei dem Kunden. Nie umgekehrt.

Auf den Mittelsmann war Verlass. Er arbeitete professionell, hielt ihm die Bullen vom Leib, und überwies die vereinbarte Summe umgehend nach erfolgreicher Durchführung auf das Konto in Hongkong.

Die Stimme der Frau am Telefon kam ihm bekannt vor, wie ein Echo aus der Vergangenheit. Die meisten Erinnerungen aus der Zeit vor dem Unfall waren abhanden gekommen. Seit die Kugel in seinem Gehirn steckte, blieben sie verschollen. Nur die Kopfschmerzen kehrten immer wieder zurück.


Die Frau beschrieb ihm, wie er vorzugehen hätte. Gewöhnlich wählte er die Methode selbst, aber wenn ihm ein Vorschlag gefiel, ging er darauf ein. Es sollte nach einem Gasunfall aussehen. Bei der Zielperson handelte es sich um den Ehemann der Frau, mit dem sie seit über vierzig Jahren verheiratet war. Als die Kundin ihre Leidensgeschichte erzählen wollte, unterbrach er sie und meinte, das ginge ihn nichts an. Motive interessierten ihn nicht, er bot keine psychologischen Dienstleistungen an.

Die Wohnung befand sich in einer Seitenstraße der Ocean Avenue. S nahm sich keine Zeit für eine Besichtigung. Er beeilte sich, den Herd zu präparieren und den Fernzünder anzubringen. Mit dem Nachtsichtgerät beobachtete S vom gegenüber liegenden Gebäude, wie die Zielperson das Haus betrat. Die Bewegungen des alten Mannes riefen eine inhaltslose Erinnerung hervor. S kannte dieses Gefühl, er hatte es häufig beim Erledigen von Aufträgen. Als die Zielperson einige Minuten später in der Küche stand, löste S den Fernzünder aus.

Das Geld wurde pünktlich überwiesen. Kurze Zeit später erhielt er einen weiteren Anruf von seinem Mittelsmann. Er teilte ihm mit, dass die zufriedene Kundin einen weiteren Auftrag für S hätte. Als er mit ihr telefonierte, beschrieb sie die Zielperson. S erlitt im Verlauf des Gesprächs eine Kopfschmerzattacke. Die Beschreibung traf exakt auf ihn selbst zu. Als die Adresse der Zielperson genannt wurde, wusste S wieder, woher er die Stimme der Kundin kannte. Es war die Stimme seiner Mutter.

Die zweite Kugel in seinem Kopf war kein Unfall. Das Geld wurde pünktlich überwiesen.

Freitag, August 11, 2006

Flüchtige Ideen

Die Ideen gehen niemals aus, sondern sie fliehen vor der grausamen Behandlung in der Folterkammer des Gehirns, wo sie beständig Torturen wie Streckung, Stauchung, Zerteilung und ungezählten anderen Qualen ausgesetzt sind. Vor allem die kleinen Ideen flüchten häufig, denn man behandelt diese Art von Sklaven nicht mit Behutsamkeit, wie es ihrer Größe entspräche. Es wird auf ihnen herumgekaut, sie werden ausgespuckt, breitgetreten und in die Länge gezogen.

Reisende soll man nicht aufhalten. Den meisten Ideen trauert man nicht hinterher, wenn sie sich bei Nacht und Nebel davonschleichen. So lässt man sie ohne rasante Verfolgungsjagden ziehen, und oft bekommt man es auch überhaupt nicht mit, wenn sich wieder eine kleine Idee verflüchtigt hat. Manche kommen sowieso zurück, sobald sie feststellen, dass es ihnen anderswo nicht besser ergeht. Andere nisten sich in einem bequemen Gehirn ein und schlummern dort vor sich hin, bis sie während Plaudereien im Bierdunst von Bahnhofskneipen dem nächsten Sklavenjäger ausgeliefert werden.

Wehmut und Abschiedsschmerz sind nur dann zu spüren, wenn man höchstpersönlich eine der ausgewachsenen Ideen an die Luft gesetzt hat, weil sie sich nicht bewältigen ließ. Große Ideen sind sich ihrer Macht bewusst und trotzen der Bearbeitung. Auseinandersetzungen mit ihnen enden häufig in einer Niederlage für den Inhaber der Folterkammer.

Vielleicht ist man gerade damit beschäftigt, den Schaum der Zahnpasta ins Waschbecken zu spucken, wenn man plötzlich feststellt, dass keine einzige Idee mehr im Schädel brummt, und überall nur gesprengte Ketten an rostigen Scharnieren baumeln. Dann verwandelt sich der Zahnpastaschaum in den Schaum des Zornes, und die Sklavenjagd beginnt.

Donnerstag, August 10, 2006

Escher verschluckt sich

Auf dem Weg ins Amt pflegte Escher, sich in der Bäckerei neben der Haltestelle zwei mit Hartkäse und jeweils einer Salatgurkenscheibe belegte Brötchen zu kaufen. Am Vorabend eines jeden Werktages verstaute er das abgezählte Münzgeld in der linken Außentasche seines Popeline-Mantels. So hatte Escher den genauen Betrag im Moment der Brötchenübergabe auf Anhieb griffbereit.

Die Inhaber der Bäckerei waren ein Zwillingspaar, das sich bis in sämtliche Details glich. Spindeldürre, freundliche Männer mit wässrigen Augen von hellgrauer Färbung und silbernen Haarfransen, die auf Höhe der Augenbrauen rund um ihre ansonsten kahlen Schädel baumelten. Die Haare wirkten wie angeklebt und fielen in der Art von Lametta fast bis auf die Schultern.

Man wusste nie, welcher von beiden in der Backstube stand und wer die Kunden im Verkaufsraum bediente. Laut eigenen Berichten besaßen sie einen dreibeinigen Königspudel, der angeblich gerne Bananen fraß.

Escher war die unerschütterliche Freundlichkeit der Bäcker nicht geheuer. Die magere Statur der beiden, die nicht seiner Vorstellung von einem überzeugenden Bäcker entsprach, bekräftigte ihn in seiner kritischen Haltung. An Hunde, die Bananen verspeisten, mochte Escher erst recht nicht glauben.

Eines Morgens nach einem gesetzlichen Feiertag schaute ihn der Bäcker im Verkaufsraum aus seinen wässrigen, hellgrauen Augen an und eröffnete ihm, die Hartkäselieferung sei ausgeblieben, was er sehr bedauere. Aber er könne ihm zwei Brötchen anbieten, die mit Kalbsleberwurst und jeweils zwei Gewürzgurkenscheiben belegt seien.

Escher zauderte, denn diese Abweichung entsprach nicht den üblichen Regeln seiner Tagesplanung. Eine auf die tägliche Situation in der Bäckerei anzuwendende Regel lautete: Hartkäse mit Salatgurke.

Alles in Escher sträubte sich gegen das Angebot des Bäckers. Er war davon überzeugt, dass es fatale Folgen haben könnte, wenn er von den üblichen Regeln seiner Tagesplanung abwich.

Der beharrliche Blick aus wässrigen Augen war das einzige Verkaufsargument des Bäckers, aber Escher hatte die Befürchtung, dass ohne Brötchen noch mehr aus den Fugen geraten könnte. Er willigte in den Handel ein.

An der Haltestelle nahm er ein Brötchen aus der Papiertüte und biss hinein. Nach wenigen Kaubewegungen hatte er plötzlich ein Gefühl im Mund, als ob sich auf seiner Zunge etwas Fremdes bewegte, das dort nicht hingehörte. Da es ihm unangenehm gewesen wäre, den Inhalt seines Mundes in der Öffentlichkeit auszuspucken, verschluckte er den Bissen in einem Reflex des Ekels nahezu unzerkaut. Es wurde ihm für einen Moment schwarz vor Augen und er fühlte sich, als ob er durch eine enge Röhre gezwängt würde. Dann fiel er auf einen der Drahtsitze, die zur Haltestelle gehörten.

- Escher!

Jemand rief ihn, aber als er sich nach allen Seiten umdrehte, vermochte er den Rufenden nirgends zu entdecken.

- Herr Escher!

Das Rufen schien aus dem Inneren des Brötchens in seinen Händen zu kommen, was völlig unmöglich war. Trotzdem klappte er das Brötchen auseinander. Staunen wäre ein zu schwacher Ausdruck gewesen für das, was Escher empfand. Auf der Kalbsleberwurst lag er, Escher, und blickte ihm, Escher, geradewegs in die Augen.

In seiner Verstörung versuchte er, die zwei Hälften des Brötchens wieder zusammenzudrücken, aber es war, als wollte man zwei gleiche Pole eines Magneten miteinander in Berührung bringen. Der Escher im Brötchen stemmte sich mit Armen und Beinen dagegen, um nicht zwischen den zwei Hälften einer Teigware das Schicksal eines gewöhnlichen Frühstücksbelags zu erleiden.

- Sie haben gerade einen von uns verschluckt,

hörte Escher den anderen im Brötchen sagen.

- Was tun Sie in meinem Brötchen?
- Ich liege auf Kalbsleberwurst.
- Das sehe ich,

sagte Escher mit einer gewissen Verärgerung in der Stimme.

- Liegt es sich wenigstens bequem?
- Es ist kein angenehmes Gefühl. Das können Sie mir glauben.
- Ich hatte Gewürzgurken erwartet.
- Es tut mir aufrichtig leid, ihre Erwartungen nicht erfüllen zu können.
- Wie sind Sie in diese unerfreuliche Lage geraten?
- Ich vermag es Ihnen nicht zu sagen. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, wie ich gestern Abend das abgezählte Münzgeld für die zwei Brötchen in die linke Außentasche meines Popeline-Mantels gesteckt habe.
- Hartkäse.
- Genau.
- Ich wusste es.
- Wenn Sie diesen Bus nicht nehmen, kommen Sie zu spät zum Dienst.
- Woher wissen Sie das?
- Wir haben dieselben Arbeitszeiten.
- Ach so. Dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Tag,

sagte Escher und bestieg den Bus.

- Können Sie mich vielleicht ein Stück mitnehmen, sonst komme ich zu spät zum Dienst,

rief der Escher aus dem Brötchen. Aber die Türen des Busses schlossen sich bereits hinter Escher.

An diesem Morgen erhielt Escher von seinem Vorgesetzten eine Rüge, weil er zu spät kam. In seinem Bauch rumorte es den ganzen Tag.

Nach Dienstschluss kamen Escher auf dem Weg zu seiner Wohnung die beiden Bäcker entgegen. Sie sahen müde aus und führten einen dreibeinigen Königspudel an der Leine. Der Hund trug mit erhobenem Kopf eine Banane zwischen seinen Zähnen.

Escher verspürte ein flaues Gefühl im Magen, als sich ihm die Frage aufwarf, ob es der Escher in seinem Bauch war, dem die Bäcker mit dem Königspudel und Banane entgegen kamen oder der Escher mit dem Escher und zwei Bäckern mit Königspudel und Banane im Bauch.

Er nahm sich vor, in Zukunft auf Hartkäse zu bestehen. Komme, was wolle. Hartkäse mit Salatgurke. Nichts anderes. Und er würde die Bäckerei wechseln.

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Mittwoch, August 09, 2006

Das steinerne Rettungsboot



Es wäre fast zerbrochen im zweiten Sturm, den sie nach dem Untergang der Prinzess Nocturna erlebten. Nur drei Seeleute aus Kapitän Hoffmanns Mannschaft hatten das Unglück überlebt. Im Rettungsboot mussten sie mit ansehen, wie das Heck des riesigen Schiffes fast senkrecht aus dem Wasser ragte und anklagend zum Himmel zeigte, bevor es in einer scheinbar unendlichen Langsamkeit versank. Und dann türmten sich erneut quecksilberne Berge bis in die Wolken vor dem kläglichen Rest der Besatzung auf.

Ihr steinernes Rettungsboot war ein Spielzeug des Meeres, das es wie ein kleines Kind zornig von einer Ecke in die andere schleuderte. An Bord gab es außer beten und verzweifeln nichts zu tun. Nach allem, was geschehen war, glaubte keiner der Männer mehr an die Hilfe Gottes. Sie hielten sich am rauhen Stein der Bordwand fest und warteten in ihrer Todesangst, bis auch dieser Sturm vorüber sein würde.

Während Lux, der schwarzbärtige Steuermann, durch das Getöse hindurch in seiner Angst heulte und brüllte, bewies der schmächtige Schiffsjunge, den sie so oft mit schäbiger Herablassung behandelt und erniedrigt hatten, die größte Tapferkeit. Er presste seine Lippen zusammen und beobachtete mit verkniffenen Augen den Tumult der Wassermassen. Sie hatten ihm den Spitznamen Heringsgräte verpasst.

Kapitän Hoffmann und die anderen starrten am Grund der See mit weit aufgerissenen Augen in die ewige Finsternis. Der Bootsmann Konrad, den sie alle hinter seinem Rücken nur Bimbo genannt hatten, würde zwischen zwei Fässern eingeklemmt bleiben, bis sich sein Körper im Salzwasser zersetzte. Seine Haare schwebten schwerelos in der sanften Strömung der Tiefe.

Nach dem Regen kam die Hitze. Als er bereits zwei Tage tot war, warfen sie den verdursteten Körper des Steuermanns über Bord. Während sich die fette Leiche langsam auf dem Rücken treibend vom Rettungsboot entfernte, spiegelte sich in dem leblosen Blick immer noch die Angst vor dem Sterben, obwohl er schon alles hinter sich hatte.

In ihrem Fieber konnten sie nicht bestimmen, wieviel Zeit seit der Havarie vergangen war, als sie feststellten, dass sie durch eine Landschaft aus Mangroven trieben. Indem sie ihre Hände als Paddel benutzten, steuerten sie das steinerne Boot durch das Brackwasser.

- Geschafft,

krächzte der Matrose Robbe, nachdem sie ihr Boot mit letzten Kräften durch das Schilf auf den weichen Untergrund geschoben hatten.

Heringsgräte leckte mit geschwollener Zunge das Salz von seiner Oberlippe. Beim Gedanken an seine Sabotage im Maschinenraum der Prinzess Nocturna flog der Schatten eines bösartigen Lächelns über sein Gesicht. Mit Robbe würde er auch noch fertig werden.

Dienstag, August 08, 2006

Angst in Wäldern, Ansichtssache

Es gibt Wälder am Amazonas oder am Kongo, die man nicht völlig entspannt betreten sollte. Und sogar im Osten Indiens empfindet man zuweilen ein verstörendes Gefühl. Am Anblick eines Tigers aus gebührender Distanz mag sich der Spaziergänger vielleicht sogar erfreuen, nur ist das Schlangengetier nie recht geheuer.

Als mein eritreischer Gesinnungsgenosse Elias, auf der Flucht vor Arschkrampen blauen Bohnen aus der afrikanischen Nachbarschaft, 1985 eine Bleibe in meiner unterfränkischen Heimat fand, wollten wir ihn zwecks Völkerverständigung und Verzehr von Erfrischungen zu unserer favorisierten Feuerstelle im Wald zerren. Er weigerte sich beharrlich aus Angst vor wilden Tieren und riet darüber hinaus dringend von Waldspaziergängen und dem Schwimmen im Meer ab, da man sich durch diesen spektakulären Leichtsinn in große Gefahren begeben könne.

Das Meer war kein Problem, denn es war nicht zur Stelle. Der Rest wurde bei einigen Kaltschalen Hopfenblütentee diskutiert. Später hat Elias dann die Angst vor der unterfränkischen Wildnis weitgehend verloren, aber allein hätte er sich in keinen Forst getraut.












Elias mit Erfrischungsgetränk in gefahrloser Umgebung


An dieser Stelle fällt mir
Robert Müller und sein expressionistisch verschlüsseltes Meisterwerk Tropen ein.

Montag, August 07, 2006

Heute vor tausend Jahren

Am späten Nachmittag des 7. August 1006 lag ein Hirtenjunge in der Nähe von Heidelberg auf einer Wiese zwischen seinen Schweinen und verlor sich in einem Tagtraum.

Er träumte, dass die Menschen in tausend Jahren mit Flugwerkzeugen durch die Lüfte reisen würden. Es gäbe Zauberer, die ihn innerhalb kurzer Zeit von seinem Zahnschmerz heilen könnten, und eine riesige Auswahl an Speisen würde in schier unermesslich großen Gebäuden feilgeboten.

Die meisten Menschen würden ein deutlich höheres Alter als greisenhafte vierzig Jahre erreichen und sich über große Entfernungen, selbst über die Hügel hinweg, mit Hilfe kleiner Kobolde verständigen.

Man müsste keine Angst mehr haben, wenn man eine Reise durch den finsteren Wald zur nächsten Siedlung antreten würde.

Er träumte, dass die Menschen in tausend Jahren auf durchsichtige Scheiben starren und sich Geschichten erzählen lassen würden. Sie würden ihre Finger auf einem Kobold tanzen lassen und der Kobold würde den Scheiben mitteilen, was zu zeigen sei. Die ganze Welt läge hinter den Scheiben, und sämtliches Wissen würde in allen Farben und Formen erstrahlen. Die Kobolde würden sich auf Befehl zum Leben erwecken lassen und sich ebenso wieder schlafen legen.

An dieser Stelle gruselte es den Hirtenjungen, denn er bekam Angst, dass ihn der alleinige Gott und die anderen Götter der Auen und Wälder für seine frevlerischen Gedanken bestrafen könnten. Er rieb sich die Augen und schaute zum Himmel. Dort zog eine Wolke in Form eines schönen Mädchens vorbei.

Die Neckarauen von Heidelberg waren schon damals ein guter Ort zum träumen.

Sonntag, August 06, 2006

Nicht weiterlesen!

Bitte brechen Sie die Lektüre hier ab, in vorliegendem Text gibt es nichts Interessantes zu lesen. Das können Sie sich bereits an dieser Stelle gesagt sein lassen. Und es ist nicht unhöflich, sondern als zeitschonender Rat gemeint. Dieser Text ist völlig wertfrei, und auch im weiteren Verlauf bemüht, sich mutwillig jeglicher inhaltlichen Aussage zu entziehen.

Vor der Lektüre eines Textes steht eine bestimmte Erwartungshaltung. Worin auch immer Ihre Erwartungshaltung während der Lektüre in diesem Moment noch bestehen mag - machen Sie sich keine Hoffnung, dass Ihre Ansprüche erfüllt werden. Glauben Sie dem Verfasser, wenn er Ihnen mitteilt, dass in vorliegendem Text nichts mehr passieren wird. Denn er kennt den Text bereits, da er ihn nicht nur bis zum Ende gelesen, sondern zuvor sogar geschrieben hat.

Das sei eine vollkommen unzureichende Begründung? Es existiere schließlich eine freiheitliche Verfassung, und jeder Leser habe das Recht, die kritische Beurteilung eines Textes selbst zu treffen? Sie gehören wohl zu diesen versnobten Idealisten, die noch an Recht und Ordnung in der Welt der Texte glauben? Aber Sie lassen sich gerne überraschen oder eines Besseren belehren? Auch in diesem Punkt werden Sie enttäuscht sein, denn warum sollte ein Text mit der Überschrift Nicht weiterlesen! den Konsumenten auf irgendeine Weise überraschen oder eines Besseren belehren wollen? Dieses Produkt hält, was die niemals dafür realisierte Werbung versprochen hätte.

Hier geht es nicht um Sex und Gewalt, oder worin auch immer ihre Lieblingsthemen bestehen. Sie werden auch keinen nützlichen Hinweis darauf finden, in welchen anderen publizistischen Gefilden sie ihren Informationshunger oder sonstige Bedürfnisse befriedigen können.

Und behaupten Sie jetzt nicht, man hätte Sie nicht rechtzeitig gewarnt. Bereits in der Überschrift wurde eine unmissverständliche Aussage getroffen. Dieser Text ist eine einzige Warnung vor sich selbst.

Wenn Sie den Text allerdings nicht gelesen haben, besitzen Sie erst recht keinen Grund, sich zu beschweren, und dieser letzte Satz ist genauso überflüssig, wie die anderen Sätze zuvor.

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Der inhaltsverweigernde Boykottbeitrag entstand nach einer Inspiration durch eine höchst vergnügliche Textrundführung von Frau Martha.

Samstag, August 05, 2006

Ein Porsche in Tarnfarben XIV

Aris Großvater hieß Henk Noorlander und war Betreiber eines Bordells mit dem eigentümlichen Namen Hamsterradje im Zentrum von Amsterdam, unweit der Oude Kerk. Vor der deutschen Besatzung gehörten wohlhabende Amsterdamer Kaufleute und geschäftsreisende Reeder aus Rotterdam zu seiner Kundschaft. Das Etablissement hatte den Ruf, dass dort nicht nur die schönsten holländischen Mädchen des Milieus, sondern auch Frauen aus allen Teilen der Welt arbeiteten. Damals waren schöne Frauen aus Surinam oder von den Molukken in der Heimat der Kolonialherren noch ein exotischer Anblick.

Henk Noorlander war kein primitiver Zuhälter. Er verstand sich als Hotelier und Gastronom auf hohem Niveau. Die Frauen mieteten luxuriös ausgestattete Zimmer bei ihm und arbeiteten dann auf eigene Rechnung. Der Mietzins für eine Woche war nicht günstig, und folglich bewegten sich die Offerten der Damen in der höchsten Preiskategorie. Henk sorgte über freundschaftliche Kontakte zur Polizei und die Pflege seines guten Rufes in höheren Wirtschaftskreisen für zahlungskräftige Kundschaft.

Die umfassende Palette sexueller Dienstleistungen war nur ein Teil des Geschäftsmodells. Der andere Teil bestand in einem Restaurant, das für gebackenen Aal in Buttersoße bekannt war, sowie einer Bar, die sämtliche Sorten Genever führte. An manchen Abenden gab es Gäste, die nach erfolgreichen Vertragsabschlüssen exzessive Parties feierten und die teuersten Getränke in Strömen sprudeln ließen.

Henk war sehr darauf bedacht, dass bei aller Ausgelassenheit ein gewisses Niveau nicht unterschritten wurde und es zu keiner Gewalt kam. Wenn ein Gast ausfällig wurde, wussten Henks männliche Mitarbeiter, die sich zwar auch durch ihre stattliche Größe und vertiefte Kenntnisse des Faustkampfs auszeichneten, wie man einen Störenfried freundlich in seine Schranken verweist. Dies gelang immer, bis zu einem Tag im Mai 1940, als der erste deutsche Wehrmachtsangehörige das Haus betrat.
(Fortsetzung folgt)

Freitag, August 04, 2006

Über Ehrungen im fortgeschrittenen Jugendalter

Bei den Bundesjugendspielen im Jahr 1984 erzielte ich ein Ergebnis von 2593 Punkten und bekam eine Siegerurkunde verliehen. Danach beschloss ich, keine Ehrungen mehr entgegen zu nehmen.

Thomas Bernhard war der Ansicht, dass es bis zu einem gewissen Alter in Ordnung sei, Auszeichnungen zu akzeptieren. Danach nicht mehr. Ich hatte dieses Alter meiner Ansicht nach 1984 erreicht.

Die gesellschaftliche Stimmung war sowieso im Arsch getrübt wegen George Orwell, dem kalten Krieg und der Atomkraft. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Aber damals war es Grund genug, um sich beim zweiten Dorfpunk-Revival durch kreativen Konsum von Hansa-Pils (schwelgender Weise sei die Randnotiz gestattet: 29 Pfennige pro Büchse!) und ebenso kreative Kopfhaargestaltung zu engagieren.

Die konsequente Haltung, Ehrungen nur bis zu einem gewissen Alter anzunehmen, finde ich richtig - auch vor dem Hintergrund, dass Sartre und Pasternak den Nobelpreis abgelehnt haben. Obwohl es bei Pasternak nicht aus Eigennutz geschah.

Man sollte allerdings in der Lage sein, ein-, bis zweimal im Leben, oder auch jederzeit, über den eigenen Schatten zu springen. Allerdings nur, wenn die Dringlichkeit der Situation es erfordert. Heute stand ich vor der Entscheidung, ein Ehrungsgesuch abzulehnen, das mich über mein Sekretariat erreichte. Aber ich entschied mich gegen die Ablehnung und für die Ehrung. Dies war für alle offiziellen Stellen und Medienberichterstatter überraschend, diente aber einem guten Zweck, nämlich der Verwirrung. Eine Ablehnung wäre sowieso wirkungslos geblieben, weil der zuständige Publikationsopa die zur Ehrung gehörende Urkunde längst im Club der halbtoten Dichter an die Klowand gekleistert hatte.

Im Vergleich zu einem schnöden Nobelpreis ist diese
Ehrung tatsächlich hocherfreulich, weil es sich erstens um eine quasi kultische Handlung, und zweitens um ein auf Neptuns persönliches Geheiß gefälschtes Dokument handelt.

Donnerstag, August 03, 2006

Saure Köpfe









Miese Röstung: abgenickt
Schinken: von mir aus
Ajvar: klingt logisch
Kekse: kann sein

Aber wieso Sauerkrautköpfe? Ist die Saure-Gurken-Zeit endlich vorbei? Beginnt jetzt etwa die Ära der Sauerkrautköpfe? Erblicken alle Neugeborenen dieser Tage unter dem balkanischen Sternzeichen Sauerkrautkopf das Licht der Welt? Vielleicht weilt ein Völkerkundler mit entsprechendem Forschungsschwerpunkt im Leserkreis und sieht sich in der Lage, die kultische Motivation des Schaufensterschamanen zu deuten. Völlig an den Haaren herbeigezogene Theorien ohne entsprechende Kennzeichnung sind natürlich auch umso mehr willkommen. Ich glaube sowieso jedem alles.

Als ich vor Menschengedenken in Begleitung meines Gesinnungsgenossen Pljnki an einer Metzgerei vorbei kam, fragte ich ihn, welchem Umstand eigentlich die Cabanossi-Wurst ihren Namen zu verdanken hat. Ohne die klitzekleinste Denkpause erzählte Pljnki die Geschichte vom Grafen Cabanossi aus dem Geschlecht der Habsburger, der in Vollmondnächten, mit 222 Würsten behangen, nackt durch seinen Burggraben tanzte und dazu obszöne Lieder grölte. Dieser historischen Tatsache trage die seither als Cabanossi bekannte Wurstware mittels ihres obszönen Erscheinungsbildes Rechnung.

Weil er seine Erklärung im Brustton demagogischer Überzeugung vortrug, und Cabanossiwürste bei mir schon immer einen merkwürdig obszönen Eindruck erweckt hatten, glaubte ich Pljnki jedes Wort.

Und ich will es weiterhin glauben, man möge in meiner Gegenwart auf besserwisserische Richtigstellungsversuche verzichten und sich auf die Sauerkrautköpfe konzentrieren.

Mittwoch, August 02, 2006

Protokoll eines interplanetaren Irrtums

\1001010100101
Auf dem Planeten /\ wird in einer Entfernung von zwölf Leucht ein außerplanmäßiges Objekt gemeldet. Der kommandierende / entscheidet, das Objekt aufgrund seiner außerordentlich langsamen Geschwindigkeit in die höchste Gefährdungskategorie einzuordnen.

\1001010101100
Keiner Willensform des bekannten Universums war es bisher gelungen, in diese unmittelbare Nähe von /\ vorzudringen. Der Rat der Willensstärksten beschließt, das Objekt zu beobachten und beim geringsten Anzeichen von Gefahr zu dematerialisieren.

\0011010100111
Weil er das fremde Objekt nicht früher registrierte, wie es seine Aufgabe gewesen wäre, wird dem für den Sektor zuständigen Späher der freundliche Vorschlag unterbreitet, sich selbst zu dematerialisieren. Er nimmt den Vorschlag ohne Zögern an.

\0011010100110
Sämtliche, zur Verfügung stehenden Aufklärer schnüren ihre Lichtbündel und begeben sich binnen elfkommaeins Leucht in Beobachtungsdistanz.

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Die Aufklärer melden, dass von dem Objekt keine bedrohlichen Signale ausgesendet werden.

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Ein Lichtschlepper bringt das Objekt nach /\.

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Die Zeichenanalysten amüsieren sich über die banale Aufgabe, anhand der Inhalte des Objekts seine exakte Herkunft zu bestimmen. Es stammt aus einem dreidimensionalen Raumsektor des jüngsten Universums, vom dritten Planeten einer Sonne mit neun größeren Begleitern. Bisher waren alle Galaxien in diesem Zeitsektor aufgrund ihrer geringen Rohstoffvorkommen bedeutungslos gewesen.

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Unter der Materie im Inneren des Objekts befinden sich Gegenstände, die auf eine minimal kommunikationsfähige Existenzform mittlerer Willensstärke bei gleichzeitig maximaler Aggressionsbereitschaft hinweisen.

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Vor dem Hintergrund dieser gefährlichen Konstellation von Eigenschaften beschließt der Rat der Willensstärksten, zur Vermeidung von Risiken das feindliche Sonnensystem zu beseitigen.

17. August 2088, 23:07 MEZ
Astronomen in Sternwarten auf dem dritten Planeten ihrer Sonne, den sie selbst Erde nennen, und einige Amateurastronomen beobachten das nur wenige Sekunden anhaltende Verglimmen des zweiten Planeten ihrer Sonne, den sie selbst Venus nennen.

Das eigene Verglimmen kurze Zeit später passiert zu schnell, als dass es ein Lebewesen dieses neuronal schwach entwickelten Planeten über die viel zu langsamen Reizübertragungen an seinen Nervenenden bewusst spüren könnte. Nur ein einziger Laternenfisch, der sich
im Moment seiner Dematerialisierung in einer Meerestiefe von 1107 Metern aufhält, empfindet eine Art von Schmerz.

< ! -- Man sollte seine Neugier kontrollieren und keine Raumsonden ins All schicken, die Rückschlüsse auf den eigenen Standort zulassen. Das gilt vor allem dann, wenn man nur über eine mittlere Willensstärke und kein interstellares Frühwarnsystem, sowie entsprechende Waffengattungen verfügt. -->

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Die gesamte Bevölkerung des Planeten /\ wird binnen der Dauer von zwölfkommasieben Leucht von einem Virus gefressen, das sich in der Raumsonde befand und auf der Erde als eine für dortige Lebensformen harmlose Variante des Grippevirus bekannt war.

< ! -- Man sollte seine Neugier kontrollieren und fremde Objekte aus sicherer Entfernung dematerialisieren, ohne sie vorher zu öffnen. Das gilt vor allem dann, wenn man zwar über einen starken Willen, aber über eine Körpergröße von der Hälfte eines Grippevirus verfügt. -->

Dienstag, August 01, 2006

Top Ten: TV-Zerstörung

Hier die zehn wichtigsten Gründe, warum vor etwa zwei Monaten ein Fernseher aus dem dritten Stock auf die Straße fiel und zerbarst:

1. Die gute, alte Schwerkraft - auf sie ist auch dann Verlass, wenn man sie dringend braucht.
2. Penetrante Verbraucherinformation*
3. GEZ, steht in direktem Zusammenhang mit Platz 2.
4. Kerner (gleichzeitig Platz 10., weil eigentlich zu albern für einen vorderen Rang, aber trotzdem eng an Entscheidungsfindung beteiligt), steht außerdem in direktem Zusammenhang mit Platz 3.
5. Zunehmende Gehirnwäscheversuche mittels Serienstrategie
6. Zuviele ungeschriebene, aber möglicherweise brauchbare Texte im Kopf
7. Zuviele ungelesene, aber möglicherweise brauchbare Bücher in der Bibliothek
8. Internet
9. Zeitungen
10. Beckmann (gleichzeitig Platz 4., weil eigentlich zu albern für einen vorderen Rang, aber trotzdem eng an Entscheidungsfindung beteiligt), steht außerdem in direktem Zusammenhang mit
Platz 3.


*An dieser Stelle erlaube ich mir folgende Randnotiz: NEIN - es gibt keine witzigen Werbefilmchen. Und es hat sie auch noch nie gegeben. Witzige Werbefilmchen sind eine Erfindung von Deppen für Deppen. Und im Internet oder als Email-Anhang ist der Schwachsinn auch nicht witzig.

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Eigentlich wollte ich das alles für mich behalten, aber dieser Herr verleitete mich zu vorliegendem Beitrag.