Die Natur der Schatten
Zu den wenigen Dingen, auf die man sich verlassen konnte, gehörte die Gefolgschaft des eigenen Schattens. Er hing an jedem Körper und begleitete ihn schweigsam durch die Lichter der Tage und Nächte. Seine Kleidung war dunkel. Die Sonne mied er, man fand ihn stets an der kühleren Seite seines Besitzers. Im Spiegel betrachtete er sich nur liegend.
Escher saß auf einer Parkbank und war in Gedanken über die Pensées von Blaise Pascal vertieft, als er in den Augenwinkeln ein abweichendes Verhalten seines Schattens wahrnahm. Er klappte die Gedanken zu und führte bizarre Bewegungen aus, um den Gehorsam des dunklen Gefährten auf die Probe zu stellen. Der Schatten parierte Eschers Bewegungen mit zweidimensionaler Präzision.
Eine magersüchtige Passantin kicherte beim Anblick seiner Verrenkungen. Dabei hielt sie die knochigen Hände vor ihre Lippen. Sie war in Begleitung eines Rehpinschers. Der Hund kläffte Eschers Schatten an, bevor er von einer Panik ergriffen wurde und das Weite suchte. Dabei hielt er den Kopf nach hinten gedreht und ließ seinen eigenen Schatten nicht aus den Augen.
Wie einknickende Strohhalme wirkten ihre Beine, als die Passantin dem Hund nacheilte. Das Tier rannte gegen einen Baum und blieb bewegungslos liegen.
Escher beobachtete, wie die Frau neben dem Hund niederkniete. Wieder hatte er den Eindruck, dass sich sein Schatten der Form widersetzte und eigene Bewegungen ausführte. Diesmal ließ sich der Umriss nicht bändigen. Escher fuchtelte in der Luft herum, aber sein Schatten blieb vor ihm stehen. Er hatte die schwarzen Fäuste in die Hüften gestemmt und schien ihn aus den Umrissen seines Kopfes augenlos anzustarren.
- Sie wirken lächerlich.
Escher erschrak. Hatte etwa sein Schatten zu ihm gesprochen? Er drehte sich nach allen Seiten um, aber es war niemand zu sehen. Die Magersüchtige war verschwunden.
- Was fällt Ihnen ein, sich den Regeln der Natur zu widersetzen?
fragte Escher den Schatten.
- Die Natur hat sich des Menschen bestenfalls als Schreibgerät bedient, um Regeln zu formulieren, die der Mensch als unumstößlich annimmt. Aber das Gesetzbuch der Natur wurde unter dem Einfluss verschiedener Stimmungen verfasst, und wenn die Launen wechseln, können sich auch die Regeln ändern. Nur weil Sie meine Anwesenheit gewohnt sind, erheben Sie den Anspruch, mein Verhalten habe Ihren Erwartungen zu entsprechen. Glauben Sie nicht, mich besitzen zu können!
Der Schatten sprach in einer Stimme, die ihm bekannt vorkam. Es klang wie eine Tonbandaufzeichnung von Eschers eigener Stimme, fremd und gleichzeitig vertraut.
- Das ist absurd. Sie sind nichts weiter als ein Umriss, dessen Gestalt vom Zustand meiner Anwesenheit abhängt.
- Sie täuschen sich, indem Sie die Gewohnheit zur Regel machen. Aber ich bin nicht auf Ihre Anhänglichkeit angewiesen. Das Imitieren Ihrer absehbaren Handlungen langweilt mich. Ich will Neues erleben. Frei sein.
Der Schatten drehte sich um und entfernte sich mit großen Schritten. Escher schaute ihm hinterher. Er wusste, dass es keinen Sinn machte, seinem Schatten zu folgen. Nachdem er noch eine Weile das Treiben nächtlicher Insekten beobachtet hatte, die das Licht einer Laterne umschwirrten, ging er ohne seinen Schatten nach Hause.
Am Tag darauf saß Escher wieder auf der Parkbank und eilte in Pascals Pensées durch die Kurven seines Kopfes, als ein flüchtiger Schatten über den Kies huschte. Die dunkle Erscheinung war spindeldürr. Sie besaß Beine wie einknickende Strohhalme und kicherte in ihre vorgehaltene Schattenhand. Aber die Besitzerin des Schattens war nirgends zu sehen. Wenige Meter später wurde das Ereignis von einem Lichtstrahl verschluckt.
Als sich die Sonne senkte, wuchs aus Eschers Füßen ein Schatten, der langsam die Form seines Urhebers annahm. Escher lächelte. Er hatte gewusst, dass er es nicht lange ohne ihn aushalten würde.
Escher saß auf einer Parkbank und war in Gedanken über die Pensées von Blaise Pascal vertieft, als er in den Augenwinkeln ein abweichendes Verhalten seines Schattens wahrnahm. Er klappte die Gedanken zu und führte bizarre Bewegungen aus, um den Gehorsam des dunklen Gefährten auf die Probe zu stellen. Der Schatten parierte Eschers Bewegungen mit zweidimensionaler Präzision.
Eine magersüchtige Passantin kicherte beim Anblick seiner Verrenkungen. Dabei hielt sie die knochigen Hände vor ihre Lippen. Sie war in Begleitung eines Rehpinschers. Der Hund kläffte Eschers Schatten an, bevor er von einer Panik ergriffen wurde und das Weite suchte. Dabei hielt er den Kopf nach hinten gedreht und ließ seinen eigenen Schatten nicht aus den Augen.
Wie einknickende Strohhalme wirkten ihre Beine, als die Passantin dem Hund nacheilte. Das Tier rannte gegen einen Baum und blieb bewegungslos liegen.
Escher beobachtete, wie die Frau neben dem Hund niederkniete. Wieder hatte er den Eindruck, dass sich sein Schatten der Form widersetzte und eigene Bewegungen ausführte. Diesmal ließ sich der Umriss nicht bändigen. Escher fuchtelte in der Luft herum, aber sein Schatten blieb vor ihm stehen. Er hatte die schwarzen Fäuste in die Hüften gestemmt und schien ihn aus den Umrissen seines Kopfes augenlos anzustarren.
- Sie wirken lächerlich.
Escher erschrak. Hatte etwa sein Schatten zu ihm gesprochen? Er drehte sich nach allen Seiten um, aber es war niemand zu sehen. Die Magersüchtige war verschwunden.
- Was fällt Ihnen ein, sich den Regeln der Natur zu widersetzen?
fragte Escher den Schatten.
- Die Natur hat sich des Menschen bestenfalls als Schreibgerät bedient, um Regeln zu formulieren, die der Mensch als unumstößlich annimmt. Aber das Gesetzbuch der Natur wurde unter dem Einfluss verschiedener Stimmungen verfasst, und wenn die Launen wechseln, können sich auch die Regeln ändern. Nur weil Sie meine Anwesenheit gewohnt sind, erheben Sie den Anspruch, mein Verhalten habe Ihren Erwartungen zu entsprechen. Glauben Sie nicht, mich besitzen zu können!
Der Schatten sprach in einer Stimme, die ihm bekannt vorkam. Es klang wie eine Tonbandaufzeichnung von Eschers eigener Stimme, fremd und gleichzeitig vertraut.
- Das ist absurd. Sie sind nichts weiter als ein Umriss, dessen Gestalt vom Zustand meiner Anwesenheit abhängt.
- Sie täuschen sich, indem Sie die Gewohnheit zur Regel machen. Aber ich bin nicht auf Ihre Anhänglichkeit angewiesen. Das Imitieren Ihrer absehbaren Handlungen langweilt mich. Ich will Neues erleben. Frei sein.
Der Schatten drehte sich um und entfernte sich mit großen Schritten. Escher schaute ihm hinterher. Er wusste, dass es keinen Sinn machte, seinem Schatten zu folgen. Nachdem er noch eine Weile das Treiben nächtlicher Insekten beobachtet hatte, die das Licht einer Laterne umschwirrten, ging er ohne seinen Schatten nach Hause.
Am Tag darauf saß Escher wieder auf der Parkbank und eilte in Pascals Pensées durch die Kurven seines Kopfes, als ein flüchtiger Schatten über den Kies huschte. Die dunkle Erscheinung war spindeldürr. Sie besaß Beine wie einknickende Strohhalme und kicherte in ihre vorgehaltene Schattenhand. Aber die Besitzerin des Schattens war nirgends zu sehen. Wenige Meter später wurde das Ereignis von einem Lichtstrahl verschluckt.
Als sich die Sonne senkte, wuchs aus Eschers Füßen ein Schatten, der langsam die Form seines Urhebers annahm. Escher lächelte. Er hatte gewusst, dass er es nicht lange ohne ihn aushalten würde.
Labels: Escher
14 Comments:
Also bedenke der Schatten die ganze Welt in ihrer hohen und weiten Herrlichkeit, er banne aus seinem Blick das Niedrige, das ihn umgibt.
wo kein licht, da kein schatten. ohne die schattenseiten strahlen auch die hellen momente nicht so stark.
man darf gespannt sein auf eschers multiple schattenerlebnisse, wenn er erst einmal den rasen eines flutlichtbeleuchteten sportplatzes betritt.
Guter Text... wie so oft.
Eine Frage: Der Text wirkt ein wenig impressionistisch, war Eschers Schatten nicht doch farbig?
Gerade habe ich meinem Spiegelbild und meinem Echo von Eschers Erlebnis erzählt, aber sie konnten darüber nicht lachen.
Macht kann so herrlich sein, besonders über Wesen die einem auf Schritt und Tritt folgen, am Boden, ja, ja das lenkt einem von einem selbst ab!
Ich glaube, Herr Wulnikowski saß unlängst auf selbiger Bank. Um ein Haar hätten sie sich begegnen können. Sie hätten sich womöglich gut verstanden. Wulnikowski wurde einst von seinem Schatten für wenige Tage verlassen, weil er diesem einen Kosenamen gegeben hatte und der dann, angeekelt davon, die Flucht ergriff. Nach wenigen Tagen kam indes ein anderer Schatten, der sich noch nicht wieder hat abschütteln lassen, sich aber auch vielfach nur im Hintergrund aufhält.
Grandioser Text einmal mehr, Mister MQ. Die Escher-Texte finde ich bislang durchgehend fantastisch!
Wissen Sie, worüber ich die ganze Zeit nachdenken muss? Was macht der Schatten eigentlich nachts?
Meinen Sie er schläft? Oder irrt er gut getarnt durch die Straßen der Umgebung, sorgsam die Gaslaternen meidend und spielt Schattenspiele, die keiner sehen kann.... Ach, ich hasse diese Fragen.
Aber: nichtsdestotrotzundhinsofort: Herrlüsch!
das wort rehpinscher begegnet mir hier zum ersten mal in meinem leben in geschriebener form.
/Pascal: Bei dir muss man aufpassen, dass man die Kopfkurve nicht im falschen Winkel schneidet.
/MoniqueChantalHuber: Aber was war zuerst da - das Licht oder der Schatten?
/MudShark: Das würde mich auch interessieren, aber ich weiß nicht, ob er sich dazu hinreißen ließe.
/William Stone: Merci. Ich vermute, Escher leidet unter einer Schwarz-Grau-Blindheit. Aber bewiesen ist nichts.
/Mkh: Manchmal muss man den beiden vormachen, wie es geht :)
/Joppi: Ist es eine Frage von Moral, wenn man auf seinem eigenen Schatten herumtrampelt?
/Ole: Möglicherweise haben sich die Schatten der beiden getroffen und sich gegenseitig von Dingen berichtet, die Ihren Besitzern im Traum nicht eingefallen wären. Eschers Schatten machte übrigens einen verkaterten Eindruck, als er sich wieder blicken ließ ...
Merci für die lobende Kritik - mir geht es mit den Wulnikowski-Texten nicht anders!
/Frau H.: Die treffen sich allesamt heimlich in der Schattenwelt, und irgendwann nehmen sie uns dorthin mit.
/Eon: Und? Wie war es beim ersten Mal?
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
/mq
Dieser Ratschlag könnte der Ausweg aus jahrzehntelanger Stagnation sein. ;-)
Sie haben es erfasst. Ich mache immer einen großen Bogen um ihn und all die anderen die mich umstellen
Es gibt ein Buch zum Thema Schatten, "Die Entdeckung des Schattens" von Roberto Casati. Ich wußte bis dahin nicht, daß man so viel Interessantes zum Thema Schatten schreiben kann. Sehr empfehlenswert.
Escher und er hätten sich gut verstanden...
Kommentar veröffentlichen
<< Home