Donnerstag, Oktober 30, 2008

München - Venedig (X): Zum gekreuzigten Hirsch

Auf dem Weg von Pfunders nach Niedervintl kam ich am gekreuzigten Hirsch vorbei. Dabei handelte es sich nicht etwa um ein Wirtshaus, das von einem Besitzer mit Hang zum Sarkasmus geführt wurde, sondern um den unfreiwilligen Kunden einer Kfz-Werkstatt. Man hatte ihn an einem Strick bis unter die Decke des Raumes gezogen und seine Vorderläufe an einer Querstange fixiert. Die aufgeschnittene Bauchdecke klaffte weit auseinander. Tot-alschaden, irre-parabel.

Als mein Blick das ausgeweidete Tier beiläufig im Vorbeigehen streifte, ordnete ich die Szenerie nicht sofort in eine Kategorie des Außergewöhnlichen ein. Ein unterbewusster Wahrnehmungsmechanismus hatte den Anblick des gekreuzigten Hirschen vom Gesamteindruck der Werkstatt subtrahiert, weil sich die Bildinhalte wie Puzzleteile verhielten, die nicht zueinander passten. Einige Schritte später nahm das Arrangement in meinem Kopf Gestalt an. Ich ging zurück und konnte nach eingehender Betrachtung nicht ausschließen, dass es sich um eine Installation von Damien Hirst handelte. Aber es war keiner in der Nähe, den man fragen konnte. Wie ausgestorben.






















Ich wunderte mich darüber, dass der Anblick bizarr und abstoßend wirkte. Der Hirsch war fachgerecht ausgeweidet, und die scheinbar unpassende Umgebung hatte man aus pragmatischen Erwägungen gewählt. Im Supermarkt denkt man nicht über die rote, in Klarsichtfolie verpackte Masse nach, während man an langen Fleischregalen vorbeigeht. Gelernte Abstraktionen lassen vieles in der Unauffälligkeit verschwinden.

Auch in Italien gibt es Schilder, die davor warnen, Starkstrommasten zu besteigen. Würde sich jemand, der auf eine solche Stahlkonstruktion klettern will, von der pictographischen Darstellung eines Totenkopfs und dem Hinweis auf die Todesgefahr von seinem Vorhaben abbringen lassen? Oder sagt man sich: "Aha, Todesgefahr. Da muss ich jetzt aber doppelt aufpassen, dass ich nicht herunterfalle oder mir einen kleinen Starkstromschlag hole."



Leider konnte ich den Rückblick über die Tiroler Alpen nicht gebührlich genießen, da mich zwei zerschundene Zehen plagten.



In Niedervintl inspizierte ich die Zehen-Situation und beurteilte die Ansicht als ausreichend abstoßend, um sofort wieder in meine Schuhe zu steigen und weiterzugehen. Der Vorteil bei dieser Art von Schmerz besteht darin, dass man ihn kontrollieren und überwinden kann. So wie der Weg zur Entspannung über die Anstrengung führt, kann Schmerz eine Chance zur besseren Körperbeherrschung bedeuten.

An jenem Tag verließ ich die Massive der Zentral-Alpen, vor mir lagen die südlichen Kalkalpen. Seit vielen Jahren habe ich an die Dolomiten besonders schöne Erinnerungen. Manche Berge dieser Alpenregion wirken wie Kegel, die jemand in einer saftig grünen Landschaft aufgestellt hatte.



Bevor ich die Kreuzwiesenhütte erreichte, schenkte mir der Tag noch einen der letzen Rückblicke über die Gebirgskette der Zentralalpen.


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Sonntag, Oktober 26, 2008

München - Venedig (IX): Jausenzone!

Das Schild wirkte bedrohlicher als ein vereister Berg. Auch die gewaltigen Wassermassen des Stausees, in dessen Ufernähe man es aufgestellt hatte, verloren angesichts der plakativen Botschaft an Bedrohlichkeit. Zu meiner Erleichterung war jene Jausenzone am frühen Morgen noch geschlossen, denn ich wollte unter keinen Umständen erfahren, durch welche Angebotspalette sich das Geschäftsmodell auszeichnete. Als der schaurige Ort hinter mir lag, musste ich mich einige Male zwanghaft umdrehen, um mich zu vergewissern, dass mir niemand folgte. Wer könnte beim Anblick des Schildes mit Bestimmtheit die Herkunft des Brötchenbelags benennen oder ausschließen, dass in der Zonengegend Kannibalen hausten?





















Vielleicht war es auch nur ein flüchtiger Regen, der mir Schauer über den Rücken jagte. Wenn sich dunkelgraue Wolken wie ein Firmament aus Felsen über der Wildnis verdichten, versteht man die Furcht von Gallierhäuptling Majestix, dass ihm der Himmel auf den Kopf fallen könnte.




Nachdem ich in der Nähe des Dorfes Stein die italienische Grenze überquert hatte, wurde der Regen stärker, und auf dem Weg zum Gliderschartl war es dann, als bahnte man sich einen Weg durch Wasserwände. Mir kam eine Gruppe entgegen, die wegen des Wetters umgekehrt und abgestiegen waren. Einer brüllte durch die Wasserwände in meine Richtung, es sei unmöglich, auf diesem Weg Pfunders zu erreichen. "Fundres? Im-poo-ssi-ble too-day!" Sie waren Italiener und trugen modisches Outdoor-Outfit. Ich war Outsider und ging weiter. Der Regen verwandelte sich während des Aufstiegs in Hagel. Die Temperatur schien mit jedem Höhenmeter zu fallen, während mir der Himmel auf den Kopf fiel.

Unter dem Gliderschartl blickte ich in ein hagelweißes Tal, das von steilen Bergen umschlossen war. Die Kamera hatte ich wetterfest im Rucksack verpackt, und auch wegen der Kälte holte ich sie nicht hervor. Jener märchenhafte Anblick verankerte sich tief in meinem Gedächtnis, die nüchterne Dimension einer Fotografie hätte die Erinnerung im Moment ihres Entstehens zerstört.

Am höchsten Punkt des Gliderschartls verweilte ich keinen Moment. In frostigen Temperaturen kühlt der angestrengte Körper schnell aus, und wenn die Zähne unkontrollierbar aufeinander schlagen, ist es nicht mehr weit zur äußeren Grenze der Erschöpfung. Der Abstieg war leicht zu bewältigen und führte bald durch Almwiesen, wo die größte Herausforderung darin bestand, Kuhfladen auszuweichen. Ein schöner Anblick waren Pferde, die am Hang grasten.



Besonders reizvoll beim Reisen, aber auch im Alltag, ist ein beständiger Perspektivenwechsel zwischen den kleinen und großen Dingen innerhalb unseres Mesokosmos, der unmittelbar wahrnehmbaren Welt. Und manchmal gelingt es, eine Vorstellungskraft für die unendliche Vielzahl von Welten im Mikro- und Makrokosmos zu entfalten.





















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Montag, Oktober 20, 2008

München - Venedig (VIII): Seentag mit Stempeln im Kopf

Essen gehört zu den wenigen lebensnotwendigen Bedürfnissen, und beim Reisen spielen kulinarische Rahmenbedingungen eine besondere Rolle. Wenige Merkmale kennzeichnen eine Kultur so deutlich wie die Nahrungszubereitung und andere Rituale rund ums Essen. Auch wenn es kaum ein exotisches Gericht gibt, das seinen Weg noch nicht auf deutsche Teller gefunden hat, besitzt jedes Rezept im Land seines Ursprungs einen anderen Geschmack. Die Schärfe eines indischen Currys entfaltet sich in der tropischen Hitze von Madurai pikanter als im Frankfurter Bahnhofsviertel, Churros schmecken in Acapulco süßer als auf einer unterfränkischen Kirmes, und Tortillas aus dem Tiefkühlfach fehlt der atmosphärische Rahmen einer andalusischen Bar zur Mittagszeit.

Mit den österreichischen Kasknödeln vom Sepp auf der Lizumer Hütte verhält es sich ähnlich. Ich würde dieses Gericht nicht in einer Strandbude mit Blick auf die Nordsee bestellen, aber nach den zahlreichen Höhenmetern beim Gang vom Karwendel durchs Inn- und Wattental erwiesen sich die Kasknödel ideal für einen deftigen Ausgleich des Energiehaushalts.

Es gibt übrigens zwei schnörkellose, für diese Art der Fortbewegung unbedingt geeignete Gerichte, die einen auf dem Fußweg über die Alpen begleiten: Strudel und Polenta. Vor allem der für Norditalien typische Brei aus Maismehl wirkt über einen längeren Zeitraum sättigend.

Nach dem Kasknödel-Dinner und einer Nacht im bewusstlosen Schlaf der Erschöpfung begrüßte mich ein schüchterner Morgen, der sich im See hinter der Lizumer Hütte selbst betrachtete.



Berge scheinen sich einen Spaß daraus zu machen, ihre Bezwinger über die vermeintliche Nähe des Gipfels zu täuschen. Glaubt man, gleich den höchsten Punkt erreicht zu haben, erhebt sich bald darauf eine weitere Steigung, die den Gipfel hinter sich verbirgt und in die Ferne schiebt.

Wenn man schließlich in einer Höhe von 2743 m auf dem Pluderlingsattel steht, war keiner der zuvor gegangenen Schritte vergeudet. Die Aussicht über die Tuxer Alpen, die Hohen Tauern und die Ötztaler Berge ist sogar hinter Wolken sensationell.



An diesem Tag begegnete ich einer Dame aus Sachsen, die ein Stempelbuch mit sich führte und darauf versessen schien, unter jedem Gipfelkreuz einen entsprechenden Abdruck im Büchlein zu platzieren. Die Hintergründe jener Sammelleidenschaft haben sich mir nicht erschlossen, zumal die Berge ihre Stempel im Kopf hinterlassen. Es ist zwar bemerkenswert, dass der Stempel sowohl den verursachenden Gegenstand als auch das Ergebnis des Vorgangs bezeichnet, aber zu den lebensnotwendigen Bedürfnissen gehört das Stempeln nicht.



Auf dem Tuxer Joch Haus ging es zu wie in der Abflughalle 1 des Frankfurter Flughafens. Der Ort ist leicht vom Tal erreichbar und bietet eine gute Sicht auf Olperer, Gefrorene Wand und Hohen Riffler. Touristenhorden standen Schlange an der Essensausgabe, um sich mit Käsespätzle abfüttern zu lassen, die man zuvor kunstlos in einem Ölsee versenkt hatte.

Ich habe nichts gegen andere Touristen. Auch wenn Menschen in großen Rudeln auftauchen, stört mich das nicht. Die Bergwelt - und auch der ganze Rest - soll allen gehören. Aber warum müssen sich die Leute bevorzugt schreiend verständigen, und zufällig entstehende Schreipausen damit überbrücken, ihren Müll in der Landschaft zu verteilen? Dabei geht es mir allein um die optische und akustische Ästhetik und nicht um Naturschutz, denn warum sollte sich die Natur an Plastikverpackungen stören, die in ihr herumliegen?

Überhaupt kümmert es die Natur einen Dreck, ob der Mensch glaubt, dass er sie zerstört. Die Natur lacht sich doch ins Fäustchen, wenn sie uns beim Naturschutz beobachtet! Wir tragen einen erheblichen Teil zum Rückgang der Formenvielfalt bei, aber selbst wenn es uns gelingen sollte, das sichtbare Leben vollständig zu vernichten, wird die Natur den Menschen überdauern. Irgendwo werden Kleinstlebewesen übrig bleiben, aus denen neue Lebensformen entstehen. Der so genannte Naturschutz dreht sich nicht um ein tiefgehendes Verständnis und den Schutz anderer Arten, sondern um das menschliche Fortbestehen. Tatsächlich sollte es Menschenschutz heißen.

Auf der steilen, staubigen Straße zum Spannagelhaus konnte man riesige Baumaschinen bei Abraum- und Planierungsarbeiten beobachten. Auch die nachdrückliche Erschließung von Skigebieten scheint zum Konzept des Menschenschutzes zu gehören; die Tuxer Alpen werden vor allem von monströsen Gastronomiebetrieben und Liftanlagen jeglicher Art geprägt.

Der Weg vom Spannagelhaus zur Friesenbergscharte führte über einen porösen Gletscherrest, und von oben erschien der smaragdgrüne See auf der Südseite des Berges wie ein Auge im Fels.



Als ich nach dem drahtseilversichterten Abstieg an jenem wachsamen Auge der Natur vorbeikam, schimmerte das freundliche Panorama des späten Nachmittags im See. Am folgenden Tag schlug das Wetter um, und die Friesenbergscharte vereiste, was eine Überquerung erschwert oder sogar unmöglich gemacht hätte.



Unweit vom See ist das Friesenberghaus gelegen. Ich erfuhr, dass die von jüdischen Bergsteigern errichtete Zuflucht vor ihrer Zerstörung durch die Nazis eine der ersten Hütten in den Alpen war, die über den Luxus von warmem Leitungswasser verfügte.



Der Lohn für die Anstrengungen im Gebirge besteht in grenzenlosen Ausblicken und respektvollen Rückblicken. Die Bedrohlichkeit der Friesenbergscharte, die in einer Höhe von 2910 m den Himmel berührt, wuchs mit zunehmender Entfernung während des Abstiegs auf der Südostseite.



Der Schleigeisspeicher war der letzte See auf meinem Weg an diesem Tag. Hier wuchs die Bedrohlichkeit mit zunehmender Annäherung, und das lag daran, dass die Talsperre von Menschenhand errichtet wurde.



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>> Strudel
>> Polenta

Dienstag, Oktober 14, 2008

München - Venedig (VII): Zeichnen gesetzlich verboten

Am folgenden Morgen hatten die Berge ihr Prachtnebelkleid aus der Wetterkommode geholt. Jenseits der Grenze zur verschwommenen Außenlandschaft lichten sich Gedanken. Die gedämpfte Welt erscheint, als verberge sie Geheimnisse, für die sich das Weitergehen lohnt. Beim Gehen auf schmalen Pfaden an Steilhängen ist nur zu erahnen, wie tief man bei einem falschen Schritt fallen würde. Der Nebel reflektiert den Blick nach innen, und zusätzlich flutet die feuchte Luft den Atem.



Auf dem Weg zum Lafatscherjoch wurden die Gämsen beinahe zutraulich, mit dreifachem Zoom konnte man ihnen sogar in die Augen schauen.



Zuvor hatte ich am Wegesrand eine Kreuzotter entdeckt, aber das Tier wollte sich nicht fotografieren lassen und war schnell im Gebüsch verschwunden. Ein Alpensalamander hatte hingegen nichts gegen eine Ablichtung in schwarzem Lack und Leder.






















Auf dem Weg ins Inntal kamen mir zwei Jugendliche entgegen. Ich war in die Landkarte vertieft, und einer der beiden rief mir zu: "Wiast di scho ned verlaffa. Links is a Berg, rechts is a Berg. Konnschd nur durchd Mittn." Er hatte Recht, Orientierung kann sehr einfach sein.


Werbung für Rauschmittel, im Hintergrund Behausung von Eingeborenen

Das Inntal markiert die Grenze zwischen nördlichen Kalkalpen und Zentralalpen. Ich wählte den Weg über Wattens und erfuhr beim Überqueren der Autobahn, dass Zivilisationsradau nach wenigen Tagen der Abgeschiedenheit einem Kulturschock gleichkam. Daher verweilte ich in Wattens nur für den Verzehr einer Pizza und begann anschließend den Aufstieg durchs Wattental in die Zentralalpen. Am Ortsrand folgt man einem Kreuzweg, der zu Ehren von Pater Jakob Gapp angelegt wurde. Der Geistliche hatte 1939 in einer Predigt den Nationalsozialismus attackiert, wurde nach seiner Flucht durch Spanien verhaftet und 1943 im Alter von 45 Jahren nach Anklage wegen Landesverrats in Berlin-Plötzensee hingerichtet.






















Pater Jakob Gapp

Es muss in einem Moment des schlimmsten Höhenkollers passiert sein, als die österreichische Gebirgsmarine von der Idee überfallen wurde, innerhalb ihres militärischen Sperrgebiets rund ums Lager Walchen das Zeichnen unter Strafe zu stellen. Beim Lesen der Verbotstafel stellte ich mir vor, wie langbärtige Taliban, mit Kohlestift und Skizzenblock bewaffnet, durch die Alpen schleichen und zu Spionagezwecken illegale Zeichnungen von Zirbelkiefern und Kuhfladen anfertigen.



Beim Betreten des Sperrgebiets passiert man einen militärischen Wachposten. Ich unterdrückte ein Lachen, weil ich ständig an Kuhfladen zeichnende Taliban denken musste und mir ausmalte, was passieren würde, wenn man meinen Rucksack durchsuchen und dabei auf den abgekauten Bleistift oder meinen Notizblock stoßen würde. Aber niemand verhaftete mich, was vermutlich dem Umstand zu verdanken war, dass mein Bart noch nicht die erforderliche Bombenlegerlänge erreicht hatte. Der Soldat machte einen gemütlichen Eindruck und grüßte mich freundlich gelangweilt.
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>> Alpensalamander
>> Zirbelkiefer

Samstag, Oktober 11, 2008

München - Venedig (VI): Verwischte Wirklichkeit

Der vierte Tag begann regnerisch. Mit der Überquerung der Birkkarspitze stand die Besteigung des höchsten Berges im Karwendel bevor. Auf dem Weg zwischen Hinterriß und dem Einstieg am Karwendelhaus verdichteten sich die schroffen Konturen.



Kurz bevor ich das Karwendelhaus erreichte, flog ein Hubschrauber der Bergwacht mit hoher Geschwindigkeit über mich hinweg in Richtung Gipfel. An einem Seil transportierten die Retter aus der Luft wenig später eine Trage ins Tal. Ob sich darauf eine Person befand, war von unten nicht zu erkennen. Auf halber Höhe zur Birkkarspitze kamen mir Leute entgegen, die von einem schweren Bergunglück berichteten und vor Steinschlag warnten. Tatsächlich konnte ich mich kurz darauf im letzten Moment unter einen Felsvorsprung kauern, bevor faustgroße Steine an mir vorbeipolterten. Es war sonnig und nicht mehr allzu kalt am frühen Nachmittag, aber gleichzeitig blies ein starker Wind, der im brüchigen Gestein kleine Lawinen auslösen konnte.



Absolute Geräuschlosigkeit findet man in der Natur nur bei Windstille in großen Höhen, wo keine Tiere mehr anzutreffen sind und keine Gletschergewässer oder Blätter rauschen. Wenige Male stand ich auf Bergen, wo man den eigenen Herzschlag hören konnte, wenn man seinen Atem anhielt. In der Weite des Raumes besaß diese Stille keine beruhigende Wirkung, sondern grub sich wie eine Kluft in die Seele. Erst die Geräusche meines Atems oder von Schritten und dem Knistern der Kleidung befreiten mich aus der Beklemmung.

Beim Überqueren der Birkkarspitze wurde die Stille vom Geräusch des Windes zerschnitten. Der Blick über die Welt unter mir hingegen war ungeteilt.



Im Gerüst der Erinnerungen ersetzen Fotos eine verwischte Wirklichkeit. Objektivität hinter dem Objektiv existiert nicht, nur eine unbegrenzte Anzahl von Subjektivitäten. Fotografie zeichnet keine Eindrücke auf, die im Kopf entstehen. Auf Lichtbildern ist nicht zu sehen, was das Auge hinter dem Auslöser festhielt, sondern ein ausgestanzter Teil der Szenerie. Betrachter begreifen die tiefgefrorenen Bruchstücke wiederum als Teile ihrer Realität und modellieren aus jedem Bild eigene Bilder. Aus der Vorlage entsteht in jedem Kopf ein unterschiedliches Bild, und die Unmöglichkeit von Objektivität überlagert das scheinbare Original, den Ausschnitt einer Wirklichkeit, im Moment seiner Betrachtung. Die Vorstellung des Betrachters besteht im Abbild des Abbildes. Originalität ist eine Illusion, denn auch der Fotografierende muss in der Ablichtung etwas anderes als in seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit erkennen. Und niemand kann ausschließen, dass die Wirklichkeit selbst eine Illusion ist.



Auf dem langen und beschwerlichen Abstieg ins Hinterautal konnte ich beobachten, wie Gämsen ein Schneefeld kreuzten, das ich anschließend selbst überquerte.



Oft enttäuschen Orte, die wir zuvor von Bildern kannten, weil die Wirklichkeit in ihrem gesamten Ausmaß den bildhaften Vorstellungen und daraus entstandenen Erwartungen nicht gerecht werden kann. Das Karwendel könnte selbst bei bester Fotografie und schlechtester Erfahrung kaum enttäuschen, zumindest die Faszination einer in sich gekehrten Wildheit kann dieser Gegend keiner absprechen.



Wenn man beim Lesen von Karten Namen wie Praxmarerkarspitze, Tratenköpfl, Hallerangeralm oder Lafatscherjoch begegnet, erscheint die deutsche Sprache wie Nebel über einem bedeutungstiefen Tal.


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Freitag, Oktober 03, 2008

München - Venedig (V): Wegweiser und wichtigstes Lebensmittel

Jährlich am 8.8. um 8 Uhr besteht die Möglichkeit, sich einer Gruppe anzuschließen, wenn man für die Wanderung von München nach Venedig Gesellschaft sucht. Auf der Tutzinger Hütte unterhielt ich mich beim Befüllen der Mineralstoffspeicher (2 Maß Bier) mit Leuten, die gemeinsam vom Marienplatz gestartet waren. Ich erfuhr, dass sich dort in diesem Jahr rund 25 Gestalten mit großen Rucksäcken eingefunden hatten. Die Strecke von München nach Venedig ist populär, wenn auch nicht annähernd so fußgängerverkehrsbelastet wie der spirituelle Highway nach Santiago de Compostela.

Am nächsten Morgen führte mich der Weg entlang der Benediktenwand zum steilen Abstieg nach Jachenau. Bis ich wieder in das Dunkelgrün der Wälder eintauchte, erschien der Horizont zum Greifen nah.



In geschlossenen Räumen fällt es meistens nicht schwer, sich auf ein Ziel zu konzentrieren. Anders verhält es sich außerhalb der Mauern. Und dabei spielt es keine Rolle, ob man sich durch eine Betontundra oder durch Naturzonen bewegt. Der Blick in die Weite mag überwältigend sein, am Ende öffnen die greifbaren Details in unserer unmittelbaren Nähe den Horizont.



Neben der Pflanzenwelt gestalten Bäche die mannigfaltigen Details im Gebirge. In abgelegenen Regionen des Himalaya haben mir Gebirgsbäche mehrfach den Weg aus der Wildnis gewiesen, wenn ich mich verlaufen hatte. Folge einem Gewässerlauf bergab, und spätestens in einem fruchtbaren Tal wirst du auf eine Siedlung oder auf Hirten treffen.





















Auf dem Weg nach Jachenau


Wasser ist aber nicht nur ein Wegweiser, sondern vor allem das wichtigste Lebensmittel. Der Mensch überlebt viele Tage ohne Nahrung, aber ein Tag ohne Wasser kann uns an die Grenze der Kräfte bringen.

Während einer Bergtour in Nordindien hatte ich eines leichtsinnigen Tages nicht für ausreichende Wasservorräte gesorgt. Erfolglos suchte ich nach einem Rinnsal, und die brennende Sonne trocknete mich zunehmend aus. Mein Durst steigerte sich zur Qual. Die Zunge klebte geschwollen im Mund, taub wie ein totes Stück Fleisch.

Irgendwann nahm ich an einem entfernten Hang zwei Punkte wahr, die sich bewegten. Bald stellte sich heraus, dass es sich um Menschen handelte, und kurze Zeit später standen zwei junge Inder vor mir. Nach Art der Lastenträger hatte jeder einen großen Plastik-Kanister auf dem Rücken, den er an einem Band um die Stirn, weit vornüber gebeugt, den steilen Berg hinaufschleppte. Als sie mich sahen, stellten sie ihre Kanister ab und deuteten mit einer Geste an, dass sie gerne rauchen würden.

Ich gab ihnen zwei Zigaretten und erhoffte mir als Gegenleistung, meinen schlimmsten Durst mit Wasser aus einem der Kanister stillen zu können. Die beiden verstanden kein Englisch, und auch meine eindeutige Gestik schienen sie nicht zu begreifen. Ich zeigte immer wieder auf die Kanister und anschließend mit dem Daumen in meinen Mund, aber je nachdrücklicher ich wurde, desto abweisender verhielten sich die Inder.

Ich geriet an den Rand des Zorns und bellte die Sturköpfe an, was sie eigentlich davon abhalte, mir einen winzigen Schluck zu überlassen. Hilflos wichen sie meinem Blick aus. Schließlich schraubte einer der beiden den Deckel von seinem Kanister und füllte ihn vorsichtig mit der klaren Flüssigkeit. Dann reichte er mir das kostbare Nass. Ohne Zögern führte ich den Deckel zum Mund und trank den Inhalt in einem Zug.

Es war, als müsste ich verbrennen. Eine Stichflamme grub sich in die Tiefe meiner Eingeweide. In den Kanistern befand sich hochprozentiger Schnaps, irgendein selbstgebrannter Blindmacher, den die beiden über den einsamen Berg trugen. Vielleicht handelte es sich sogar um Spiritus. Mit verkniffenen Augen und einem angedeuteten Grinsen in den Mundwinkeln machten sie mir verständlich, in welche Richtung ich gehen musste, um einen Quellbach zu finden.

Seit ich das Gefühl des schlimmsten Durstes kenne, sorge ich bei jeder Unternehmung für einen angemessenen Wasservorrat. Und sollte ich aus irgendeinem Grund die gesamte übrige Ausrüstung zurücklassen müssen, Wasser werde ich immer dabei haben.

In den Alpen wurde ich bislang weder mit Wassermangel, noch mit ernsthaften Orientierungsproblemen konfrontiert. Es gibt zahlreiche Quellen, und die nächste Berghütte ist selten weiter als fünf Stunden entfernt. Die Beschilderung der Wege ist umfassend und manchmal recht originell, wie ein Wurzelschild beweist, das die Richtung nach Vorderriß anzeigt.



Schmetterlingsschwärme begleiteten mich beim Abstieg ins Rißtal über steile Wiesen. Die Tiere versuchten ständig, sich auf meinem Kopf niederzulassen, was mir sehr humorvoll erschien. Noch nie zuvor hatten mich Schmetterlinge zum lachen gebracht.





















Nach dem Abstieg legte ich im Alpengasthof Post eine kurze Rast ein
(Mineralstoffe), bevor ich den letzten Tagesabschnitt nach Hinterriß zurücklegte. Unterwegs passierte ich die erste Staatsgrenze und erinnerte mich mit nostalgischem Unbehagen an die Zeiten, als man auf dem Weg nach Italien zweimal von Männern in Uniformen kontrolliert wurde und Geld tauschte, wobei man mittels krummer Quotienten bei jedem Einkauf den Gegenwert in heimischer Währung ausknobeln musste. Es lebe die Europäische Union.



Wenige Kilometer später findet man auch noch ein Grenzschild.



Aber die Schranken sind abgebaut, zumindest auf den Straßen. Auf Höhe des Schildes vernahm ich ein Donnergrollen. Es kam aus den Bergen vor mir. Servus, Österreich.
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