Dienstag, August 31, 2010

Sehr geehrte Reklameverteilermafia,

Altpapier sammeln ist im Sinne des nachhaltigen Umgangs mit Ressourcen eine folgerichtige Tätigkeit. Nur sollte vor der Entsorgung und Wiederaufbereitung von Drucksachen eine Nutzung erfolgen, die mindestens in der oberflächlichen Wahrnehmung der Inhalte besteht.

Über einen entsprechenden Hinweis, Signalfarbe Rot, an meinem Briefkasten bringe ich deutlich zum Ausdruck, dass ich keine Zustellung von Werbeprospekten oder Wurfsendungen wünsche und diesen Erzeugnissen - Sie ahnen es bereits - auch keine inhaltliche Aufmerksamkeit widme. Reklame, die bestenfalls Aggressionen gegenüber dem Absender erzeugt, verkehrt ihren Zweck ins Gegenteil und bedeutet eine Fehlinvestition für Ihre Auftraggeber, liebe Reklameverteilermafia.

Zufällig kam ich vorgestern hinzu, als einer Ihrer Mitarbeiter stapelweise Prospekte in meinen Briefkasten stopfte. Da ich über einen Grundrespekt für nahezu jede Art von Arbeit verfüge, wies ich ihn freundlich auf das Schild, Signalfarbe Rot, an meinem Briefkasten hin und bat um Abbruch der Zustellung. Er blickte mich verständnislos an. Der Mann kam aus einem fernen Morgenland und erweckte nicht den Eindruck, als wäre sein Salär ausreichend, um sich wenigstens alle zwei Tage einen halben Teller Reis oder einmal im Leben ein neues Paar Turnschuhe zu leisten. Es stellte sich heraus, dass der Mann kein Deutsch sowie Englisch nur rudimentär verstand, aber seine Bemühungen um eine Verständigung mittels theatralischer Gestik waren rührend.

Vermutlich werden Sie diese unerwünschte Beschwerde nicht lesen, bevor ich sie in dreihundertfacher Kopie in Ihrem Briefkasten deponiere, aber wenn Sie Ihre ausgebeuteten Mitarbeiter schon dem Missmut der Empfänger von unerwünschter Werbung ausliefern, könnten Sie zumindest einen Sprachkurs spendieren! Das wäre sogar Teil Ihrer Fürsorgepflicht, denn ich kann Ihnen versichern, dass in meiner Nachbarschaft nicht jeder so freundlich ist wie ich.

Mit reklamierenden Grüßen,
mq

Freitag, August 27, 2010

Voodoo Display #29

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Sonntag, August 22, 2010

Vom Rotlicht zum Dom

Am Wochenende fand wieder das jährliche Straßenfest im Frankfurter Bahnhofsviertel statt. Inzwischen fast zur Tradition geworden, standen nächtliche Führungen auf den Spuren der Nitribitt und offene Türen zu einschlägigen Etablissements wie dem Festsaal der Freimaurerloge auf dem Programm. Die langen Nächte sollten belegen, dass unser Rotlichtviertel friedlicher ist als sein Ruf. Tatsächlich befand sich ein Stand der Hells Angels, an dem Merchandising Outfit feilgeboten wurde, in friedlicher Nachbarschaft zur Scientology Außenstelle.



Allerdings war erst auf den zweiten Blick zu erkennen, dass es sich bei der Drogenkampagne um eine Aktion von Scientology handelte. Ob dabei Rekrutierungsmaßnahmen im Mittelpunkt standen, kann ich nicht beurteilen, mir fehlte die Lust auf bizarre Unterhaltungen.


(Ausschnitt, Vergrößerung)

Pünktlich zum Festauftakt im Bahnhofsviertel gab es übrigens am Freitag eine Schießerei vor einem der Bordelle in der Elbestraße. Der Zwischenfall verlief aber weitgehend friedlich, ein Verletzter lieferte sich Stunden später mit einer Schusswunde am Arm selbst in der Notaufnahme ein.


Aussicht vom Domturm in 75 m Höhe

Und nach elfjährigen Sanierungsarbeiten wurden die Bauarbeiten am Kaiserdom abgeschlossen. Seit gestern kann man über 328 Stufen wieder auf den Domturm steigen, um sich einen friedlichen Rundblick über die Stadt zu verschaffen.

Freitag, August 20, 2010

Sehr geehrte Langeweile,

du bist für mich nicht mehr als ein inhaltsloser Begriff, der auf sich selbst referenziert. Deine Erwähnung erzeugt aus lautmalerischen Gründen bisweilen ein Gaumenkitzeln, das zum Gähnen eskalieren kann, aber ich erinnere mich an keine Situation, die meinem Erfahrungsvorrat dein wundersames Gefühl hinzugefügt hätte.

Seit früher Kindheit, ich könnte beinahe behaupten, seit dem Säuglingsalter, bin ich pausenlos beschäftigt. Es gab immer aufregende Dinge zu tun, ob es sich um die Nährstoffzufuhr handelte, man auf einem Baum herumsaß und Ameisen beobachtete, sich mit Hilfe eines Chemiebaukastens den Pelz versengte, beim Angeln die Wolken zählte und Geschichten erfand oder zum wiederholten Mal die gesammelten Werke von Georges Simenon las. Ein Gefühl des Nichtstuns kam auch bei den nichtigsten Tätigkeiten nicht auf, und wenn man tatsächlich einmal nichts tat, erzeugte dieser Zustand der Leere keine Langeweile, sondern Erfüllung.

- Was bedeutet diese lange Weile?
fragte ich und machte mich auf die Suche nach dir. Dabei kam ich mir vor wie der Typ in Grimms Märchen, der auszog, um das Fürchten zu lernen. Allerdings ging es bei mir darum, die Langeweile zu lernen, und ausziehen wollte ich dafür auch nicht. Ich kann dir sagen, es ist überhaupt nicht einfach, sich mit einem spannenden Thema wie dir zu beschäftigen und sich dabei gleichzeitig zu langweilen.

Zunächst versuchte ich es mit TV. Ursprünglich hatte ich nicht damit aufgehört, weil ich es langweilig fand, sondern weil der überwiegende Teil des Programms schlichtweg saudumm ist und es mir irgendwann zu mühsam erschien, die wenigen brauchbaren Sendungen aus dem saudummen Rest herauszufiltern. Fehlanzeige. Selbst die allersaudümmsten Sendungen sind nicht langweilig. Wenn zum Beispiel jemand für eine Familie aus lauter Intelligenzbolzen eine grässliche Wohnung renoviert, so dass sie hinterher noch grässlicher ist oder die Intelligenzbolzen in trostlose Landstriche wie Alaska, wahlweise Palma de Mallorca auswandern, dann zogen mich gerade diese allersaudümmsten Sendungen umgehend in ihren zeitvernichtenden Bann.

Wo hätte ich dich noch entdecken können? Man sagte mir, längere Auto-, Bus-, Zug- oder Flugreisen seien mitunter langweilig, aber das kann ich ausschließen, denn nichts, was mich oder meine Außenwelt in Bewegung versetzt, könnte mir langweilig werden. Wenn das Interesse beim Blick aus dem Fenster auf vorbeifliegende Landschaften nachlässt, wartet eine Vielzahl von anderen Beschäftigungen. Man kann sich über die Notwendigkeit von kilometerlangen Absperrungen auf Autobahnen ohne erkennbare Baumaßnahmen wundern oder überlegen, von welchem Tropenfieber der Kommunikationsdesigner beim Entwurf der Kotztüten befallen war.

Große Hoffnung setzte ich in den Besuch von Vernissagen. Dort sollte es an langweiligen Menschen und Gelegenheiten nicht mangeln, so sagte man mir. Aber wieder wurde ich enttäuscht. Je abstoßender und miserabler übrigens die Kunst auf einer Vernissage, desto schöner die Frauen im Publikum. Das ist eine grobe Faustregel und ein Erkenntnisgewinn, der quasi als wissenschaftliches Abfallprodukt entstand.

Liebe Langeweile, es scheint dich einfach nicht zu geben, du bleibst ein Mythos. Man kreide es mir als emotionales Defizit an, aber ich kann auch dem größten Stumpfsinn noch ein Interesse abgewinnen. Solltest du dich aber doch irgendwo da draußen verstecken, hoffe ich, dich mit diesem Schreiben nicht allzu sehr gelangweilt zu haben.

Mit weiterhin gespannten Grüßen,
mq

Donnerstag, August 19, 2010

Farbfotos vom innersten Subkontinent

Nach seiner Reise durch den innersten Subkontinent, die er weder abgeschlossen noch jemals begonnen hatte, wähnte sich Escher zurück in der angestammten Umgebung. Er war nie weg gewesen, aber seine Rückkehr erfüllte ihn mit einer Mixtur aus Erleichterung und verhaltener Zuversicht. Dieses Gefühl beschlich Escher nicht ohne Ankündigung, unerwartete Veränderungen besaßen die Eigenschaft, dass er sie vor ihrem Eintreten wahrnahm und verhindern konnte. Dafür besaß er ein verlässliches Gespür. Escher hatte sämtliche Konstellationen auf dem Schachbrett seines Kosmos im Blick, und beim Spiel gegen sich selbst blieb er am Ende immer Sieger und Verlierer. Sobald sein Gegenspieler, also er selbst, eine Figur berührte, kannte Escher seine Absicht und alle möglichen Züge, um darauf zu reagieren. Es gab keinen falschen Zug, denn er nutzte die eigenen Fehler gnadenlos, um sich zu besiegen.
Aus der sicheren Stellung seines Ohrensessels sah Escher in die Ecke des Zimmers, wo der Koffer stand und bedrohlich den Geruch von feuchtem Leder verströmte. Irgendwann müsste er das Ungetüm auspacken, dieses Ritual gehörte zu jeder Reise. Aber die Vorstellung, dass er den Koffer öffnen würde und dort läge er, Escher, gekrümmt in den staubigen Kleidern, die er während seiner Reise getragen hatte und blickte ihm, Escher, erwartungsvoll entgegen, hielt ihn von diesem Vorhaben ab.
Er verwarf den Gedanken und ging zum Briefkasten, um nachzusehen, ob die Postkarte mit den Farbfotos vom innersten Subkontinent bereits eingetroffen war. Aber irgendwann, vielleicht schon bald, würde er sich auspacken und aufräumen.

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Mittwoch, August 18, 2010

Motto #29

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Montag, August 16, 2010

Früher war alles schlechter

Wer behauptet, früher sei manches besser gewesen, soll doch rübergehen, in die Vergangenheit, in jenes Früher. "Dann geh doch rüber": Das wurde früher zu Leuten gesagt, die auf soziale Ungerechtigkeiten hingewiesen haben, mit "rüber" war die DDR (Deutsche Demokratische Republik, noch so ein unappetitlicher Begriff von früher) gemeint. Heute weiß niemand mehr, was dieser Spruch "Geh doch rüber" bedeutet, weil es kein drüben mehr gibt.

Früher gab es eine Weltatomkriegsbedrohung. Nuklearwaffen gibt es immer noch reichlich, aber fragen Sie mal in Ihrem Bekanntenkreis, wer Angst vor einem Atomkrieg hat. Kriege gibt es auch noch reichlich, nur haben wir uns an den Gedanken gewöhnt, dass bewaffnete Auseinandersetzungen weit entfernt vom heimischen Kabelanschluss stattfinden. Und ob irgendwelche Schurkenstaaten Atombomben basteln, taugt kaum noch als Nachrichtenfüllmasse fürs Sommerloch.

Früher hatten die Telefone Wählscheiben und Kabel und waren mausgrau. Was war daran bitteschön besser? Flüge waren unerschwinglich. Im Internet gab es nichts zu sehen, weil es noch keine Computer gab, und im TV lief Dalli Dalli. Auch Prilblumen, Stretchjeans und die ganzen anderen Nostalgie-Ikonen, die in zeitlichen Amplituden unsere Gegenwartsoptik verseuchen, machen früher nicht besser. Nichts aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Kultur oder Sport war früher besser - außer vielleicht die Eintracht mit Jürgen Grabowski, aber auch nicht in jeder Hinsicht. An manchen Unterhaltungswert erinnert man sich ebenso schmunzelnd (FJ Strauß, R4, Walkman), wie man sich vielleicht in ferner Zukunft an die heutigen Unterhaltungswerte (Westerwelle, iKram) erinnern wird.

Die Leute erinnern sich mit zunehmendem Alter gerne an früher, entweder weil das Arsenal der Erfahrungen eine wachsende Auswahl bietet, oder weil sie gerne von vorne beginnen würden. Wenn du von vorne beginnen willst, bestimme zunächst deinen Standort und stelle fest, wo sich vorne befindet. Nach dem ersten Schritt liegt vorne hinten, aber - selbst im Rückwärtsgang - niemals umgekehrt. Heute ist vieles gut. Morgen wird alles besser.

Donnerstag, August 12, 2010

Clogs

Kürzlich wurde im Beitrag eines Nachrichtenmagazins ein Herr, dessen Namen ich sofort wieder vergessen habe, mit der Behauptung zitiert, dass ein Mann nur Sandalen tragen dürfe, wenn er der Sohn Gottes sei. Ich fragte mich sofort, wie sich dieser Herr über einen Mann äußern würde, der Clogs trägt.

Vermutlich wäre unter den Augen der stilkritischen Öffentlichkeit nur Gott höchstpersönlich oder seinen Medizinmannkollegen das Tragen von Clogs gestattet. Zwar nicht Gott, aber ein nahezu ebenso beeindruckender Clogsträger war mein Französischlehrer auf jenem humanistischen Gymnasium Anfang der 1980er Jahre. Er besaß eine Mobylette, auf der er täglich, ausgestattet mit einem langen, schwarzen Ledermantel, einer Sturmhaube, einer Fliegerbrille (WK II) und einem wetterabweisenden Vollbart zur Hölle fuhr.

Aber das Beste waren seine nietenbeschlagenen Clogs, mit denen er über die Linoleumflure klackerte, während sich seine Silhouette auf der Oberfläche des Bodens bedrohlich spiegelte. Diese Ungetüme aus Holz und Leder besaßen einen fetten Wulst, der sich über dem Spann wölbte. Ich habe sowas später nie wieder gesehen.

Mit zunehmendem Alter erscheinen die meisten Stilfragen ebenso lächerlich wie die unterschiedlichen Antworten darauf, und so entschloss ich mich vor einigen Jahren zum Kauf dieses hinterorientalisch anmutenden Schuhwerks. Damals erfüllte ich mir einen Alptraum, und auch wenn sie keinen fetten Wulst besitzen, sind meine Clogs immerhin nietenbeschlagen.

Dieses martialische Geräusch, wenn die Holzfersen auf den Asphalt schlagen, könnte Springerstiefeln das Fürchten lehren und bringt sogar die Teenies zum Verstummen, die immer vor dem Haus herumlungern. Neulich murmelte eine Nachbarin, die mich ansonsten grundsätzlich nicht grüßt, im Vorbeischlurfen: "Tolle Schuhe". Es klang irgendwie verächtlich, und darüber habe ich mich ganz besonders gefreut. In Zukunft werde ich sie noch freundlicher grüßen.