Sonntag, Oktober 24, 2010

Betonmutanten

Sperrgebiet
Wie an allen militärischen oder polizeilichen Kontrollposten weltweit, ist auch hier das Fotografieren verboten. Mein Versuch bleibt nicht unbemerkt, der Fahrer zischt durch seine Zahnlücke: "Don't take any pictures of the cops!" Nachdem wir die Absperrung hinter uns gelassen haben, kommt auf den verbleibenden 18 Kilometern nach Tschernobyl kein Fahrzeug mehr entgegen. Bunte Herbstwälder, wie im Indian Summer, dazwischen Grassteppe. Bislang wusste ich ungefähr über dieses Land, dass es die Heimat talentierter Boxer ist, Gogol für mich zu den wichtigsten Erscheinungen der Literaturgeschichte zählt und während eines Irlandaufenthalts vor einigen Jahren in jedem Pub Chicken Kiev auf der Speisekarte stand.

Indian Summer

Die Fahrt von der ukrainischen Hauptstadt ins Sperrgebiet dauerte etwa zwei Stunden. Während wir in Richtung Reaktor fahren, erzählt Maxim, dass im letzten Jahr ein amerikanisches Kamerateam anreiste und darauf bestand, Mutanten zu filmen. Es gibt in der Zone Tschernobyl aber keine Mutanten, sondern nur Arbeiter und Wissenschaftler, die mit der Sicherung radioaktiver Anlagen beschäftigt sind sowie Polizisten und Soldaten, die sich um die Sicherung der Arbeiter und Wissenschaftler und des Areals im Großen und Ganzen kümmern. Und dann gibt es noch die Menschen, die hierher zurückgekehrt sind, weil sie ihre Heimat vermisst haben oder nicht wussten, wohin sie sonst gehen sollten. Die Wälder werden von einer zunehmenden Anzahl von Hirschen, Wölfen und Bären bevölkert. Radioaktivität hindert die Tiere nicht daran, sich ihren Lebensraum zurück zu erobern. Das amerikanische Kamerateam reiste wieder ab, man wollte keine Wölfe, Bären oder normale Menschen filmen. Mindestens Mutanten oder gar nichts.

Denkmal Feuerwehrleute
Am Weg steht ein Denkmal, das zur Erinnerung an die Feuerwehrleute errichtet wurde, die innerhalb weniger Tage und Wochen in der Strahlenhölle umkamen. Erst vier Tage nach dem Unfall, als in Schweden erhöhte radioaktive Werte gemessen wurden, haben die alten Männer im Kreml das Reaktorunglück unter dem Druck der westlichen Welt offiziell bekannt gegeben. Der damalige Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Sergejewitsch Gorbatschow, soll bei der Verschleierung der Ereignisse eine maßgebliche Rolle gespielt haben.
Betonmutant

Neben der Straße ragt ein grauer Sarkophag wie ein Raumschiff aus der Landschaft und erinnert mich an nichts, was ich bislang gesehen habe. Daneben hat die französische Firma Novarka ein Betonwerk errichtet. Das Unternehmen ist mit der Instandhaltung der verwitterten Versiegelungen beauftragt. Die Geigerzähler ticken unaufgeregt. Nieselregen legt sich wie ein feines Netz über das Gesicht.

Novarka

In Pripjat, der Stadt nahe des Kernreaktors 4, wo einst rund 50.000 Menschen angesiedelt waren, leben nur noch Gespenster. Beim Gang durch die Ruinen spürt man ihren Atem im Nacken. Morbide Plattenbauten, Hochhäuser zerfallen, die Natur nimmt mit der gleichen Rücksichtslosigkeit wie zuvor der Mensch von allem Besitz. Nur zeigt sie dabei mehr Gelassenheit. Mit tausend Bussen wurde die Bevölkerung am Tag nach dem Unglück in verschiedene Teile der Sowjetunion evakuiert. Neben Ausweispapieren und einem Kleiderkoffer durften Lebensmittel für einen Tag mitgenommen werden. Man hatte den Leuten gesagt, dass sie ihre Wohnungen vorübergehend verlassen müssen.

Bäume besiegen Beton

Zwischen den Rippen der Betonskelette findet man verwitterte Spuren einer Zivilisation, die an technische Errungenschaften der Atomphysik und ihr Heil für den Fortschritt im Arbeiter- und Bauernreich glaubte.

Wandgemälde im ehemaligen Kulturzentrum

Bis zum Größten Anzunehmenden Unfall ging es den Menschen hier nicht schlecht. Sie genossen im Vergleich mit anderen Regionen der Sowjetunion überdurchschnittliche Einkommensverhältnisse und lebten innerhalb der kommunistischen Vorstellung moderner Infrastrukturen. Es gab Versammlungsstätten, Supermärkte, ein Kino, verschiedene Sporthallen und zwei Schwimmbäder.

Sprungtürme

Ich stehe am Rand des leeren Schwimmbeckens und stelle mir vor, wer zuletzt von einem der Türme sprang. Dort oben könnte eine beliebige Person stehen, ein ungelenker Junge etwa oder ein Mädchen mit langen Zöpfen oder ein dickbäuchiger Mann mit Glatze und schwarzen Haaren auf dem Rücken. Immer sind es Kleinigkeiten, die uns die größten Katastrophen begreifen lassen.

Riesenrad im Herbst

Der Vergnügungspark sollte am 1. Mai 1986 eröffnet werden, fünf Tage nach der Reaktorexplosion. Vielleicht steht in Pripjat seit fast einem Vierteljahrhundert der einzige Autoscooter der Welt, in dem noch nie Kinder gefahren sind.

Autoscooter

Den Wölfen, Bären und anderen Tieren sei das wilde Paradies gegönnt. Und es ist kein Geheimnis, wie stark unsere Industrie auf gewaltige Mengen an Strom angewiesen ist. Dennoch empfehle ich den Befürwortern von Atomenergie eine Besichtigung der Betonmutanten von Tschernobyl.

Der tödliche Reaktor 4
Der letzte Kernreaktor im Sperrgebiet, Nr. 3, wurde vor zehn Jahren abgeschaltet.

--
Der >Artikel zu Tschernobyl in Wikipedia ist lesenswert, vor allem die Chronologie der Ereignisse im April 1986.

Mittwoch, Oktober 06, 2010

Beziehungskistenbastlerpornoszenen im Lichtspieltheater

Der Pornokinobesuch war auch jugendlichem Interesse geschuldet, aber vor allem war ich nach durchtrampter Nacht quer durch die geteilte Republik erschöpft und fror im grauen Morgen der Stadt. Der dämmernde Tag war eine Mischung aus Nebel und schwebendem Nieselregen, als ob das Wasser schwerelos in der Luft des Häusermeeres stand.

Das Pornokino am Bahnhof war durchgehend geöffnet, kostete sechs Mark fünfzig Eintritt und lockte neben der neuen Erfahrung mit der Aussicht auf einen warmen Schlafplatz. Die neonbeleuchtete Frau an der Kasse hatte schwammige Haut und einen naturblonden Schnurrbart. Sie riss ein Ticket von der Rolle, ohne meinen Ausweis zu verlangen.

Es roch muffig, aber damals durfte man im Kino noch rauchen. Ich drehte mir eine Zigarette und angelte die Büchse Bier von der letzten Autobahntankstelle aus dem Seesack. Dann starrte ich auf glänzendes, zuckendes Fleisch, bis die Leinwand vor meinen Augen verschwamm. Als ich aufwachte, war die Kippe verglüht und hatte ein Loch im roten Samt der Armlehne hinterlassen. Die Dramaturgie der Filme war identisch, das Geschehen wurde professionell, technisch präzise und zielgerichtet vorgetragen. Alle Szenen wirkten trotz der vorgetäuschten oder vielleicht auch natürlichen Lust der Darsteller steril und beinahe so sachlich wie in den Filmen aus der Landesbildstelle, wenn allerlei Fauna im Biologieunterricht kopulierte. Ich rauchte noch eine Zigarette, dann verließ ich den Saal. Es blieb mein einziger Besuch in einem Pornokino.

Den Beziehungskistenbastlerpornos mit ihren als Kunst getarnten Sexszenen, die uns bis in die Nachmittagsvorstellungen der großen Lichtspielhäuser verfolgen, entkommt man hingegen nur durch Medienabstinenz. Diese hinterhältigste Form der Pornografie ist eine als Filmkunst getarnte Lichtspieltheaterpornografie. Wenige Regisseure widerstehen der Versuchung, an den unpassendsten Stellen ihrer Beziehungskistenbastelfilme intime Turnübungen einzuflechten und experimentell auszuleuchten. Hinterher wird das niederträchtige Werk als Filmkunst deklariert, und jedes Mal stellt sich die Frage, in welchem Zusammenhang diese Szenen zur Handlung beitragen sollen, oder ob es sich bei der Nackedeierei nur um eine temporäre Überbrückung von Prüderie handelt, quasi moralisch korrekten Pornokonsum, weil der Film wegen der experimentellen Ausleuchtung und beschwipsten Kameraführung als Kunst deklariert wurde. Geschlechtsakte sind ebenso wie das gemeinsame Einkaufen ein Teil von Beziehungen, aber wie häufig werden Paare experimentell beim Einkaufen ausgeleuchtet?

In Zeiten von Filmen wie "Wenn die Gondeln Trauer tragen" war der Alltag nicht mit Nacktheit zugepflastert, und entblößte Brüste erzeugten noch eine erotische Wirkung. Inzwischen sind filmische Sexszenen so geheimnisvoll wie Gähnen mit Mundgeruch. Spannung entsteht in solchen Momenten höchstens, wenn man möglichst unverhohlen die Sitznachbarn beobachtet. Aber aufregend werden Filme sowieso erst, wenn jemand ein Schiff über einen Berg im Urwald zieht oder andere scheinbare Unmöglichkeiten in die Tat umsetzt. Mit Erotik hat das meistens ebenso wenig zu tun wie die Beziehungskistenbastlerpornografie. Aber es ist kurzweiliger.

Samstag, Oktober 02, 2010

Voodoo Display #31

Labels: