Montag, September 22, 2008

München - Venedig (IV): Scheinbare Kleinigkeiten, unscheinbare Großartigkeiten

Im Morgengrauen nahm ich ein Bad in der Isar, das eisige Wasser riss die letzte Körperzelle aus der Trägheit des Erwachens. Weit entfernt waren Gebirgsausläufer des Voralpenlandes zu erkennen.



Meine Vorfreude auf die Berge wuchs, und einen Teil des Weges nach Bad Tölz legte ich in gemäßigtem Lauftempo zurück. Dabei kam mir die Spielfilmserie Soweit die Füße tragen aus dem Jahr 1959 in den Sinn, die zusammen mit der Verfilmung des Seewolfs (1971) zu den Höhepunkten meiner TV-Sozialisation gehört.

In Soweit die Füße tragen wird die Geschichte eines deutschen Soldaten erzählt, der aus einem sibirischen Kriegsgefangenenlager flieht und sich jahrelang, meist zu Fuß, zurück in die Heimat durchschlägt. Aber auch unter weniger gefahrvollen Umständen ist der menschliche Körper darauf eingerichtet, tägliche Strecken von 30-50 Kilometern zu Fuß zurückzulegen. An dieser Fähigkeit hat sich in den letzten hunderttausend Jahren nichts geändert, nur nutzen wir sie selten. Daher muss die Überwindung langer Distanzen nicht als besondere Leistung gelten, sondern stellt vielmehr eine Aktivierung natürlicher Veranlagungen dar. Bewegung erfordert Kraft zur Überwindung der Bequemlichkeit, aber wenn der erste Schritt als schwierigster aller Schritte getan wird, schafft die Anstrengung ein Fundament zum Aufbau neuer Energie.

Erreicht man einen gleichmäßigen, nahezu meditativen Rhythmus der Schritte, erscheint es zuweilen, als würde man sich nicht selbstständig durch die Landschaft bewegen, sondern auf der Stelle treten und die Landschaft wie eine Drehbühne vorbeigezogen werden. In diesem Zustand öffnet sich die Wahrnehmung für scheinbare Kleinigkeiten und unscheinbare Großartigkeiten.

Da ich in einer ländlichen Gegend aufwuchs, sollten Kühe keine außerordentlichen Eindrücke bei mir hinterlassen und - zusammen mit Sonnenuntergängen, Stränden und Wasservögeln - zur Kategorie der Motivmassenware einfallsloser Freizeitknipser gehören. Aber ich freue mich jedes Mal über Begegnungen mit Kühen unter freiem Himmel, zumal viele ihrer Artgenossen ein Dasein als Turbo-Milchmaschinen in High-Tech-Verschlägen verbringen.



Der Isarstausee bot Gelegenheit, die Füße zu kühlen und Wasservögel zu knipsen.



Beinahe wäre ich am Rand der sonnigen Idylle eingeschlafen. Aber mein Tagesziel war die Benediktenwand, also marschierte ich weiter in Richtung Ortsmitte Bad Tölz. Dort hielt ich es für standesgemäß, im Café Solo zu frühstücken. Anschließend setzte ich mein Solo fort und ging am Fluss entlang nach Arzbach, wo ich einen letzten Blick auf die Isar warf. Über Almen führte der Weg nun in die Berglandschaft. Ich kam dem Alpen-Panorama näher.



Sanfte Steigungen wandelten sich in steile Anstiege, und die Nachmittagssonne steigerte den Durst, der mit Quellwasser gestillt werden konnte. Von einem Bergsattel, der vor dem Abstieg zum Tagesziel bezwungen werden musste, konnte man weit in die bayrische Ebene blicken.



Am frühen Abend stand ich vor dem ersten gewaltigen Steinmassiv auf meiner Reise, der Benediktenwand.



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Montag, September 15, 2008

München - Venedig (III): Kakophonische Gefechte und eine Amputationsverletzung

Der einsetzende Regen beschleunigte meine Schritte, als ich den Marienplatz in Richtung Isar verließ. An solchen Tagen behält die Sonnenuhr im Innenhof des Deutschen Museums ihre Zeit unter Verschluss. Eine Regenuhr müsste man erfinden, als Armband- oder Taschenausgabe.

Es gelang mir nicht, am Flugzeug-Karussell des Museums vorbeizugehen, ohne eine Fahrkarte zu lösen. Bei Sonnenschein wäre diese Unternehmung reizlos gewesen, aber was ist schöner als eine Karussellfahrt im Regen? Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Karussells. Wenn ich Venedig jemals erreichen wollte, musste ich darauf hoffen, dass es nicht allzu viele Karussells an der Strecke gab. Oder auf ein Hochdruckgebiet.

Ich entfernte mich vom Stadtzentrum flussaufwärts in Richtung Süden. Bald begegnete ich einer Steinskulptur, die am Ufer stand und unter ihrer Last zu leiden schien. Der gebückte Träger hatte sich nach vielen Jahren, in denen er bewegungslos verharrte, so sehr an seine Bürde gewöhnt, dass er jeden anderen Gesichtsausdruck verlernen musste. Ich warf ihm einen aufmunternden Blick zu und freute mich über mein leichtes Gepäck.





















Beim Anblick des Kraftwerks auf der anderen Isarseite wunderte ich mich darüber, dass viele Zeitgenossen solche Betongebilde als Verschandelung empfinden. Industriegebäude inmitten der Natur üben einen intensiven visuellen Reiz aus. Auch Windräder, die sich zwischen einer grauen Wolkendecke und blassem Weidegrün drehen, betrachte ich nicht als Verschandelung der Landschaft. Sollen andere mit Lanzen dagegen anreiten.




Ich hatte Münchens Stadtgrenze längst überschritten, als mir beim Wirtshaus Brückenfischer donnernd Blasmusik entgegen schallte. Die Bordkapellen mehrerer Flöße waren in kakophonische Gefechte verwickelt. Sie beschossen sich mit Dixieland und bayrischen Stammesrhythmen.



Entgegen der beschriebenen Route wechselte ich das Ufer auch weiterhin nicht, um zwischen Isarkanal und Isar zu gehen, sondern schlug mich auf der östlichen Seite des Flusses durchs Gestrüpp. Einen Teil der Strecke legte ich im Flussbett zurück, und schließlich wanderte ich auf einem Waldweg entlang des Gewässers.



Kurz vor Wolfratshausen kreuzte eine Blindschleiche meinen Weg, der sich inzwischen zu einer geteerten Fahrradstrecke gewandelt hatte. Die Amputationsverletzung am hinteren Körperende des Tiers war nicht zwangsläufig durch die Begegnung mit einem Zweirad verursacht worden, aber auszuschließen ist ein solcher Verkehrsunfall nicht.



Neben meiner Verwurzelung in der deutschen Sprache gibt es eine Reihe äußerlicher Heimatmerkmale, und das Aufstellen von Maibäumen gehört zu den schönsten Traditionen. Die höchste Maibaumdichte dürfte in Süddeutschland zu messen sein, wobei man das abgebildete Exemplar kurz vor Wolfratshausen treffender als Augustbaum bezeichnen sollte.





















Als ich mich bei einem alten Mann nach dem Wanderweg in Richtung Bad Tölz erkundigte, fragte er nach meinem Ziel. Der Mann hatte eine Warze auf der Nase, und ich glaubte zu erkennen, dass auf der Warze Moos wuchs. Bestimmt war dieses Moos von märchenhaften Kleinstlebewesen bevölkert. Einerseits hatte ich Mühe, meinen Blick vom Warzenbiotop abzuwenden, und andererseits fand ich die Frage im übertragenen Sinn sensationell. Man sollte jeden Menschen, dem man dialogisch begegnet, nach seinem Ziel fragen. Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass ich auf dem Weg nach Venedig sei. Er entgegnete, dass ich mit diesem Schuhwerk niemals ankäme. Daraufhin machte er kehrt und entfernte sich.

Anhand eines Aufkleber fand ich den Weg dann doch. Dieser Hinweis wurde von freundlichen Menschen angebracht. Er begegnete mir auf dem Weg noch oft und war in einigen Fällen der Orientierung sehr dienlich.




Am Isarufer zwischen Wolfratshausen und Bad Tölz legte ich mich in meinen Schlafsack und schaute in einen wolkenfreien Nachthimmel. Ich zählte vier Sternschnuppen, bevor ich einschlief. So viele Wünsche hatte ich gar nicht.
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Montag, September 08, 2008

München - Venedig (II): Lodenmäntel und Dackel

Ich kenne einen, der aus München weggezogen ist, weil er den Anblick von Lodenmänteln und Dackeln nicht mehr ertragen konnte. Aber im August treten Lodenmäntel im Straßenbild nur vereinzelt in Erscheinung, und auch der Dackelwahnsinn scheint in den letzten Jahren abgeflaut zu sein.

Ich schätze die bayrische Landeshauptstadt nicht zuletzt wegen ihrer Wirtshäuser, und für ein frisch gezapftes Helles lasse ich jedes Pils verschimmeln. Nur die Alternative eines fränkischen Kellerbiers würde mich vor einen Entscheidungskonflikt stellen. Dieser wäre allerdings auf unkomplizierte Weise zu lösen, indem man die Erfrischungsgetränke kurzerhand im Wechselintervall verkostet.

Am späten Nachmittag des 8.8.08 saß ich also im Zug von Frankfurt nach München. Die Indianer U. und O. von einem befreundeten Stamm verpassten mir am Abend eine gastronomische Führung durch das Bierhausuniversum Haidhausens, und es war abzusehen, dass ich die Wanderung zum Markusplatz in Venedig am folgenden Morgen unter keinen Umständen zu irgendeiner unchristlichen Zeit antreten würde.

Der Aufbruch fällt immer schwer, wenn man gerade erst angekommen ist.
Schließlich setzte ich meinen Willen gegen die Trägheit des Körpers durch und fand mich um zwölf Uhr vor dem Rathaus auf dem Marienplatz ein. Dort drückte ich einer japanischen Touristin meinen Fotoapparat in die Hand, um diesen verkaterten Moment zu dokumentieren. Die Dame bemühte sich mit großem Ernst, mir ein Lächeln zu entlocken, und im Sinne der Völkerverständigung stand ich im Nieselregen, grinste mit größter Verzweiflung und fühlte mich dabei grenzenlos debil.


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Samstag, September 06, 2008

München - Venedig (I): Freiwillige Hindernisse

"Die Kirche von außen, das Wirtshaus von innen und die Berge von unten." Im Wesentlichen erscheint mir diese alpenländische Empfehlung vernünftig. Aber die Berge führen mich trotzdem immer wieder in Versuchung. Oft war ich in Gebirgen unterwegs, und die Faszination gewaltiger Felslandschaften erfährt keine Sättigung, sondern wächst mit jeder neuen Erfahrung. Dabei habe ich ebenso großen Respekt vor den Gefahren der Berge, wie vor gelben, grünen, schwarzen und blauen Wüsten.

Grüne Wüste (Angkor, Kambodscha)

Nur wirken Wüsten jeglicher Natur nach einer überschaubaren Verweildauer eintönig auf mich und stellen in den meisten Fällen unfreiwillige Hindernisse dar, die unter Benutzung gängiger Verkehrsmittel, wie beispielsweise Motorräder, Raumschiffe oder Kamele, bewältigt werden können. Hingegen veranlassen mich bereits sanfte Hügellandschaften zur Verwirklichung des ältesten Logistik-Konzepts in der Geschichte der Evolution, nämlich dem Transport meines Körpers und sonstigem Gepäck mittels des eigenen Bewegungsapparats.

Liegen liegt mir nicht, und ich ertrage diese Haltung nur zum Zweck des unvermeidbaren Schlafes. Sitzen stellt grundsätzlich eine akzeptable Haltung dar, genießt jedoch in Zivilisationsgesellschaften einen unangemessenen Stellenwert. Und auch beim Stehen als dritter Variante statischer Körperhaltungen ist man auf fremdbewegte Veränderungen der Umgebung angewiesen, sobald es einen nach Abwechslung verlangt. Da ich Bewegung in jeder Hinsicht dem Stillstand vorziehe, gehören Gehen und Laufen zu den Haltungen meiner engsten Wahl. Das gilt auch im übertragenen Sinn, denn gezielte Bewegung setzt eine entsprechende Geisteshaltung voraus.


Vor einigen Jahren stieß ich auf die Beschreibungen Ludwig Graßlers, der 1976 einen Wanderführer für die Strecke zwischen München und Venedig verfasste. Seither holte ich die Idee, diesen Weg zu Fuß zurückzulegen, immer wieder aus dem Winkel in meinem Gedächtnis, wo ich sie abgelegt hatte. Und legte sie jedes Mal behutsam zurück auf ihren Platz. In diesem Sommer entschloss ich mich, die Idee umzuwandeln in die Erinnerung an ein Erlebnis.

Allerdings wusste ich, dass es nicht möglich sein würde, mir die von Graßler vorgeschlagene Zeit von 28 Wander- und vier Ruhetagen zu nehmen. Aber aufgrund meiner Leidenschaft für Langstreckenläufe fühlte ich mich in solider körperlicher Verfassung und war davon überzeugt, die 520 km und 20.000 Höhenmeter in 20 Tagen bewältigen zu können.
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