Donnerstag, August 31, 2006

Engel aus Eis

Geschmolzen
Zu Wasser
Geformt
Zu Wolken
Geregnet
Zu Pfützen
Geflossen
Zu Bächen
Gefroren

Zum Engel aus Eis stand kaum lesbar auf dem verschwommenen Schild über der Tür.

Wie ein Verdurstender hatte er sich zuvor mit synthetischen Flüssigkeiten gefüllt und war im toten Winkel einer synthetischen Bar gestanden, die von Schaufensterpuppen bevölkert war. Die windstille Stadt, durch die er anschließend trieb wie ein Geisterschiff, an dessen Dasein er selbst gezweifelt hätte, war ein schwarzes und einsames Polarmeer. Ein entgegenkommendes Schiff wäre durch ihn hindurch gesegelt.

Die Tür ließ sich kaum öffnen, aber er stemmte sich mit seinem massigen Körper dagegen, und schwer atmend stand er auf der Schwelle zum Innenraum des Lokals. Diese Uhrzeit im Zentrum der Nacht existierte nicht in der Welt der Schlafenden, und so wäre er der einzige Gast im Engel aus Eis gewesen.

Hinter dem Tresen stand ein Greis mit bleichem Haar und sah ihn aus einer nicht allzu fernen Zukunft mit rötlichen Augen an. Er stand bis ans Ende aller Dinge im Türrahmen. Dann wendete er sich ab.

Die Morgendämmerung streute staubiges Licht in seine Augen, als er zurück auf die Straße trat. Vom Regen gereinigte Luft öffnete die Zellen an der Oberfläche seiner übernächtigten Haut. Er atmete. Als das blecherne Geprassel des Regens auf dem Weg zum Hotel den Hindipop und die Stimme des Taxifahrers übertönte, wusste er, dass er die Nacht nicht geträumt hatte.

Und sein Innerstes, die Stammkneipe seiner flüchtigen Seele, hatte er wieder nicht betreten.

8 Comments:

Blogger Oles wirre Welt said...

Ein Hauch von Walter Benjamins "Engel der Geschichte". Sehr fein! Großes Kino!

1.9.06  
Blogger MudShark said...

jesses, mari und jussuf! ich muss noch meine wäsche bügeln. (und ab)

1.9.06  
Anonymous Anonym said...

eine wunderbare geschichte.

1.9.06  
Blogger der Nachbar said...

"die Stammkneipe seiner flüchtigen Seele"...Respekt!

1.9.06  
Anonymous Anonym said...

Nicht ganz wirklich zu verstehen, aber die Atmo ist überwältigend! Teils Dylan-Thomas´sche Sprachgewalt! Bravo.

1.9.06  
Blogger mq said...

/Ole: Walter Benjamin ist ein unterbewusster Stammgast in dieser (manchmal belebteren) Spelunke.

/Mudshark: Ich müsste mal wieder mein Gehirn waschen und bügeln.

/C17h19no3: Es will mir einfach nicht gelingen, diesen Code zu entschlüsseln.

/Chris: Das gastronomische Konzept ist renovierungsbedürftig.

/MKH: Der Namensgeber von Bob Zimmermann hat mich auch schon auf sehr interessante Reisen mitgenommen.

1.9.06  
Anonymous Anonym said...

Hier muß ich echt aufpassen, daß ich nicht abheb und davon flieg, mit meinen achtzig windstill verwehten Kilo.

1.9.06  
Blogger mq said...

Der Allzweck-Klebstoff für die Bodenhaftung wurde noch nicht entwickelt.

2.9.06  

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