X-te Male
Der erste Tag am Meer, die erste einsame Nacht in der Wüste, der erste Rundblick vom Gipfel eines gewaltigen Berges. Viele erste Male sind mit Ereignissen, Eindrücken, Empfindungen verbunden, die in ihrer Einzigartigkeit unwiederholbar bleiben und ihre Faszination ab dem zweiten Mal zwar nicht vollständig verlieren, aber mit wachsender Erfahrung zunehmend von einer spröden Routine und damit verbundener Notizlosigkeit in Besitz genommen werden. Aus Wertschätzung wird in der Wiederholung nicht zwingend Geringschätzung, aber eine zähe Gleichgültigkeit überzieht das Erlebte wie Ruß. Und Gleichgültigkeit ist das Schlimmste, was uns passieren kann.Die Tragik des Älterwerdens besteht nicht im Verfall, sondern darin, dass die mögliche Anzahl der spektakulären ersten Male abnimmt, und sich damit das Staunen über die Welt in Erinnerungen oder der Macht von Gewohnheiten verliert. Auch in menschlichen Begegnungen eröffnet sich hinter der Einöde gemeinsamer Landschaften selten ein neuer Kosmos. Aber das Schlimmste, was uns passieren kann, ist die Gleichgültigkeit.
Sehr geehrte Supermarktkassiererin,
ich hätte Sie niemals darum bitten können, mir nicht bei jedem Einkauf eine Kundenkarte oder Treueherzen anzubieten, denn es gehört zu Ihren Aufgaben, die Kundenbindungsmaßnahmen Ihres Arbeitgebers umzusetzen. (Und es kam vor, dass Angestellte im Einzelhandel wegen geringfügigeren Unregelmäßigkeiten eine Kündigung erhalten haben.)Umso zufriedener bin ich mit dem Umstand, dass Sie mich - im Gegensatz zu den Kunden in der Schlange vor und hinter mir - noch nie gefragt haben, ob ich schon eine Kundenkarte besitze oder gar Treueherzen sammle. Ein bisschen enttäuscht mich diese Sonderbehandlung aber auch, denn insgeheim habe ich mir längst filmreife Antwortvarianten zurechtgelegt, vor allem auf die Frage nach den Treueherzen.Mit treuherzlichen Grüßen,mq
Sein Leben der Anderen
Als er das Badezimmer betreten wollte, um sich vom Staub seiner Reisen durch nächtliche Schlaflandschaften zu befreien, stand schon jemand vor dem Waschbecken. Der Anblick der Person mit dem Rasiermesser in der Hand versetzte ihn in Erstaunen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Escher angenommen, dass er die Unterkunft allein bewohnte. Aber er war davon überzeugt, dass seine Welt in jeder Nacht vollständig neu erschaffen wurde.
Escher beobachtete die Person im Spiegel. Kopfform und Statur des Mannes kamen ihm vertraut vor. Als ein großer Teil des weißen Schaums im Ausguss verschwunden war und das Gesicht sichtbar wurde, erkannte Escher, dass er selbst dort vor dem Waschbecken stand und sich rasierte. In diesem Moment zwinkerte ihm der Andere im Spiegel zu.
Geistesabwesend fasste Escher sich ans Kinn und dachte, dass ihm zumindest die Rasur an diesem Tag erspart bliebe. Er runzelte die Stirn und ging zurück ins Schlafzimmer, um sich wieder ins Bett zu legen. Aber als er im Türrahmen stand, stellte er fest, dass bereits ein anderer in seinem Bett lag. Escher näherte sich dem Schlafenden, und wieder war es Escher, der kurz die Augen aufschlug und sich selbst ins Gesicht blinzelte.
Der Escher, der stumm in der Küche vor einer Tasse schwarzen Kaffees saß, schien ebenso wenig überrascht von sich wie der Escher, der zur Küche ging, um nachzusehen, ob er schon da war.
Überall, wo Escher hinging, befand er sich bereits, noch bevor er ankam. Es schien keine Möglichkeit zu geben, sich selbst aus dem Weg zu gehen. Sollte er sich ankleiden, oder würde Escher bereits am Kleiderschrank stehen und einen Anzug ausgewählt haben? Könnte er sich vermeiden, wenn er aus seinen Gewohnheiten ausbräche und sich ans offene Fenster stellte? Erleichtert und allein atmete Escher die feuchte Luft ein. Er blies reinen, weißen Atem in die neue Welt des Tages. Beiläufig nahm er wahr, wie Escher das Haus verließ und mit einer Aktentasche unter dem Arm um die Ecke bog. Der Mann auf der Straße drehte im Gehen kurz den Kopf über seine Schulter und schaute nach oben, um sich zu vergewissern, dass er noch am Fenster stand.Labels: Escher
Nein/Ja
I
II
89, Winter der Liebe
Irgendwann Mitte der Achziger war ich für ein paar Stunden in Ostberlin. Am Alexanderplatz gab es eine Imbissbude, wo Hamburger verkauft wurden. Ich hatte keinen dringenden Hunger, es waren vielmehr Neugier und meine kapitalistische Sozialisierung, die dafür sorgten, dass ich wenigstens ein paar Ostmark aus dem Zwangsumtausch loswerden wollte. Zuvor war ich den halben Nachmittag angestanden, um ein Anatomiebuch zu erwerben, das komisch roch, wie sich nach dem Kauf herausstellte. In der Imbissbude roch es auch komisch, ähnlich wie in dem Anatomiebuch.Der missgelaunte Kerl hinter dem Tresen trug eine schmierige Schürze, die aus alten Rotarmeebeständen stammte und mindestens seit Gründung der DDR nicht mehr gewaschen worden war. So stellte ich mir das jedenfalls vor. Er garnierte eine eiskalte Bulette mit einem bräunlichen Salatblatt und goss eine gelbe Flüssigkeit darüber, die haargenau denselben Farbton besaß wie seine Schürze. Dann packte er den realsozialistischen Kunstgegenstand zwischen zwei Scheiben Graubrot, wickelte das Ganze in einen Fetzen Pergamentersatz, legte es auf den Tresen und zeigte wortlos auf den Preis, der mit Kreide auf eine Tafel neben das Wort Hamburger gemalt war.Ich habe mich sogar ein wenig geschämt, als ich den Hamburger in sicherer Distanz zur Imbissbude in einen Abfalleimer warf. Immer, wenn ich seither die Bezeichnung DDR höre oder lese, muss ich an diesen Hamburger denken, und gleichzeitig steigt mir wieder der Anatomiebuchgeruch in die Nase.Am 9. November 1989 stand ich in einer süddeutschen Stadt auf einer Leiter und half einem Freund, seine marode Unterkunft zu renovieren. Im Radio überschlugen sich die Berichte über den Mauerfall, und weil der Kampf um die Bewohnbarkeit der Unterkunft aussichtslos erschien, setzten wir uns in den rostigen VW Polo und fuhren über Nacht nach Berlin. Nachhaltig hat mich damals dieser endlose Stau aus Trabants und Wartburgs beeindruckt, der sich im Morgengrauen über einen weiten Abschnitt der Transitautobahn erstreckte.Als wir übernächtigt in Berlin ankamen und durch die Stadt stolperten, nahm ich die allgegenwärtige Freude mit derselben Mischung aus Gelassenheit und Staunen zur Kenntnis wie die Schlange vor dem Sexshop am Bahnhof Zoo.Der Jubel war schwer zu begreifen. Ähnlich wie im Fußballstadion oder in Sylvesternächten stand ich ratlos daneben, wenn sich wildfremde Menschen in die Arme fielen. Aber missgönnt habe ich es niemand. Nur dieser Anatomiebuchgeruch hat mich gestört.
Sehr geehrte Servicefachkraft,
Sie besitzen meinen größten Respekt, und wenn ich Blickkontakt zu Ihnen suche, will ich Sie weder anmachen noch beleidigen. Sie müssen also nicht genervt in eine andere Richtung schauen und mich solange ignorieren, bis ich mit vorgehaltener Schusswaffe an den Tresen komme, um das Trinkgeld loszuwerden.Bei der Erledigung Ihres Jobs müssen Sie sich auch nicht mit Nebensächlichkeiten wie Freundlichkeit etc. aufhalten: einfach eine Bestellung entgegennehmen, eine kulinarische Auskunft erteilen oder die Rechnung bringen. Oder wurde vielleicht Ihr gastronomisches Geschäftsmodell geändert, und es geht überhaupt nicht mehr um den Konsum von Speisen und Getränken, sondern nur noch um W-Lan?Mit unbedingt respektvollen Grüßen,mq