München - Venedig (X): Zum gekreuzigten Hirsch
Auf dem Weg von Pfunders nach Niedervintl kam ich am gekreuzigten Hirsch vorbei. Dabei handelte es sich nicht etwa um ein Wirtshaus, das von einem Besitzer mit Hang zum Sarkasmus geführt wurde, sondern um den unfreiwilligen Kunden einer Kfz-Werkstatt. Man hatte ihn an einem Strick bis unter die Decke des Raumes gezogen und seine Vorderläufe an einer Querstange fixiert. Die aufgeschnittene Bauchdecke klaffte weit auseinander. Tot-alschaden, irre-parabel.
Als mein Blick das ausgeweidete Tier beiläufig im Vorbeigehen streifte, ordnete ich die Szenerie nicht sofort in eine Kategorie des Außergewöhnlichen ein. Ein unterbewusster Wahrnehmungsmechanismus hatte den Anblick des gekreuzigten Hirschen vom Gesamteindruck der Werkstatt subtrahiert, weil sich die Bildinhalte wie Puzzleteile verhielten, die nicht zueinander passten. Einige Schritte später nahm das Arrangement in meinem Kopf Gestalt an. Ich ging zurück und konnte nach eingehender Betrachtung nicht ausschließen, dass es sich um eine Installation von Damien Hirst handelte. Aber es war keiner in der Nähe, den man fragen konnte. Wie ausgestorben.
Ich wunderte mich darüber, dass der Anblick bizarr und abstoßend wirkte. Der Hirsch war fachgerecht ausgeweidet, und die scheinbar unpassende Umgebung hatte man aus pragmatischen Erwägungen gewählt. Im Supermarkt denkt man nicht über die rote, in Klarsichtfolie verpackte Masse nach, während man an langen Fleischregalen vorbeigeht. Gelernte Abstraktionen lassen vieles in der Unauffälligkeit verschwinden.
Auch in Italien gibt es Schilder, die davor warnen, Starkstrommasten zu besteigen. Würde sich jemand, der auf eine solche Stahlkonstruktion klettern will, von der pictographischen Darstellung eines Totenkopfs und dem Hinweis auf die Todesgefahr von seinem Vorhaben abbringen lassen? Oder sagt man sich: "Aha, Todesgefahr. Da muss ich jetzt aber doppelt aufpassen, dass ich nicht herunterfalle oder mir einen kleinen Starkstromschlag hole."
Leider konnte ich den Rückblick über die Tiroler Alpen nicht gebührlich genießen, da mich zwei zerschundene Zehen plagten.
In Niedervintl inspizierte ich die Zehen-Situation und beurteilte die Ansicht als ausreichend abstoßend, um sofort wieder in meine Schuhe zu steigen und weiterzugehen. Der Vorteil bei dieser Art von Schmerz besteht darin, dass man ihn kontrollieren und überwinden kann. So wie der Weg zur Entspannung über die Anstrengung führt, kann Schmerz eine Chance zur besseren Körperbeherrschung bedeuten.
An jenem Tag verließ ich die Massive der Zentral-Alpen, vor mir lagen die südlichen Kalkalpen. Seit vielen Jahren habe ich an die Dolomiten besonders schöne Erinnerungen. Manche Berge dieser Alpenregion wirken wie Kegel, die jemand in einer saftig grünen Landschaft aufgestellt hatte.
Bevor ich die Kreuzwiesenhütte erreichte, schenkte mir der Tag noch einen der letzen Rückblicke über die Gebirgskette der Zentralalpen.
(...)
Als mein Blick das ausgeweidete Tier beiläufig im Vorbeigehen streifte, ordnete ich die Szenerie nicht sofort in eine Kategorie des Außergewöhnlichen ein. Ein unterbewusster Wahrnehmungsmechanismus hatte den Anblick des gekreuzigten Hirschen vom Gesamteindruck der Werkstatt subtrahiert, weil sich die Bildinhalte wie Puzzleteile verhielten, die nicht zueinander passten. Einige Schritte später nahm das Arrangement in meinem Kopf Gestalt an. Ich ging zurück und konnte nach eingehender Betrachtung nicht ausschließen, dass es sich um eine Installation von Damien Hirst handelte. Aber es war keiner in der Nähe, den man fragen konnte. Wie ausgestorben.
Ich wunderte mich darüber, dass der Anblick bizarr und abstoßend wirkte. Der Hirsch war fachgerecht ausgeweidet, und die scheinbar unpassende Umgebung hatte man aus pragmatischen Erwägungen gewählt. Im Supermarkt denkt man nicht über die rote, in Klarsichtfolie verpackte Masse nach, während man an langen Fleischregalen vorbeigeht. Gelernte Abstraktionen lassen vieles in der Unauffälligkeit verschwinden.
Auch in Italien gibt es Schilder, die davor warnen, Starkstrommasten zu besteigen. Würde sich jemand, der auf eine solche Stahlkonstruktion klettern will, von der pictographischen Darstellung eines Totenkopfs und dem Hinweis auf die Todesgefahr von seinem Vorhaben abbringen lassen? Oder sagt man sich: "Aha, Todesgefahr. Da muss ich jetzt aber doppelt aufpassen, dass ich nicht herunterfalle oder mir einen kleinen Starkstromschlag hole."
Leider konnte ich den Rückblick über die Tiroler Alpen nicht gebührlich genießen, da mich zwei zerschundene Zehen plagten.
In Niedervintl inspizierte ich die Zehen-Situation und beurteilte die Ansicht als ausreichend abstoßend, um sofort wieder in meine Schuhe zu steigen und weiterzugehen. Der Vorteil bei dieser Art von Schmerz besteht darin, dass man ihn kontrollieren und überwinden kann. So wie der Weg zur Entspannung über die Anstrengung führt, kann Schmerz eine Chance zur besseren Körperbeherrschung bedeuten.
An jenem Tag verließ ich die Massive der Zentral-Alpen, vor mir lagen die südlichen Kalkalpen. Seit vielen Jahren habe ich an die Dolomiten besonders schöne Erinnerungen. Manche Berge dieser Alpenregion wirken wie Kegel, die jemand in einer saftig grünen Landschaft aufgestellt hatte.
Bevor ich die Kreuzwiesenhütte erreichte, schenkte mir der Tag noch einen der letzen Rückblicke über die Gebirgskette der Zentralalpen.
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