Samstag, Dezember 07, 2013

Unter der Nacht

Escher starrte in die Dunkelheit. Es musste unter dem Bett lauern. Dort unten hatte sich alles Schlechte versammelt und zu einem kalten, geduldigen Wesen ohne Gedächtnis vereint. Mit einem weiten Satz sprang Escher von seiner Schlafstätte in die Mitte des schwarzen Raumes. Er wagte nicht, sich umzudrehen. Ein Blick bohrte sich durch seinen Rücken und zerrte an den Eingeweiden.

Ihm kam es vor, als ob der Raum aus kleinen Würfeln bestand, die jemand durcheinander geschüttelt und auf eine falsche, bösartige Weise wieder zusammengesetzt hat. Durch das Fenster schien plötzlich eine Stratuswolke, die inmitten des nächtlichen Himmels gleißend hell über der Stadt stand und Millionen Lichter reflektierte.

Und Escher verstand, dass er selbst das Wesen ist, das unter dem Bett lebt. Er greift nach seinem Knöchel und zieht sich ohne Gegenwehr in den dunklen Spalt.
Unter der Tarnung des aufgewirbelten Nachtstaubs lauerte Escher wie eine Spinne und starrte in die Dunkelheit. Irgendwann würde der Andere das sichere Kissen verlassen, das sagte ihm sein Gespür. Die Wolke war verschwunden. Und mit ihr das Licht.

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Samstag, August 03, 2013

Unter der Drachenhaut

Das rostige Drahtseil war zwischen zwei entgegengesetzten Gedanken gespannt. Escher versuchte, sein Gleichgewicht zu halten. Er blickte in den Abgrund und nahm die nächtlichen Schemen seiner Gehirnlandschaften wahr.

Im Fallen träumte er, nicht zu existieren, und nachdem er erwacht war, zweifelte Escher daran, dass es ein Traum gewesen sein konnte. Bis ihm der Drachen begegnete, der sich einen Menschen tätowieren ließ.

Die Oberfläche im Inneren erinnerte ihn an brüchigen Beton. Es stank nach Aas. Anstelle von Wachs verdampfte Beuteblut. Die Kerzenflamme warf ein bitteres Licht an die Wand seiner Seele. Als Escher das Licht trank, wurde ihm bewusst, dass er ein verbleichendes Bild unter der Haut des Drachens bleiben würde.

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Freitag, September 28, 2012

Am Totpunkt

Von den Kanten der gotischen Gemäuer starrten sie auf ihn herab. Ein Rinnsal schwarzer Brühe suchte seinen Weg durch die Fugen. Auf dem Pflaster ruhte eine Taube mit gespreizten Flügeln und zerquetschtem Kopf.

In ihren entstellten Gesichtern spiegelten sich Spott und Hohn aus Jahrhunderten. Escher vernahm die unausgesprochenen Flüche der Wasserspeier, ein Zischen hinter steinernen Stirnen. Ihre Schatten verfolgten ihn im Schein der Zeit. Aus Abscheu gegen die Hoffnungen eines nahenden Tages atmete die Stadt mit letzter Kraft ihre Bösartigkeit in seinen Nacken.

Hinter den Mauern türmten sich ungeschriebene Seiten über zahllose Leben. Nur eine zufällige Essenz gelangt durch die verdreckten Filter der Geschichte ins Bewusstsein kommender Generationen. Der unermessliche Rest vergilbt ungelesen in der Bibliothek der Bedeutungslosigkeit. Hier würde auch der Band über sein eigenes Dasein irgendwann archiviert, zwischen Milliarden anderen inhaltsleeren Werken.

Aber in dieser Nacht war sein Opfer der Tod, den er auf seinem ziellosen Heimweg überwältigen und ausrauben würde. Escher hörte, wie sich die Schritte steinerner Stiefel näherten. Er nahm die klammen Hände aus den Taschen seines Mantels. Und ohne Furcht bog er um die Ecke.


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Donnerstag, Februar 23, 2012

Hotel Carnivoria

In der Ecke pulsierte giftgrün die Senderanzeige eines Röhrenradios. Irgendwo zwischen dem Knistern vernahm Escher Zahlenkolonnen, vorgetragen von einer monotonen weiblichen Stimme. Sieben. Drei. Füneff. Füneff. Eins. Acht. Füneff. Sechs. Drei. Kurzwellenfrequenzrauschen umspülte die Zahlen wie verseuchtes Wasser.

Alles war abgenutzt, über Jahrzehnte beiläufig berührt und geglättet von tausenden Händen. Drei Neonbuchstaben hatten kalt und rot geglüht und den Weg ans Ende der Straße gewiesen. Es war eines jener Hotels ohne Sterne, in denen man eine überteuerte Unterkunft ohne Reservierung fand und keinem anderen Gast begegnete.

Der Nachtportier besaß Augenbrauen aus weißen Borsten, die über seiner Nasenwurzel ineinander wucherten. Er war blind. Am Schlüssel, den er Escher über den Tresen der Rezeption reichte, war ein schwerer Anhänger aus Messing angebracht, auf dem die Zimmernummer 17 stand. Umständlich und mit brüchiger Stimme erklärte der Mann, eher an sich selbst gerichtet, den Weg in den ersten Stock. Er schien dafür tief in seiner Erinnerung zu graben.

Escher kam es vor, als hätte er beim Betreten des Hotels das Alter seiner Umgebung angenommen. In der Minibar stand polnischer Wodka. Das Zimmer war kalt, es roch nach verbranntem Fett. Vom Heizkörper kam ein grimmiges Knirschen. Escher lag auf dem Bett, er hatte seinen Mantel nicht ausgezogen. Roter Neonschein drang von draußen durch einen Spalt im Vorhang. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Escher wusste, dass er niemals einschlafen durfte. Aus trockenen Augen starrte er an die Decke, die unendlich langsam näher kam. Tief aus dem Bauch des Hotels vernahm Escher ein Poltern. Der Hunger fraß sich langsam durch sein Bewusstsein.

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Mittwoch, September 22, 2010

Ob es Menschen gab

Als er an seiner Abstellkammer vorüberging, kam es ihm vor, als hörte er ein Flüstern hinter der Tür. Risse zogen sich wie Spinnweben durch den schmutzgrauen Lack. Er hielt den Atem an und legte sein Ohr an das Holz.

Es roch nach Putzmitteln, und Escher hörte zwei Stimmen, die sich darüber zu unterhalten schienen, ob es Menschen gab. Eine der Stimmen meinte, dass der Mensch existieren müsse, denn schließlich könne es Götter nur geben, wenn jemand an ihr Dasein glaubte.

- Woher sollten wir unseren Sinn beziehen, wenn es kein Wesen gäbe, in dessen Vorstellung wir existierten?
- Aber müssen nicht wir die Menschheit erschaffen haben, damit sie an uns glauben kann?
- Ebenso wenig, wie ich mich an meine eigene Erschaffung erinnere, weiß ich von der Schöpfung einer Welt. Zu welchem Nutzen sollte sie uns dienen? Die Menschheit hingegen musste Götter erschaffen, um uns übernatürliche Kräfte zuzuschreiben und in die Ewigkeit zu verbannen.
- Aber warum sollte die Menschheit uns benötigen, worin bestünde unser Verwendungszweck? Und wenn wir übernatürliche Kräfte besäßen, was fingen wir damit an? Besitzen wir Götter nicht dieselben Eigenschaften, die wir den Menschen unterstellen? Wir schufen eine Vorstellung von Menschen, die uns erhöhen, gleichsam wie unsere Vorstellung, also die Menschheit, erhöht sein will.
- Sie beziehen Kraft aus der Annahme, dass sich die Angst vor dem Tod mittels unserer Existenz überwinden lässt. Mit unserer Hilfe rechtfertigen sie ihren Wunsch nach ewigem Leben, zusätzlich die Furcht vor ewiger Verdammnis als Werte für ihr Dasein.
- Wenn wir aber annehmen, dass es keine Menschen gibt, die uns erschaffen haben, sondern dass die Menschheit nur in unserer Vorstellung existiert, wie können wir sicher sein, dass es uns selbst gibt? Sind wir nicht nur eine Idee im Kopf einer Idee, die wir selbst hatten?
- Gäbe es uns nicht, weil wir nicht als Idee in den Köpfen der Menschen existierten, wie könnten wir uns verständigen?
- Woher wissen wir, dass wir uns verständigen?
- Würden wir uns nicht verständigen, dann befände sich an der Stelle dieses Dialogs ein Teil des Nichts.

Als Escher die Luft nicht mehr anhalten konnte, atmete er geräuschvoll ein. Anschließend vernahm er keine Stimmen mehr aus der Abstellkammer. Escher zögerte. Dann ging er in die Küche und briet sich ein Ei.

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Donnerstag, August 19, 2010

Farbfotos vom innersten Subkontinent

Nach seiner Reise durch den innersten Subkontinent, die er weder abgeschlossen noch jemals begonnen hatte, wähnte sich Escher zurück in der angestammten Umgebung. Er war nie weg gewesen, aber seine Rückkehr erfüllte ihn mit einer Mixtur aus Erleichterung und verhaltener Zuversicht. Dieses Gefühl beschlich Escher nicht ohne Ankündigung, unerwartete Veränderungen besaßen die Eigenschaft, dass er sie vor ihrem Eintreten wahrnahm und verhindern konnte. Dafür besaß er ein verlässliches Gespür. Escher hatte sämtliche Konstellationen auf dem Schachbrett seines Kosmos im Blick, und beim Spiel gegen sich selbst blieb er am Ende immer Sieger und Verlierer. Sobald sein Gegenspieler, also er selbst, eine Figur berührte, kannte Escher seine Absicht und alle möglichen Züge, um darauf zu reagieren. Es gab keinen falschen Zug, denn er nutzte die eigenen Fehler gnadenlos, um sich zu besiegen.
Aus der sicheren Stellung seines Ohrensessels sah Escher in die Ecke des Zimmers, wo der Koffer stand und bedrohlich den Geruch von feuchtem Leder verströmte. Irgendwann müsste er das Ungetüm auspacken, dieses Ritual gehörte zu jeder Reise. Aber die Vorstellung, dass er den Koffer öffnen würde und dort läge er, Escher, gekrümmt in den staubigen Kleidern, die er während seiner Reise getragen hatte und blickte ihm, Escher, erwartungsvoll entgegen, hielt ihn von diesem Vorhaben ab.
Er verwarf den Gedanken und ging zum Briefkasten, um nachzusehen, ob die Postkarte mit den Farbfotos vom innersten Subkontinent bereits eingetroffen war. Aber irgendwann, vielleicht schon bald, würde er sich auspacken und aufräumen.

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Mittwoch, Februar 17, 2010

Die gekaufte Seele

Von der Wand glotzte ein Keilerkopf. Die Atmosphäre zeichnete sich durch einen hinterhältigen Duft nach Zitronengras und Schwefel aus, der von den Urinalsteinen aus den Herrentoiletten in jeden Winkel des Gastraums kroch, wo er sich mit kaltem Rauch vermengte. Wie eine Holzpuppe, über die ein Gerberlehrling schwammige Häute gezogen hatte, stand die Wirtin hinter dem Tresen und starrte stumpf an ihm vorbei. Als hätte sie jede Erinnerung daran verloren, was möglich gewesen wäre, wenn sie sich nicht schon zu lange an diesem Ort befunden hätte. Selbst ein Leben im Waswärewenn war zwischen den grauen Landschaften in ihrem Gesicht abhanden gekommen.

Escher trat an den Tresen, legte seinen Mantel über einen Hocker und bestellte ein geistiges Getränk. Die Fellmütze behielt er auf dem Kopf. Mit mechanischen Bewegungen nahm die Alte ein Glas vom Regal und füllte es bis zum Rand aus einer Flasche ohne Etikett. Sie lieferte die Bestellung wortlos auf dem Tresen ab und kehrte anschließend wieder in ihre Bewegungslosigkeit zurück.


Seine Zeit pendelte an einem endlosen Gummiband. Irgendwann bemerkte er, dass sich jemand neben ihn gesetzt hatte. Der neue Gast trug eine schwarze Krawatte über seinem weißen Hemd und erweckte den Eindruck, als käme er von einer Beerdigung auf dem nahen Friedhof. Er hatte rote Flecken im Gesicht und verströmte einen Geruch, der sich in den Raum fügte wie ein fehlendes Teil. Der Andere bestellte das gleiche Getränk, aber in kürzeren Abständen.


Niemand sprach. Bis der Besitzer des dunklen Anzugs fragte, ob Escher an einem Geschäft interessiert sei. Er verfüge nicht über die Mittel, um seine Rechnung zu begleichen. Und dann bot er seine Seele als Gegenwert für die Zeche an. Escher benötigte keine Seele. Aber als der Andere erklärte, es handle sich um nichts Geringeres als die Seele des Teufels, warf Escher mehrere Scheine auf den Tresen, zog seinen Mantel an und verließ das Wirtshaus.


Im Morgengrauen entdeckte er einen Lederhandschuh auf der Lehne seines Ohrensessels. Das Zimmer roch nach Zitronengras. Ihm wurde klar, dass man den Teufel nur einmal an seine Seele verkaufen konnte.

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Donnerstag, Januar 07, 2010

Zeitfiguren

Er ging, jeden Tag, dieselbe Strecke. Schlammig und ausgetreten wand sich sein Weg durch den Park der verlorenen Zeit, wie Escher die Anlage bei sich nannte. Im grauen Himmel verharrten Vögel, deren Gefieder die Farbe der Wolken angenommen hatte, auf dürren Ästen in Gedanken. Nichts rührte sich. Es war, als entspränge die Stille ihrer eigenen Quelle, ebenso wie jeder Laut.

An einem quecksilbernen Nachmittag, der sich in nichts von den anderen Nachmittagen im tauenden Frost der Jahreszeit unterschied, fiel ihm auf, dass an jener Kreuzung, an der Escher noch nie entschieden hatte, die rechte Abzweigung zu nehmen und den gewohnten Weg zu verlassen, um eine neue Richtung einzuschlagen, eine Skulptur errichtet war, eine männliche Figur aus schwarzem Granit, die ratlos auf ihrem Sockel stand, als würde sie sich fragen, wie sie dorthin geraten sein könnte und wie die gesamte Welt um sie herum entstanden ist.

Gesichtszüge und Statur des Mannes aus Stein erschienen ihm vertraut. Escher wunderte sich, dass er die steinerne Figur, die von Efeu überwuchert war, noch nie wahrgenommen hatte. Ohne die Inschrift auf dem Sockel zu beachten, ging er am Denkmal vorbei und schlug seinen gewohnten Weg ein.

Auch am nächsten Tag unterbrach er seinen Gang nicht. Aber an der Wegkreuzung überkam Escher das Gefühl einer begründbaren Angst. Und er hatte den Eindruck, als wäre die Luft im Umfeld der Statue kälter. Der Anlass für seine Angst nahm in den folgenden Tagen Konturen an. Jede Begegnung mit dem Mann aus Granit bekräftigte Eschers Beobachtung, dass sich die Statue veränderte. Sie schien über Nacht eine andere Haltung einzunehmen. Zeichnete sich anfangs noch ein verzweifelter Ernst auf dem, in die Ferne gerichteten Gesicht ab, schien es inzwischen mit einer hinterhältigen Freundlichkeit ausgestattet und in die Richtung gedreht, aus der Escher sich näherte. Als ob die Figur ihn erwartete, empfing sie Escher mit ihrem rätselhaften Blick aus schwarzen Augen.

Es vergingen mehrere Tage. Escher ging, jeden Tag, dieselbe Strecke. Als er an einem Sonntag an die Wegkreuzung kam, war die Figur verschwunden. Nur der Sockel stand verlassen zwischen den Büschen. Zum ersten Mal versuchte Escher, die Inschrift zu entziffern. Ein frostiger Windhauch streifte seinen Nacken. In den Stein waren sein Name und sein Geburtsdatum gemeißelt. Eschers Blick fiel auf ein weiteres Datum und ein Kreuz daneben, aber die Ziffern waren zur Unkenntlichkeit verwittert.

Er stieg auf den Sockel. Von oben beobachtete Escher, wie sich ein Mann der Kreuzung näherte, der denselben Mantel trug wie er. Dann erkannte er, dass Escher selbst auf ihn zukam. An der Kreuzung zögerte Escher kurz. Er schaute ihm kurz in die Augen, bevor er in den linken Weg einbog. Als er nicht mehr zu sehen war, stieg Escher von seinem Sockel und schlug den rechten Weg ein.

Zeit ist ein Wegweiser ohne Beschriftung. Allein Veränderungen markieren Zeit, ohne die Vergänglichkeit von Ereignissen existiert Zeit nicht. Escher betrachtete seine Fäuste, die auf den Armlehnen des Ohrensessels ruhten. Sie fühlten sich hart an, als seien sie aus Granit geschlagen. Sein Blick verfinsterte sich.

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Montag, November 16, 2009

Sein Leben der Anderen

Als er das Badezimmer betreten wollte, um sich vom Staub seiner Reisen durch nächtliche Schlaflandschaften zu befreien, stand schon jemand vor dem Waschbecken. Der Anblick der Person mit dem Rasiermesser in der Hand versetzte ihn in Erstaunen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Escher angenommen, dass er die Unterkunft allein bewohnte. Aber er war davon überzeugt, dass seine Welt in jeder Nacht vollständig neu erschaffen wurde.

Escher beobachtete die Person im Spiegel. Kopfform und Statur des Mannes kamen ihm vertraut vor. Als ein großer Teil des weißen Schaums im Ausguss verschwunden war und das Gesicht sichtbar wurde, erkannte Escher, dass er selbst dort vor dem Waschbecken stand und sich rasierte. In diesem Moment zwinkerte ihm der Andere im Spiegel zu.

Geistesabwesend fasste Escher sich ans Kinn und dachte, dass ihm zumindest die Rasur an diesem Tag erspart bliebe. Er runzelte die Stirn und ging zurück ins Schlafzimmer, um sich wieder ins Bett zu legen. Aber als er im Türrahmen stand, stellte er fest, dass bereits ein anderer in seinem Bett lag. Escher näherte sich dem Schlafenden, und wieder war es Escher, der kurz die Augen aufschlug und sich selbst ins Gesicht blinzelte.

Der Escher, der stumm in der Küche vor einer Tasse schwarzen Kaffees saß, schien ebenso wenig überrascht von sich wie der Escher, der zur Küche ging, um nachzusehen, ob er schon da war.

Überall, wo Escher hinging, befand er sich bereits, noch bevor er ankam. Es schien keine Möglichkeit zu geben, sich selbst aus dem Weg zu gehen. Sollte er sich ankleiden, oder würde Escher bereits am Kleiderschrank stehen und einen Anzug ausgewählt haben? Könnte er sich vermeiden, wenn er aus seinen Gewohnheiten ausbräche und sich ans offene Fenster stellte?


Erleichtert und allein atmete Escher die feuchte Luft ein. Er blies reinen, weißen Atem in die neue Welt des Tages. Beiläufig nahm er wahr, wie Escher das Haus verließ und mit einer Aktentasche unter dem Arm um die Ecke bog. Der Mann auf der Straße drehte im Gehen kurz den Kopf über seine Schulter und schaute nach oben, um sich zu vergewissern, dass er noch am Fenster stand.

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Sonntag, Februar 01, 2009

Die Sprache hinter dem Verstummen

"Es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich; es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt." (Thomas Bernhard)

Die Werkstatt befand sich im Untergeschoss eines Betongebäudes. Ein Teil der grünen Kacheln war aus der Fassade gebrochen, der Rest hatte Risse, die sich wie Spinnweben über das Haus zogen. Als er das Messing berührte, kroch die Kälte des Türgriffs in den ganzen Körper.

Beim Überschreiten der Schwelle überkam Escher ein drückendes Gefühl, als ob die abgestandene Luft seit Jahrzehnten zwischen Boden und Decke des Raumes gepresst wurde. Schwere Wolken einer Ahnung verdunkelten seine Seele, und sein Herz zog sich zusammen wie ein scheues Tier, das Angst vor dem nahenden Gewitter hatte und sich in einem geschützten Winkel verbergen wollte.

Es roch nach Metall. Der Uhrmacher, ein Asiate mit dünnen Barthaaren, saß hinter einem Glastisch und hatte sich mit Hilfe seiner Lupe in die Welt winziger Zahnräder vertieft. Er schien Eschers Anwesenheit nicht zu bemerken, bis dieser dicht vor den Tisch trat. Als der Handwerker aufblickte, hielt ihm Escher eine Uhr, die er vor einiger Zeit durch einen Zufall gefunden hatte, in den Lichtkegel vors Gesicht. Es war eine Uhr, die auf den ersten Blick keine auffälligen Merkmale besaß, aber durch ihre schlichte Erscheinung elegant wirkte. Escher hatte sich an die Uhr gewöhnt, sie war ihm unverzichtbar geworden.

Er kannte die Antwort des Uhrmachers, bevor dieser zu ihm sprach. Escher kannte die Antwort, bevor er die Werkstatt betreten hatte. Aber das Verstummen der Uhr war bedeutungslos, denn hinter ihrem Schweigen verbarg sich eine ferne Sprache. In Eschers Mundwinkeln zeichnete sich ein Lächeln ab. Er würde die Uhr nicht wegwerfen. Vielleicht würde er sie in eine Schublade legen und vergessen. Bis er die Schublade irgendwann zufällig öffnen, die Uhr entdecken, sie an sein linkes Ohr halten und sich an den wundersamen Klang ihres Tickens erinnern würde.

Gewidmet Eduard Karl Henn
(Opa Edi, Neobazi, 1940-2009)

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Freitag, März 14, 2008

Haltestelle Kopfbahnhof

Escher starrte auf die Spiegelungen grauer Gesichter im Glas. Betäubt von der morgendlichen Gleichförmigkeit saß er neben einem Ohrstöpselmenschen. Aus dem Kopf des Nachbarn knisterten rhythmische Geräusche.

Mit der Trägheit einer satten Made kroch der Zug durch die Eingeweide der Stadt. Hinter der Finsternis zogen Kabelstränge vorbei, wie Adern verliefen sie entlang der Schachtwand und versorgten die Organe aus Stahlbeton mit Energie. Quer über die Scheibe hatte jemand
молоко geritzt. Eine Frau, die Escher gegenüber saß, sonnte sich in der milchigen Beleuchtung. Obwohl sie sich für einen hohen Neonlichtschutzfaktor entschieden hatte, erinnerten die Falten in ihrem Gesicht an verbrannte Landschaften.

Escher schloss die Augen für einen Kurzurlaub in seinem Kopf. Dieses Vergnügen war günstig und bedurfte keiner intensiven Planung. Er nahm sich vor, in einem Zug mit weich gepolsterten Gedanken erster Klasse zu verreisen. Nach einer Fernreise stand ihm nicht der Sinn, daher hatte Escher sich gegen einen Flug entschieden. Um die richtige Haltestelle nicht zu verpassen, wollte er rechtzeitig aus seinen Urlaub zurück sein.

Die Wartehalle des Kopfbahnhofs war menschenleer, am Zeitungsstand bellte ein angeleinter Hund. Auf der Anzeigetafel stand молоко. Ohne einen Blick auf den Fahrplan bestieg Escher den einzigen Zug inmitten einer verwirrenden Anzahl von Gleisen. Er wählte den Platz gegenüber einer Frau, deren Gesicht an verbrannte Landschaften erinnerte.

Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Schon bald, nachdem der Schaffner ihm eine Fahrkarte ohne Zieleintrag ausgestellt hatte, wurde Escher vom monotonen Schaukeln der Fahrt müde. Verschwommen nahm er die graue Spiegelung seines Gesichts im Fenster wahr. Er schloss die Augen.

Tief in den Windungen seines Unterbewusstseins fuhr der Zug durch einen langen Tunnel. Am Ende des Tunnels beschloss Escher, die Rückreise anzutreten. Er öffnete die Augen.

Als er benommen aus dem Fenster schaute, stellte Escher fest, dass sich der Zug inzwischen durch eine Dämmerung aus schmutzigem Blau bewegte. Die Landschaft war Escher fremd. Für einen Moment überlegte er, wie es wohl wäre, einfach bis zur Endhaltestelle sitzen zu bleiben. Würde man wieder im Kopfbahnhof ankommen? Aber dann bemerkte Escher die knisternden Geräusche und beschloss, an der nächsten Haltestelle auszusteigen. Dort könnte er auf den Zug in die entgegengesetzte Richtung warten. Oder noch einmal die Augen öffnen.

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Samstag, Dezember 01, 2007

Doppelt einfach

Unauffällig folgte Escher dem anderen, während er ihn in den Spiegelbildern der Schaufenster verstohlen beobachtete. Die Größe passte. Der andere hatte auch dieselbe Figur und Kopfform. Sein Haarschnitt gefiel ihm nicht, aber es sollte kein Problem sein, die Frisur zu ändern.

Er bewegte sich offenbar ziellos durch die Straßen der großen Stadt. Am Rand eines Viertels, das Escher vertraut war, verschwand der Verfolgte in einen dunklen Hinterhof. Escher brach die Observation ab und ging zu seiner Wohnung. Dort stellte er sich vor, wie der andere seinen grauen Mantel auszog und vielleicht in eine kleine Küche ging, um sich einen doppelten Espresso zu kochen. Amüsiert zog auch er seinen grauen Mantel aus, ging in seine kleine Küche und kochte sich einen doppelten Espresso.

Escher stellte sich vor, wie es wäre, ein neues Leben zu beginnen, mit einer anderen Identität von vorne anzufangen. Irgendwo hatte er gelesen, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit von jedem Menschen ein fast identisches Ebenbild gibt. Die Theorie erschien ihm einleuchtend, zumal es von vielen berühmten Persönlichkeiten Doppelgänger gab. Aufgrund der Berühmtheit dieser Menschen war es einfach, ihre Doppelgänger ausfindig zu machen. Wenn man jedoch nicht in den Medien abgelichtet wurde, bedurfte es eines Zufalls, um den Doppelgänger zu finden.

Endlich war er ihm begegnet. Seit Wochen überlegte Escher, wie es ihm gelänge, sich unbemerkt das Leben des anderen anzueignen. Er kam immer wieder zu dem Ergebnis, dass er den anderen vernichten musste, um ihn seiner Rolle zu berauben und seine Identität zu übernehmen. Dabei durfte keiner merken, dass es den anderen nicht mehr gab. Nur Eschers eigenes Verschwinden würde den Behörden Rätsel aufgeben.

Escher hatte sich für den Zweck der Vernichtung eine Schusswaffe besorgt. An einem milchtrüben Novembertag nahm er den Revolver aus einer Schublade und steckte ihn in die Innentasche seines grauen Mantels. Die Kälte des Metalls drang durch den Stoff an seine Brust.

Vor dem Haus mit dem dunklen Hinterhof musste er nicht lange auf den anderen warten. Wie die vielen Male zuvor verfolgte er ihn durch das Labyrinth aus Beton. Dabei ließ er die flüchtigen Reflexionen der Gestalt auf den Schaufensterscheiben nicht aus den Augenwinkeln.

Escher folgte dem anderen durch den dunklen Hinterhof in das Treppenhaus einer Mietskaserne. Der Mann im grauen Mantel schien die Anwesenheit seines Verfolgers zu spüren, er drehte sich mehrmals um. Escher fühlte eine tiefe Verbundenheit mit dem anderen, sogar die fremde Umgebung erschien ihm vertraut.

- Ich habe Sie erwartet,
sagte der andere, als sie sich in der Wohnung gegenüberstanden. Er lächelte ihn dabei milde an. Escher hob den Arm und zielte mit dem Revolver in der Faust auf sein Gegenüber. In wenigen Momenten würde er ein Leben auslöschen, aber dafür ein neues beginnen. Der andere schien keine Angst zu empfinden, als er den Lauf des Revolvers auf seine Stirn gerichtet sah.

Auf den lautlosen Schuss folgte ein Klirren. Escher betrachtete die Scherben auf dem Teppich und beschloss, für sein neues Leben keinen Spiegel mehr an der Wand anzubringen. Für einen Moment schloss er befreit die Augen.

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Donnerstag, August 09, 2007

Die Natur der Schatten

Zu den wenigen Dingen, auf die man sich verlassen konnte, gehörte die Gefolgschaft des eigenen Schattens. Er hing an jedem Körper und begleitete ihn schweigsam durch die Lichter der Tage und Nächte. Seine Kleidung war dunkel. Die Sonne mied er, man fand ihn stets an der kühleren Seite seines Besitzers. Im Spiegel betrachtete er sich nur liegend.

Escher saß auf einer Parkbank und war in Gedanken über die Pensées von Blaise Pascal vertieft, als er in den Augenwinkeln ein abweichendes Verhalten seines Schattens wahrnahm. Er klappte die Gedanken zu und führte bizarre Bewegungen aus, um den Gehorsam des dunklen Gefährten auf die Probe zu stellen. Der Schatten parierte Eschers Bewegungen mit zweidimensionaler Präzision.

Eine magersüchtige Passantin kicherte beim Anblick seiner Verrenkungen. Dabei hielt sie die knochigen Hände vor ihre Lippen. Sie war in Begleitung eines Rehpinschers. Der Hund kläffte Eschers Schatten an, bevor er von einer Panik ergriffen wurde und das Weite suchte. Dabei hielt er den Kopf nach hinten gedreht und ließ seinen eigenen Schatten nicht aus den Augen.

Wie einknickende Strohhalme wirkten ihre Beine, als die Passantin dem Hund nacheilte. Das Tier rannte gegen einen Baum und
blieb bewegungslos liegen.

Escher beobachtete, wie die Frau neben dem Hund niederkniete. Wieder hatte er den Eindruck, dass sich sein Schatten der Form widersetzte und eigene Bewegungen ausführte. Diesmal ließ sich der Umriss nicht bändigen. Escher fuchtelte in der Luft herum, aber sein Schatten blieb vor ihm stehen. Er hatte die schwarzen Fäuste in die Hüften gestemmt und schien ihn aus den Umrissen seines Kopfes augenlos anzustarren.

- Sie wirken lächerlich.

Escher erschrak. Hatte etwa sein Schatten zu ihm gesprochen? Er drehte sich nach allen Seiten um, aber es war niemand zu sehen. Die Magersüchtige war verschwunden.

- Was fällt Ihnen ein, sich den Regeln der Natur zu widersetzen?
fragte Escher den Schatten.
- Die Natur hat sich des Menschen bestenfalls als Schreibgerät bedient, um Regeln zu formulieren, die der Mensch als unumstößlich annimmt. Aber das Gesetzbuch der Natur wurde unter dem Einfluss verschiedener Stimmungen verfasst, und wenn die Launen wechseln, können sich auch die Regeln ändern. Nur weil Sie meine Anwesenheit gewohnt sind, erheben Sie den Anspruch, mein Verhalten habe Ihren Erwartungen zu entsprechen. Glauben Sie nicht, mich besitzen zu können!

Der Schatten sprach in einer Stimme, die ihm bekannt vorkam. Es klang wie eine Tonbandaufzeichnung von Eschers eigener Stimme, fremd und gleichzeitig vertraut.

- Das ist absurd. Sie sind nichts weiter als ein Umriss, dessen Gestalt vom Zustand meiner Anwesenheit abhängt.
- Sie täuschen sich, indem Sie die Gewohnheit zur Regel machen. Aber ich bin nicht auf Ihre Anhänglichkeit angewiesen. Das Imitieren Ihrer absehbaren Handlungen langweilt mich. Ich will Neues erleben. Frei sein.

Der Schatten drehte sich um und entfernte sich mit großen Schritten. Escher schaute ihm hinterher. Er wusste, dass es keinen Sinn machte, seinem Schatten zu folgen. Nachdem er noch eine Weile das Treiben nächtlicher Insekten beobachtet hatte, die das Licht einer Laterne umschwirrten, ging er ohne seinen Schatten nach Hause.

Am Tag darauf saß Escher wieder auf der Parkbank und eilte in Pascals
Pensées durch die Kurven seines Kopfes, als ein flüchtiger Schatten über den Kies huschte. Die dunkle Erscheinung war spindeldürr. Sie besaß Beine wie einknickende Strohhalme und kicherte in ihre vorgehaltene Schattenhand. Aber die Besitzerin des Schattens war nirgends zu sehen. Wenige Meter später wurde das Ereignis von einem Lichtstrahl verschluckt.

Als sich die Sonne senkte, wuchs aus Eschers Füßen ein Schatten, der langsam die Form seines Urhebers annahm. Escher lächelte. Er hatte gewusst, dass er es nicht lange ohne ihn aushalten würde.

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Samstag, Juni 16, 2007

Für Türsteher kein Zutritt

Escher gesellte sich ans Ende der Warteschlange, während andere den Klub E verließen und das nächtliche Publikum nacheinander Einlass fand. Jedes Mal, wenn die Stahltür geöffnet wurde, krochen dumpfe Rhythmen aus dem Unterleib des Gebäudes in Eschers Gehörgänge.

Die Gäste, die der Musik nach draußen folgten, schienen von der Schwärze der Nacht geblendet. Sie hatten sich mit Schweißperlen geschmückt, die an ihren Schläfen glitzerten. Melodien geistiger Getränke oszillierten in ihrem Blut, und in einer unstillbaren Gier nach der übernächsten Erfahrung stritten sie sich um Taxis.

Der Monolith im schwarzen Anzug schien neben der Stahltür verankert. Er kam Escher bekannt vor. Die Lässigkeit des Türstehers grenzte an der berufsüblichen Arroganz. Mit hochgezogenen Augenbrauen entschied er, welche Personen den Klub E betreten durften. Manche der Abgewiesenen wollten sich seinem. Urteil nicht beugen. Aber der Monolith ließ sich durch nichts bewegen. Es halfen kein Charme und keine Drohungen. Irgendwann gaben die Abgewiesenen ihre Bemühungen auf und verließen den Ort fluchend oder mit enttäuschten Gesichtern. Die Entscheidungen des Türstehers schienen keinem System zu folgen.

Je näher Escher in Richtung der Stahltür vorrückte, desto vertrauter erschienen ihm die Gesichtszüge des Mannes im schwarzen Anzug. Als er schließlich vor ihm stand, war sich Escher sicher, dass er keine Probleme mit dem Einlass haben würde. Denn der Aufpasser am Eingang zum Klub E war er selbst.

Er blickte sich mutig in die Augen, doch sein Ebenbild verzog keine Mine. Als sich die Stahltür öffnete und Escher an der Reihe gewesen wäre, den Klub E zu betreten, stellte sich ihm Escher, der Türsteher, in den Weg.

- Nur für Stammgäste.
Escher traute seinen Ohren nicht. Der Türsteher konnte nicht ihn, Escher, also sich selbst, meinen.
- Bitte lassen Sie mich hinein, ich bin Stammgast.
- Geschlossene Gesellschaft.
- Und ich bin der Gastgeber!
- Ihre Garderobe ist unpassend.
- Was erlauben Sie sich! Ich bin der Inhaber des Klub E, mein Herr!
- Bitte blockieren Sie nicht den Weg für unsere Gäste.

Escher wurde wütend. Er hielt dem Türsteher seine geballte Faust unter die Nase.
- Sie aufgeblasener Popanz. Gehen Sie mir sofort aus dem Weg.
- Machen Sie keinen Ärger, Sie würden es bereuen.
Plötzlich sah der Türsteher gefährlich aus. Escher wich vor sich selbst zurück.

Obwohl er einer der besten in seiner Branche war, würde Escher den Türsteher entlassen. Er müsste einen anderen finden, der den Eingang zur Vergangenheit seiner Erinnerungen und zur Zukunft seiner Erfahrungen weniger gewissenhaft bewachen würde.

Mit hochgezogenen Augenbrauen entfernte sich Escher in stillere Straßen der Nacht. Die Faust in seiner Tasche war noch immer geballt.

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Donnerstag, Mai 10, 2007

Angriff der Sekretärinnenzunge

In seinem Kopf herrschte ein Gedankenvakuum, ein Zustand der vollkommenen Leere. Die Generatoren seiner Wahrnehmung standen still, sämtliche elektrischen Ströme in den Leitungen zwischen den Nervenmasten schienen unterbrochen. Plötzlich brachte ein Kurzschluss das Vakuum zum Kollabieren. Es war die Frage nach der Ursache des Vakuums, die sich knisternd in Eschers Gehirn ausbreitete und sein Bewusstsein in künstliches Licht tauchte.

Zunächst machte er die Ohrensesselsituation für das Phänomen seines temporären Gedankenvakuums verantwortlich. In Eschers Ohrensessel waren schon die unmöglichsten Dinge passiert. Sobald er sich auf dem schwarzen Samt niederließ, veränderte sich sein Blick auf die Welt. Seit Jahren hatte er den Ohrensessel im Verdacht, über hypnotische Fähigkeiten zu verfügen.

Aber als Escher die Augen öffnete, fiel sein Blick auf die Pflanze. Es war absurd. Er hatte ein Gefühl, als ob die botanische Lebensform auf der Fensterbank ihn anlächelte. Seine gesamte Aufmerksamkeit und die dahinter liegenden Gedanken wurden vom Lächeln der Pflanze förmlich absorbiert.

Bei der Zimmerpflanze handelte es sich um Bogenhanf, im Volksmund auch Sekretärinnenzunge genannt. In der Zeitung hatte Escher gelesen, dass die NASA Sekretärinnenzungen einsetzte, um Spaceshuttles von der Weltallstrahlung zu entseuchen. Vielleicht taugten diese Pflanzen nicht nur zur Entseuchung von Weltraumgefährt, sondern auch zur Gedankenabsorbierung. Nicht umsonst fand die Sekretärinnenzunge als Büropflanze weite Verbreitung.

Die Situation schien seiner Kontrolle zu entgleiten, als Escher die sonore Stimme der Sekretärinnenzunge in seinem Kopf vernahm. Sie redete beruhigend auf ihn ein, er müsse sich keine Gedanken machen, da er sowieso nur in ihrer Phantasie existiere. Geistesgegenwärtig kombinierte Escher, dass es sich um einen besonders raffinierten Versuch der Gedankenentwendung handelte. Indem die Pflanze versuchte, ihm einzureden, er sei nur ein Produkt ihrer Phantasie, wollte sie sämtliche Räume für Spekulationen öffnen und ihn in die Abgründe existenzieller Zweifel locken. Wenn er die Türen öffnete, wäre Escher dem geistigen Beutezug der Sekretärinnenzunge rückhaltlos ausgeliefert! Um die drohende Gefahr des Wahnsinns zu minimieren, beschloss er, sich auf keinen inneren Dialog mit der Pflanze einzulassen.

Escher erhob sich aus dem Ohrensessel und schlich lautlos in Richtung des Fensterbretts. Er plante einen Überraschungsangriff auf die Verursacherin seines Gedankenvakuums, um der diabolischen Botanik den Garaus zu machen. Da hörte er ein Knurren hinter sich. Der Ohrensessel? Langsam drehte Escher sich um. Alles unverändert. Der schwarze Samt glänzte ihm unschuldig entgegen.

Als er seinen Blick wieder in Richtung des Fensterbretts wendete, war die Sekretärinnenzunge verschwunden. Das beruhigte ihn, denn er hatte noch nie eine Zimmerpflanze besessen.

Im weiteren Verlauf des Abends blieb der Ohrensessel stumm. Die Sekretärinnenzunge kam nicht zurück.

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Mittwoch, April 11, 2007

Eine Ansichtskarte aus der südlichen Hirnhemisphäre

Hallo Daheim,
Wetter gut.
Viele Grüße,
dein Ich

So lautete die letzte Nachricht, die Escher auf einen Multicolorgedanken geschrieben, und unterfrankiert an die eigene Adresse auf der Nachtseite seines Bewusstseins gesendet hatte. Die Ansichtskarte legte viele tausend Meilen in verkehrsgefährdenden Transportmitteln zurück. Als er sie aus dem Briefkasten fischte, war die Karte von den Gedanken, durch die sie während ihrer Irrfahrt gegangen war, abgegriffen und mit so vielen Stempeln und handschriftlichen Vermerken der Zusteller übersäht, dass man den Text kaum noch entziffern konnte.

Seit jener Botschaft hatte er nichts mehr von sich gehört. Immer wieder holte Escher die Karte aus der oberen Schublade seines Nachtschranks. Inzwischen war die Handschrift unter den Berührungen seiner Blicke verblasst.

Beinahe täglich nahm er sich vor, weitere Karten zu schreiben. Neun blieben ihm noch, denn der fliegende Händler wollte die Ansichten vom Traumstrand nur im Zehnerpack verkaufen.

Das Gewicht der feuchten Hitze lastete schwer auf seinen Lungen. Jede Bewegung wurde zur zähen Qual. Escher schluckte Unmengen Chloroquin gegen das Fieber, aber es gelang ihm nicht, seine Träume zu bleichen.

Mit der Zeit würden die verbliebenen Ansichtskarten im klebrigen Tropenklima seiner südlichen Hirnhemisphäre verrotten und den Weg aller unbeschriebenen Erinnerungen gehen.

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Dienstag, März 20, 2007

Im Magnetfeld der Mittelmäßigkeit

Als er von der Toilette zurückkam, lag sie in einer verkrümmten Haltung neben dem Ohrensessel. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie Escher an. Im Tod schien ihr Ausdruck zu einer Mischung aus Verachtung und Verwunderung erstarrt. Das Buch aus dem Antiquarium der vergessenen Außergewöhnlichkeiten war ihrem Griff entglitten. Zuerst erschrak er, dann ging er mit einer übertriebenen Langsamkeit zum Sessel. Er beugte sich über sie und drückte die erloschenen Augen sanft mit seinem Daumen und Zeigefinger zu. Dabei hielt er sich an der Lehne fest, um das Gleichgewicht zu wahren. Bei der Berührung spürte er, dass sie bereits kalt war. Escher lächelte.

Er setzte sich in den Ohrensessel und genoss die vorgewärmte Freundlichkeit, mit der ihn das Möbelstück empfing. Was sollte mit der Leiche geschehen? Ihn graute davor, sie noch einmal zu berühren, und es erschien ihm unmöglich, eine andere Person mit der Angelegenheit zu behelligen. Er hätte auch nicht gewusst, an welche Stelle man sich in solchen Fällen wenden konnte, und ob es entsprechende Formalitäten gab. Also würde er ihre leblose Hülle auf den Holzdielen ruhen lassen.

Vor vielen Jahren hatte er sie mit der Droge bekannt gemacht. Ihr Tod war die Konsequenz aus dieser ersten Begegnung. Die Neugierde, der Rausch, und die Spannung beim Betreten exotischer Territorien waren schnell dem Sog einer Abhängigkeit gewichen. Die Flucht aus der Gewohnheit wurde zur Sucht, aber früher oder später besteht der einzige Sinn einer Sucht wieder aus der Gewohnheit, womit der Abhängige die leeren Räume seines Alltags füllt.

Da seine Mittelmäßigkeit endlich an einer Überdosis des Außergewöhnlichen krepiert war, überlegte Escher, wie er ihre verblichenen Überreste bestatten sollte. Ein unauffälliges Begräbnis ohne Trauergäste hätte ihr gefallen.

Plötzlich öffnete die am Boden liegende Mittelmäßigkeit für einen kaum wahrnehmbaren Moment ein Auge und zwinkerte ihm zu. Als sich ihre Blicke berührten, spürte Escher, wie ihre Anziehungskraft wuchs. Es schien ihr zu gelingen, das Magnetfeld wieder zu aktivieren. Escher würde sich eine gründlichere Methode ausdenken müssen. Aber er ahnte bereits, dass auch sein nächster Mord nicht der letzte sein würde.

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Montag, März 05, 2007

Die verschollene Zauberkastengebrauchsanleitung

Unter den wenigen Dingen, die Escher zu seinem Besitz zählte, befand sich ein Zauberkasten, den man ihm vor vielen Jahren auf einem Flohmarkt in Antwerpen überlassen hatte. Seither lag der Kasten unter dem Bett, wo die pelzige Staubschicht auf seinem Deckel ungestört wachsen konnte. Escher hatte den Zauberkasten nur einmal in geöffnetem Zustand gesehen, als ihm der vormalige Besitzer die Vielfalt des Inhalts anpries. Damals warf Escher flüchtige Blicke auf das Zaubereizubehör, während der Alte einige Gegenstände herausnahm und zwischen seinen knochigen Händen drehte, auf denen sich die Venen wie blaue Würmer abzeichneten.

Bei dem Zauberkasten handle es sich um eine außergewöhnliche Anfertigung aus dem vorletzten Jahrhundert, zischte der Alte durch vergilbte Zähne und sah Escher dabei aus schwarzen Glasperlen an, die zwischen den Furchen in seinem Gesicht glänzten und nur entfernt an Augen erinnerten.

Escher suchte nie Flohmärkte auf, er war zufällig in das Geschehen geraten. Als er sich zum Gehen wenden wollte, schlug der Alte seine Krallen in den Ärmel von Eschers Mantel. Er möge den Zauberkasten doch mitnehmen, krächzte der merkwürdige Vogel leise. Dabei kam seine gekrümmte Nase, die dem Schnabel einer Saatkrähe ähnlich war, Eschers Gesicht bedrohlich nahe. Verunsichert erwiderte Escher, er habe keinen Bedarf an Utensilien für Taschenspieler. Offenbar handle es sich um ein Missverständnis, zischte der Alte. Er wolle ihm kein Kinderspielzeug andrehen. Der Inhalt des Zauberkastens eröffne unglaubliche Möglichkeiten, sogar Menschen könne man damit verzaubern. Der einzige Nachteil sei, dass die Gebrauchsanleitung für die Zaubertricks abhanden gekommen war. Daher wolle er kein Geld für das antiquarische Stück, auch kein Stück von Eschers Seele, meinte der Alte zwinkernd, sondern es sei ein Geschenk, das man nicht ablehnen könne. Auch wenn ihm jetzt noch keine Verwendung in den Sinn käme, es würde der Tag kommen, an dem sich jeder einen Zauberkasten wünsche. Und wegen der fehlenden Gebrauchsanleitung solle sich Escher keine Sorgen machen. Man müsse experimentieren, irgendwann funktioniere jeder Trick. Escher wusste nicht, warum er den Kasten in seinen Händen hielt, als der Alte plötzlich verschwunden war. Die Saatkrähe schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

In der folgenden Nacht erlebte Escher einen Traum. Er war zur Halbmondfeier einer Zaubergilde geladen, wo jeder Anwesende seine Kunst vorführte. Als die Reihe an Escher war, öffnete er den Zauberkasten. Jeder Trick misslang. Die Ohren des Kaninchens ragten zu früh aus dem Zylinder, dann zog er die falsche Karte aus dem Stapel, und die goldene Armbanduhr des Zauberkollegen fiel zertrümmert aus dem Samtsäckchen. Der Auftritt schien trotzdem ein Erfolg zu werden, da Escher sein Scheitern in eine Methode verwandelte. Mit jedem Versagen wuchsen die Sympathien für den ungeschickten Zauberer. Das Publikum bog sich vor Lachen. Bis er den Trick mit der zersägten Jungfrau probierte.

Als Escher aus dem Traum erwachte, war er nicht bei Bewusstsein, sondern fand sich in einem anderen Traum wieder. Auch dort wachte er auf, aber erneut führte die Tür des Erwachens nur in einen weiteren Traum. Escher musste sich durch mehrere Schichten Schlaf an die Oberfläche wühlen, bis er ein letztes Mal die Augen aufschlug und die Welt auf jene Weise sah, wie sie im wachen Zustand zu sein schien.

Als Escher einen Blick unter sein Bett warf, bemerkte er, dass der Zauberkasten bereits von Staub bedeckt war, obwohl erst eine Nacht vergangen sein konnte, seit er der Saatkrähe begegnet war. In jener Nacht entschied Escher, dass er den Zauberkasten nie öffnen würde. Wozu sollte er Menschen verzaubern.

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Samstag, Januar 20, 2007

Ear-Esc

Der braune Blätterteppich unter seinen Stiefeln war aus morbiden Maschen geknüpft, aber inmitten der Verwesung gärte ein unsichtbarer Kampf um die abgestorbenen Zellen. In jedem Winkel der feindlichen Idylle lauerte Gewalt. Escher spürte die Anwesenheit von unzähligen Lebewesen auf engstem Raum. Alles zielte auf Wachstum und Ausdehnung, und jedes Dasein war von der Verdrängung des anderen Daseins bestimmt. Die einzigen Ziele bestanden darin, zu fressen und sich in der klebrigen Hitze fortzupflanzen. Tagsüber blieb das Lebendige hinter einem wachsamen Halbschlaf verborgen, aber sobald die Dämmerung über den Wald kroch, begann die Jagd. Dann spritzten aus Millionen Kehlen rote Schreie auf den Mantel der Nacht, dessen willkürliches Muster in den Schatten der Angst und des Todes pulsierte.

Seit Menschengedenken war die Begegnung mit der unberührten Natur ein romantischer Alptraum. Mit dem rostigen Buschmesser bahnte Escher seinen Weg in die Richtung, wo er den geografischen Mittelpunkt des Alptraums vermutete. Der Dschungel schloss die Schneise hinter ihm sofort, alles schien in einer fast sichtbaren Geschwindigkeit zu wachsen. Die Vegetation rächte sich für Verletzungen an ihren Organen, indem sie Pflanzenwände vor ihm auftürmte, die zunehmend dichter wucherten. Manchmal überkam ihn eine Ahnung, als ob er sich spiralförmig dem Zentrum des Urwaldes näherte.

Escher folgte einem Phantom. Seine Landkarte war aus verschwommenen Vermutungen gezeichnet, und Magnetfelder schienen den Kompass zu stören, denn die Nadel drehte sich unablässig im Kreis. Noch keiner Expedition war es gelungen, die Existenz des sagenhaften Falters zu beweisen. Es sollte sich um eine Art von unvergleichbaren Ausmaßen handeln. In Fachkreisen wurde berichtet, dass seine Flügel eine Spannweite von mehreren Metern aufwiesen und mit Mustern gezeichnet waren, die beim Betrachten Trugbilder und Rauschzustände hervorrufen konnten. Die Beschreibungen waren jedoch unscharf und widersprüchlich in den Details. Einige Sammler behaupteten, dass sie ein Exemplar gesehen hatten, aber keinem war es gelungen, das Tier in einem Netz zu fangen, um es anschließend zu präparieren. Angeblich konnte man den seltenen Falter nur entdecken, wenn man den Glauben an seine Existenz nicht verlor. Eschers Reisequalen mündeten in einem Dauerzustand maßloser Erschöpfung, aber es gelang ihm, sich einen glaubwürdigen Rest Hoffnung zu bewahren.

Die von Mückenstichen ausgebeulte Hülle seiner Haut schien mit Gelatine gefüllt, in den Poren entsprangen salzige Rinnsale. Eine ölige Schweißschicht bedeckte seinen Körper, die Innenflächen seiner Hände und die Fußsohlen waren aufgeweicht, wie nach einem stundenlangen Bad. Mit jedem Schritt erzeugte er schmatzende Geräusche in seinen Stiefeln. Die Luftfeuchtigkeit ließ den Atem in seinen Lungen brennen. Mehrere Hautstellen hatte er sich an der Kleidung wund gerieben. Im tropischen Klima begann die kleinste, scheinbar harmlose Verletzung bereits nach wenigen Stunden zu eitern. Nichts verheilte.

Resignation beschlich den Reisenden wie ein exotisches Fieber, das jede Wahrnehmung trübte und verfälschte. Nur die Befürchtung, dass es ihm nicht gelingen könnte, einen Ausweg zu finden, hinderte Escher daran, seine Expedition abzubrechen. In einem Moment der größten 0rientierungslosigkeit und Verzweiflung geschah das Unerwartete. Nach einem steilen Anstieg hatte sich der grüne Vorhang gelichtet, und anstelle von dichtem Unterholz wandelte er seit Sonnenaufgang in einem Nebelwald zwischen uralten Baumriesen.

Seine Nahrungsrationen waren im Verlauf der Reise auf ein symbolisches Maß geschrumpft, und er zerkaute die Hälfte einer Sojabohne, die er zuvor mit dem Taschenmesser in zwei Teile geschnitten hatte. Während der Mahlzeit saß Escher auf einer Luftwurzel und spürte kühles Moos durch den Stoff seiner Hose. Plötzlich vernahm er ein flatterndes Geräusch in den Baumkronen. Er legte den Kopf in den Nacken, und alles, was ihm jemals widerfahren war, verschwand in den dunkelsten Abgründen der Vergessenheit.

Escher besaß keine Erinnerung daran, wie er den Weg zurück in eine Welt gefunden hatte, die ihm vertraut erschien. Er wusste auch nicht, wie viel Zeit seit der Expedition vergangen war. Sein Bett war mit weißem Leintuch bezogen, an der Zimmerdecke drehte sich ein Ventilator in Zeitlupe. Auf einem Tisch neben dem Bett lag der einzelne Band einer Enzyklopädie. Ear-Esc.

Als er das ledergebundene Buch an der entsprechenden Stelle aufschlug, erblickte Escher das Bild eines präparierten Körpers. Der männliche Leib war fachgerecht, mit weit abgespreizten Gliedmaßen auf eine Nadel gespießt und exakt auf dem Untergrund fixiert worden, indem man die Wirbelsäule durchbohrt hatte. Die Augen des Objekts traten ein wenig zu weit hervor, aber ansonsten handelte es sich um eine ausgezeichnete Arbeit.

Als er das ungewöhnliche Geräusch vernahm, starrte Escher wie hypnotisiert auf den schwebenden Umriss im Türrahmen. Vor dem Fenster flatterte ein riesiger Schatten vorbei. Schlagartig kehrte die Erinnerung zurück.

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Freitag, Dezember 01, 2006

Die Buddelschiffflotte

Obwohl es ihm an nichts fehlte, spielte Escher mit dem Gedanken an eine schöpferische Tätigkeit. Außerhalb seines beruflichen Daseins verbrachte er die meiste Zeit des geregelten Alltags im Ohrensessel. Mit jenem rasanten Gefährt bereiste er sämtliche Klimazonen in der Welt seiner entlegensten Vorstellung. Durch das Schließen der Augen drehte Escher den Zündschlüssel. Der Ohrensessel vibrierte leicht beim Starten und erreichte kurz darauf die erforderliche Betriebstemperatur. Für die Beschleunigung von Null auf jede gewünschte Reisegeschwindigkeit benötigte das Vehikel nur den Bruchteil eines Gedankens.

Nach einer entbehrungsreichen Expedition an den Rand seiner Vorstellung, hinter dem keine Himmelsrichtung mehr auszumachen war und das Nichts keine Farbe mehr besaß, verspürte Escher die Sehnsucht nach etwas Bleibendem. Während er in sein Wohnzimmer zurückkehrte, kam der Ohrensessel langsam zum Stillstand. Escher füllte die Leere im Raum mit suchenden Blicken. Er sah sich selbst mit keinerlei künstlerischer oder handwerklicher Begabung ausgestattet, und so erwiesen sich seine Überlegungen zur Schaffung eines bleibenden Wertes als mühsam.

Einer der Blicke blieb an der zur Hälfte geleerten Rotweinflasche auf dem Nierentisch hängen. Sein Mund folgte dem Blick, und nachdem die Flasche trocken war, wusste Escher, wie er seine schöpferische Kraft entfalten konnte, um etwas Bleibendes zu schaffen. Er besorgte sich mechanische Werkzeuge und viele Streichholzpackungen. Die dunkelgrüne Rotweinflasche war ein ungewöhnlicher Ort, um ein Buddelschiff zu beherbergen. Aber das Leeren einer Weißweinflasche hätte seine Konzentration geschwächt, und das grüne Licht im Inneren der Rotweinflasche förderte die schöpferische Stimmung.

Ungezählte Nächte arbeitete Escher an dem Buddelschiff. Endlich stand der stolze Viermaster mit gehissten Segeln in der Flasche. Auf dem Vorderdeck des Schiffes saß ein Seemann, der aus einem Streichholz geschnitzt war und ein Buddelschiff in seinen Händen hielt, denn Escher hatte eine winzige Flasche aus grünem Glas geschaffen und in die Hände des Seemanns gelegt. In der winzigen Flasche befand sich ein weiteres Buddelschiff. Auf dem Vorderdeck des Schiffes im Schiff saß ein weiterer Seemann.

Auf dem Weg zum Altglascontainer erinnerte sich Escher nicht mehr, wie viele Buddelschiffe in Buddelschiffen sich in der Rotweinflasche befanden. Jahrelang hatte er jedes Mal, wenn er einen Seemann mit einem Schiff im Schiff des Seemanns vollendet hatte, einen weiteren Seemann mit einem Schiff in das Schiff des Seemanns mit einem Schiff gesetzt.

Unhörbar leise klirrte es in der Plastiktüte bei jeder Bewegung. Als Escher die Flasche durch die Öffnung für grünes Glas in den Container werfen wollte, hielt er inne. Vorsichtig legte er das Buddelschiff zurück in die Tüte. Dann setzte Escher seinen Weg fort und ging zum Fluss, wo er die Rotweinflasche mit einem Korken verschloss und auf eine der sanften Wellen setzte. Während er dem Behälter seiner Hoffnung auf etwas Bleibendes hinterher sah, wurde ihm bewusst, dass es Bruchstücke seiner Lebenszeit waren, die auf der braunen Brühe in Richtung größerer Gewässer trieben.

Die Buddelschiffflotte erreichte den Horizont nie, sondern zerbrach an einem Brückenpfeiler und landete auf dem Schiffsfriedhof zwischen anderem Unrat im Flussschlamm. Escher blieben die bleibenden Werte verschlossen, aber er hatte sein Wissen über die Tiefe der Vergänglichkeit vertieft.

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