Donnerstag, August 27, 2009

München - Venedig (XVIII): Ein Bild betrachtet sich selbst

Grau uniformierte Wolkenarmeen, die abends noch den Himmel belagert hatten, waren am nächsten Morgen weggefegt. Der neue Tag präsentierte sich in einem gebügelten Sommerblau.


Piave, Blickrichtung Norden

Ohne einem bestimmten Pfad zu folgen, ging es durch Büsche am steinigen Bett des Piave entlang. Flusslandschaften sind beruhigend und aufregend zugleich. In einer verbindlichen Gleichmäßigkeit ist alles lebendig und ständig in Bewegung, sogar der knirschende Kies unter meinen Füßen schien zu atmen. Die Sinneseindrücke beim Gehen sind weiträumig und unverdichtet, durch die Langsamkeit der Fortbewegung dringen Landschaften tief in meine Wahrnehmung ein und schimmern als kondensierte Essenz von den Wänden der Gedankenspeicher.

Mit der Projektion seiner Umgebung in die Innenräume wird der Gehende zu einem Teil der Umgebung, und gleichermaßen umgibt er seine Umgebung. In seiner Vorstellung ist er nicht der Denkende, sondern wird von der Außenwelt gedacht, aber auch seine Vorstellung ist nur ein Produkt einer anderen, größeren Vorstellung. Die Welt erfindet den Gehenden und lässt ihn ein Bild durchqueren, das sie von sich selbst malt. Dieses Selbstporträt ist nie vollendet. Figuren kommen und gehen, Berge entstehen und verschwinden. Wir sind Teile des Bildes. Auf die nebensächliche Frage nach dem Ursprung gibt es zahllose Antworten. Aber die Kernfragen lauten: Wer ist der Betrachter? In welchem Teil der Ausstellung hängt das Bild? (Und hat es einen Rahmen?)


Wenn man, auf sich selbst zurückgeworfen, tagelang durch das Kopfmuseum spaziert, kommen bizarre Gebilde zum Vorschein. Aber die Hitze und Erschöpfung waren nicht groß genug, um sich ein Segelschiff am Straßenrand einzubilden.



Handelte es sich um mittelschweres Kriegsgerät der österreichischen Gebirgsmarine, mit deren Regelwerk ich bereits im VII. Kapitel meiner Reise konfrontiert wurde? Da ich weder militärische Manöver, noch weitere Teile eines Flottenverbands ausmachen konnte, musste nicht mit unmittelbaren Kampfhandlungen gerechnet werden. "Weit und breit kein Fahrwasser. Österreich wird nie den Status einer globalen Seemacht erreichen", lautete die Analyse. Ich befand mich auf einem Damm, der offenbar Überschwemmungen des Piave vorbeugen sollte. Hatten die Invasoren jahreszeitbedingte Hochwasser genutzt? Aber wie hatte man die Alpen überquert? Elefanten? Fitzcarraldo? Jetzt rechnete ich mit allem.



Ich kam an einer verrosteten Industrieruine vorbei. Wer hatte jene Festung aufgegeben? Waren die Insassen belagert worden? Es gab keine Spuren zu entdecken, die ballistische Rückschlüsse zugelassen hätten.



Auch Friedhofsforschungen trugen im weiteren Verlauf zu keiner historischen Klärung bei. Der Tag wuchs mir über den Kopf, und aus Trotz quartierte ich mich in einem lächerlich teuren Hotel ein.
(...)
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>> Piaveschlachten

Mittwoch, August 12, 2009

München - Venedig (XVII): Tag aus Blei

Während der Nacht ergriffen Gespenster Besitz von jenem Raum, Schatten verwandelten die Konturen der altertümlichen Möbel in unfreundliche Fratzen. Meine Gedanken belauerten mich. Aus den Augenwinkeln nahm ich feindselige Bewegungen wahr, aber wenn ich meinen Blick dann blitzschnell in die Richtung eines drohenden Schemens wendete, verhöhnte mich die Totenstarre lebloser Gegenstände. Nichts passiert außerhalb unserer Köpfe. Sämtliche Ereignisse finden in den Gehäusen der Gehirne statt, wo alles zum Leben erweckt werden kann. Manches lässt sich schwerer vernichten als erschaffen.

In der Morgendämmerung fühlten sich meine Gliedmaßen zerschlagen an, als hätten mich Dämonen durch nächtliche Sümpfe gejagt. Mein Körper erschien mir wie ein Gefäß aus brüchigem Leder, das mit einem abgestandenen, bitteren Sud gefüllt war. Nichts besaß eine Bedeutung, selbst das Nichts besaß keine Bedeutung. Das Gehen führte durch sattes Grün unter flüssigem Grau. Falls sich ein Ziel hinter allem Grün und Grau verbarg, zu welchem Zweck wollte man es erreichen?



Was würde passieren, wenn man das Ziel aus dem Sinn verlor und dennoch immer weiter ging? Würde man irgendwann an der Kante zur Unendlichkeit stehen, weil sich herausstellte, dass die Welt doch eine Scheibe war? Oder würde man mit dem Ziel auch jede Wahrnehmung verlieren und zu einem mechanischen Schatten werden?



Das Foto musste hunderttausendfach aufgenommen worden sein. Bestimmt machten alle, die an der Mulinetto della Croda vorbeikamen, das gleiche Bild. Wie alle, die an der Golden Gate Bridge, dem Taj Mahal oder den Pyramiden von Gizeh vorbeikommen, immer das gleiche Bild machen. Meistens sind die spektakulären Motive zugleich die banalsten. Man sollte ausschließlich Fotos von Mülleimern, Kanaldeckeln oder Straßenlaternen als Verlängerung in die Vergangenheiten sammeln.



Irgendwo auf dem Weg nach Priùla entlud sich das schwere Grau über mir. Dem Regen folgte ein pausenloses Donnergrollen, das mich bis ans Ende des Tages begleitete.
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