Bildungsreise im Lastenaufzug
Wenn Escher Akten aus fremden Abteilungen benötigte, bereiste er die entlegenen Stockwerke des Amtsgebäudes mit Hilfe eines Paternosters. Am Vormittag eines glutheißen Tages im August musste er der handschriftlichen Information auf einem Schild entnehmen, dass der Paternoster wegen einer Störung außer Betrieb war. Die sorgfältige und zugleich energische Schrift ermöglichte eindeutige Rückschlüsse auf die Zuverlässigkeit des Verfassers.
Trotzdem steckte Escher seinen Kopf kurz in den stillen Schacht. Er vernahm gedämpfte Stimmen aus einem anderen Stockwerk, aber vom Summen der in belebten Zeiten auf-, und absteigenden Plattformen war nichts zu hören. Der Paternoster war ein abgestorbenes Organ im mechanischen Eingeweide des Gebäudes.
- Nehmen Sie doch den Lastenaufzug,
hörte er die mit einem Kehlkopfmikrofon erzeugte Stimme hinter sich krächzen. Obwohl ihm die Stimme vertraut war, erschrak Escher bei seiner Kontemplation in Sachen Paternoster-Problematik. Als er sich umdrehte, sah er gerade noch den grauen Rücken seines Vorgesetzten um die Ecke biegen.
Der Lastenaufzug. Er befand sich direkt neben dem Paternoster, und noch nie war es Escher in den Sinn gekommen, einen Fuß in dieses monströse Beförderungsmittel zu setzen.
Ohne den Inhalt der Akten zu kennen, wusste er von seinem Vorgesetzten um die Dringlichkeit der Bearbeitung. Es handelte sich um eine Dienstanweisung von ganz oben.
Er hätte den Weg zum fünf Stockwerke tiefer liegenden Standort der Akten über das Treppenhaus bewältigen können, aber der Rückweg mit den schweren Ordnern voller Papier hätte seine Konstitution unverhältnismäßig strapaziert.
Der auf ihm lastende Aktenbearbeitungsdruck führte zu Eschers Erwägung, tatsächlich den Lastenaufzug zu benutzen. Vorsichtig strich er über den nach unten zeigenden Pfeil, und noch bevor er sich versah, hatte er den Knopf gedrückt. Es passierte wie versehentlich, aber vor sich selbst hätte er weder seine versteckte Absicht, noch die Neugier auf eine außergewöhnliche Erfahrung leugnen können. Die Entscheidung war gefallen, es gab kaum mehr ein Zurück. Irgendwo im Inneren des Schachts setzten sich die Stahlseiltentakel des Monstrums in Bewegung.
In den Lack der Beförderungskabine hatte jemand ordinäre Bezeichnungen für weibliche Geschlechtsorgane geritzt. Escher wurde mulmig, er warf einen Blick auf seine Uhr. Nachdem er den Knopf mit der gewünschten Zielangabe gedrückt hatte, setzte sich der Fahrstuhl mit einem Ruck in Bewegung.
Die Kabine war zur Hälfte mit Kartons gefüllt, die man bis unter die Decke gestapelt hatte. Im Neonlicht las Escher die Beschriftungen. In den Kartons befanden sich offenbar Lebensmittel.
Die Fahrt schien kein Ende zu nehmen. Da die Stockwerkanzeige über der Tür ausgefallen war, hatte Escher keine Orientierung hinsichtlich seiner vertikalen Position. Eine nervöse Unruhe machte sich in ihm breit. Seine Armbanduhr war ausgefallen, und der Fahrstuhl bewegte sich mit einer bedrohlichen Langsamkeit abwärts. In Eschers inneren Uhr verstrichen die Minuten, die Stunden. Der Lastenaufzug verfügte über keinen Notruf.
Escher hatte eine Weile in der Ecke gekauert, als er einen gewaltigen Appetit verspürte. Durch das Anstarren der Beschriftungen auf den Kartons wuchs der Appetit, und irgendwann entschloss er sich, eine der Verpackungen zu öffnen. Dabei kippte ein Stapel Kartons zur Seite und gab den Blick auf ein Fenster frei, das in der Seitenwand des Lastenaufzugs eingelassen war. Vor dem Fenster zog eine tropische Landschaft in der mittleren Reisegeschwindigkeit eines D-Zuges vorbei. Das Fenster ließ sich allerdings nicht öffnen, und die senkrechte Bewegung des Fahrstuhls stand keineswegs im Einklang zur waagrecht vorbeiziehenden Tropenlandschaft. Nach einer kurzen Übelkeit gewöhnte sich Escher an das ungewöhnliche Fahrgefühl. Im Lastenaufzug wurde es warm, Kondenswassertropfen rannen über den zerkratzten Lack.
Schwitzend räumte Escher die Kartons zur Seite, darunter entdeckte er ein frisch bezogenes Feldbett. In der hinteren Ecke befand sich eine unverschmutzte Toilette. Vor dem Fenster ging in diesem Moment eine tropische Sonne unter, und nachdem Escher das Naturspektakel beobachtet hatte, legte er sich schlafen.
Sieben Mal ging die Sonne auf und wieder unter. Escher bediente sich vom schmackhaften Inhalt der Kartons und legte sich bei Einbruch der Nacht auf dem Feldbett zur Ruhe. Leider konnte man das Neonlicht in der Kabine nicht abschalten. An jedem neuen Tag zog vor dem Fenster ein anderes imposantes Bauwerk vorbei. Einem Reiseführer, den er unter der Matratze entdeckt hatte, entnahm Escher, dass es sich bei den Bauwerken um die sieben Weltwunder der Antike handelte: die Pyramiden von Gizeh, die Zeusstatue des Phidias, den Artemis-Tempel, das Grabmal von Mausolos, die Hängenden Gärten von Babylon, den Koloss von Rhodos, und der Kreis schloss sich beim Leuchtturm von Pharos. Eschers Befindlichkeit verbesserte sich beständig, denn er war sich der Einzigartigkeit der Reise bewusst. In der letzten Nacht stoppte der Lastenaufzug plötzlich, und die Tür öffnete sich.
Beim Verlassen der Kabine warf Escher einen Blick auf seine Armbanduhr. Er stellte fest, dass die Zeitmessung wieder funktionierte. Seit Beginn seiner Reise waren sechsundfünfzig Sekunden vergangen. Wie nach einer längeren Seereise, hatte er ein Gefühl, als ob der feste Boden unter seinen Füßen schwankte. Auf dem Weg zurück in sein Büro entschied sich Escher, trotz der konstitutionellen Verausgabung, ohne das geringste Zögern für die Treppen.
Die Bearbeitung der Akten erfolgte ordnungsgemäß und rechtzeitig. Der Paternoster wurde nie wieder instand gesetzt, und Eschers körperliche Ausdauer verbesserte sich mit jeder neuen Woche.
Trotzdem steckte Escher seinen Kopf kurz in den stillen Schacht. Er vernahm gedämpfte Stimmen aus einem anderen Stockwerk, aber vom Summen der in belebten Zeiten auf-, und absteigenden Plattformen war nichts zu hören. Der Paternoster war ein abgestorbenes Organ im mechanischen Eingeweide des Gebäudes.
- Nehmen Sie doch den Lastenaufzug,
hörte er die mit einem Kehlkopfmikrofon erzeugte Stimme hinter sich krächzen. Obwohl ihm die Stimme vertraut war, erschrak Escher bei seiner Kontemplation in Sachen Paternoster-Problematik. Als er sich umdrehte, sah er gerade noch den grauen Rücken seines Vorgesetzten um die Ecke biegen.
Der Lastenaufzug. Er befand sich direkt neben dem Paternoster, und noch nie war es Escher in den Sinn gekommen, einen Fuß in dieses monströse Beförderungsmittel zu setzen.
Ohne den Inhalt der Akten zu kennen, wusste er von seinem Vorgesetzten um die Dringlichkeit der Bearbeitung. Es handelte sich um eine Dienstanweisung von ganz oben.
Er hätte den Weg zum fünf Stockwerke tiefer liegenden Standort der Akten über das Treppenhaus bewältigen können, aber der Rückweg mit den schweren Ordnern voller Papier hätte seine Konstitution unverhältnismäßig strapaziert.
Der auf ihm lastende Aktenbearbeitungsdruck führte zu Eschers Erwägung, tatsächlich den Lastenaufzug zu benutzen. Vorsichtig strich er über den nach unten zeigenden Pfeil, und noch bevor er sich versah, hatte er den Knopf gedrückt. Es passierte wie versehentlich, aber vor sich selbst hätte er weder seine versteckte Absicht, noch die Neugier auf eine außergewöhnliche Erfahrung leugnen können. Die Entscheidung war gefallen, es gab kaum mehr ein Zurück. Irgendwo im Inneren des Schachts setzten sich die Stahlseiltentakel des Monstrums in Bewegung.
In den Lack der Beförderungskabine hatte jemand ordinäre Bezeichnungen für weibliche Geschlechtsorgane geritzt. Escher wurde mulmig, er warf einen Blick auf seine Uhr. Nachdem er den Knopf mit der gewünschten Zielangabe gedrückt hatte, setzte sich der Fahrstuhl mit einem Ruck in Bewegung.
Die Kabine war zur Hälfte mit Kartons gefüllt, die man bis unter die Decke gestapelt hatte. Im Neonlicht las Escher die Beschriftungen. In den Kartons befanden sich offenbar Lebensmittel.
Die Fahrt schien kein Ende zu nehmen. Da die Stockwerkanzeige über der Tür ausgefallen war, hatte Escher keine Orientierung hinsichtlich seiner vertikalen Position. Eine nervöse Unruhe machte sich in ihm breit. Seine Armbanduhr war ausgefallen, und der Fahrstuhl bewegte sich mit einer bedrohlichen Langsamkeit abwärts. In Eschers inneren Uhr verstrichen die Minuten, die Stunden. Der Lastenaufzug verfügte über keinen Notruf.
Escher hatte eine Weile in der Ecke gekauert, als er einen gewaltigen Appetit verspürte. Durch das Anstarren der Beschriftungen auf den Kartons wuchs der Appetit, und irgendwann entschloss er sich, eine der Verpackungen zu öffnen. Dabei kippte ein Stapel Kartons zur Seite und gab den Blick auf ein Fenster frei, das in der Seitenwand des Lastenaufzugs eingelassen war. Vor dem Fenster zog eine tropische Landschaft in der mittleren Reisegeschwindigkeit eines D-Zuges vorbei. Das Fenster ließ sich allerdings nicht öffnen, und die senkrechte Bewegung des Fahrstuhls stand keineswegs im Einklang zur waagrecht vorbeiziehenden Tropenlandschaft. Nach einer kurzen Übelkeit gewöhnte sich Escher an das ungewöhnliche Fahrgefühl. Im Lastenaufzug wurde es warm, Kondenswassertropfen rannen über den zerkratzten Lack.
Schwitzend räumte Escher die Kartons zur Seite, darunter entdeckte er ein frisch bezogenes Feldbett. In der hinteren Ecke befand sich eine unverschmutzte Toilette. Vor dem Fenster ging in diesem Moment eine tropische Sonne unter, und nachdem Escher das Naturspektakel beobachtet hatte, legte er sich schlafen.
Sieben Mal ging die Sonne auf und wieder unter. Escher bediente sich vom schmackhaften Inhalt der Kartons und legte sich bei Einbruch der Nacht auf dem Feldbett zur Ruhe. Leider konnte man das Neonlicht in der Kabine nicht abschalten. An jedem neuen Tag zog vor dem Fenster ein anderes imposantes Bauwerk vorbei. Einem Reiseführer, den er unter der Matratze entdeckt hatte, entnahm Escher, dass es sich bei den Bauwerken um die sieben Weltwunder der Antike handelte: die Pyramiden von Gizeh, die Zeusstatue des Phidias, den Artemis-Tempel, das Grabmal von Mausolos, die Hängenden Gärten von Babylon, den Koloss von Rhodos, und der Kreis schloss sich beim Leuchtturm von Pharos. Eschers Befindlichkeit verbesserte sich beständig, denn er war sich der Einzigartigkeit der Reise bewusst. In der letzten Nacht stoppte der Lastenaufzug plötzlich, und die Tür öffnete sich.
Beim Verlassen der Kabine warf Escher einen Blick auf seine Armbanduhr. Er stellte fest, dass die Zeitmessung wieder funktionierte. Seit Beginn seiner Reise waren sechsundfünfzig Sekunden vergangen. Wie nach einer längeren Seereise, hatte er ein Gefühl, als ob der feste Boden unter seinen Füßen schwankte. Auf dem Weg zurück in sein Büro entschied sich Escher, trotz der konstitutionellen Verausgabung, ohne das geringste Zögern für die Treppen.
Die Bearbeitung der Akten erfolgte ordnungsgemäß und rechtzeitig. Der Paternoster wurde nie wieder instand gesetzt, und Eschers körperliche Ausdauer verbesserte sich mit jeder neuen Woche.
Labels: Escher
8 Comments:
Ich bin total begeistert. Man sieht die Situation plastisch vor sich. Wenn Du mal ein Buch schreibst, the secret life of Escher, kauf ich es sofort. "Der Paternoster war ein abgestorbenes Organ im mechanischen Eingeweide des Gebäudes." Geil.
Noch was: Escher wird doch wohl nicht Mut fassen und sein Leben aktiv in die Hand nehmen? Das ist ja'n Ding.
Opa ist ganz beim langen Steini. Er wird aber nicht jedesmal etwas sagen. Für alle künftigen Fälle.
Lieber Steini, merci für die Blumen.
Eigeninitiative kann ich bei Escher nicht erkennen, denn ich sehe ihn bisher nur auf dünnem Eis durch die Ereignisse schlittern. Aber vielleicht wird er uns eines Tages noch eines Besseren belehren.
Und: Bücher, die man lesen sollte, gehen nicht zur Neige - da muss ich die Welt nicht komplizierter machen, als sie ist.
Opa, du gereichst mir schon zur Freude, solange es dir gut geht in deinem Piratennest.
Die Story erinnert mich an die Aussage meines Vaters zum Thema Kiffen:
"Einmal und nie wieder, denn es war schöner als Urlaub!"
Und auch wenn sie die Welt nicht komplizierter machen wollen, ich hoffe trotzdem auf ein Escherbuch. Manchen würde vielleicht das eigene Leben dann weniger kompliziert erscheinen...:-)
Was war denn das für ein Kraut? Es gibt keinen schöneren Urlaub als einen klaren Kopf.
Mal wieder zu spät hier.
Mal wieder eine großartige Geschichte (genau wie das Nerkolog). Wie kommst du nur auf solche abgedrehte Sachen..und das in diesem Tempo.
Jetzt mal unter uns, Herr Quint, nehmen Sie was? :)
Falls das eine Anspielung auf Drogen sein soll: Bei mir ist alles auf temporeiche, naturbreite Geistesgestörtheit zurückzuführen. Ansonsten nehme ich nix. Mit Einnahme von Drogen würde man sich zu sehr an seine Umwelt anpassen.
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