München - Venedig (VI): Verwischte Wirklichkeit
Der vierte Tag begann regnerisch. Mit der Überquerung der Birkkarspitze stand die Besteigung des höchsten Berges im Karwendel bevor. Auf dem Weg zwischen Hinterriß und dem Einstieg am Karwendelhaus verdichteten sich die schroffen Konturen.
Kurz bevor ich das Karwendelhaus erreichte, flog ein Hubschrauber der Bergwacht mit hoher Geschwindigkeit über mich hinweg in Richtung Gipfel. An einem Seil transportierten die Retter aus der Luft wenig später eine Trage ins Tal. Ob sich darauf eine Person befand, war von unten nicht zu erkennen. Auf halber Höhe zur Birkkarspitze kamen mir Leute entgegen, die von einem schweren Bergunglück berichteten und vor Steinschlag warnten. Tatsächlich konnte ich mich kurz darauf im letzten Moment unter einen Felsvorsprung kauern, bevor faustgroße Steine an mir vorbeipolterten. Es war sonnig und nicht mehr allzu kalt am frühen Nachmittag, aber gleichzeitig blies ein starker Wind, der im brüchigen Gestein kleine Lawinen auslösen konnte.
Absolute Geräuschlosigkeit findet man in der Natur nur bei Windstille in großen Höhen, wo keine Tiere mehr anzutreffen sind und keine Gletschergewässer oder Blätter rauschen. Wenige Male stand ich auf Bergen, wo man den eigenen Herzschlag hören konnte, wenn man seinen Atem anhielt. In der Weite des Raumes besaß diese Stille keine beruhigende Wirkung, sondern grub sich wie eine Kluft in die Seele. Erst die Geräusche meines Atems oder von Schritten und dem Knistern der Kleidung befreiten mich aus der Beklemmung.
Beim Überqueren der Birkkarspitze wurde die Stille vom Geräusch des Windes zerschnitten. Der Blick über die Welt unter mir hingegen war ungeteilt.
Im Gerüst der Erinnerungen ersetzen Fotos eine verwischte Wirklichkeit. Objektivität hinter dem Objektiv existiert nicht, nur eine unbegrenzte Anzahl von Subjektivitäten. Fotografie zeichnet keine Eindrücke auf, die im Kopf entstehen. Auf Lichtbildern ist nicht zu sehen, was das Auge hinter dem Auslöser festhielt, sondern ein ausgestanzter Teil der Szenerie. Betrachter begreifen die tiefgefrorenen Bruchstücke wiederum als Teile ihrer Realität und modellieren aus jedem Bild eigene Bilder. Aus der Vorlage entsteht in jedem Kopf ein unterschiedliches Bild, und die Unmöglichkeit von Objektivität überlagert das scheinbare Original, den Ausschnitt einer Wirklichkeit, im Moment seiner Betrachtung. Die Vorstellung des Betrachters besteht im Abbild des Abbildes. Originalität ist eine Illusion, denn auch der Fotografierende muss in der Ablichtung etwas anderes als in seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit erkennen. Und niemand kann ausschließen, dass die Wirklichkeit selbst eine Illusion ist.
Auf dem langen und beschwerlichen Abstieg ins Hinterautal konnte ich beobachten, wie Gämsen ein Schneefeld kreuzten, das ich anschließend selbst überquerte.
Oft enttäuschen Orte, die wir zuvor von Bildern kannten, weil die Wirklichkeit in ihrem gesamten Ausmaß den bildhaften Vorstellungen und daraus entstandenen Erwartungen nicht gerecht werden kann. Das Karwendel könnte selbst bei bester Fotografie und schlechtester Erfahrung kaum enttäuschen, zumindest die Faszination einer in sich gekehrten Wildheit kann dieser Gegend keiner absprechen.
Wenn man beim Lesen von Karten Namen wie Praxmarerkarspitze, Tratenköpfl, Hallerangeralm oder Lafatscherjoch begegnet, erscheint die deutsche Sprache wie Nebel über einem bedeutungstiefen Tal.
(...)
Kurz bevor ich das Karwendelhaus erreichte, flog ein Hubschrauber der Bergwacht mit hoher Geschwindigkeit über mich hinweg in Richtung Gipfel. An einem Seil transportierten die Retter aus der Luft wenig später eine Trage ins Tal. Ob sich darauf eine Person befand, war von unten nicht zu erkennen. Auf halber Höhe zur Birkkarspitze kamen mir Leute entgegen, die von einem schweren Bergunglück berichteten und vor Steinschlag warnten. Tatsächlich konnte ich mich kurz darauf im letzten Moment unter einen Felsvorsprung kauern, bevor faustgroße Steine an mir vorbeipolterten. Es war sonnig und nicht mehr allzu kalt am frühen Nachmittag, aber gleichzeitig blies ein starker Wind, der im brüchigen Gestein kleine Lawinen auslösen konnte.
Absolute Geräuschlosigkeit findet man in der Natur nur bei Windstille in großen Höhen, wo keine Tiere mehr anzutreffen sind und keine Gletschergewässer oder Blätter rauschen. Wenige Male stand ich auf Bergen, wo man den eigenen Herzschlag hören konnte, wenn man seinen Atem anhielt. In der Weite des Raumes besaß diese Stille keine beruhigende Wirkung, sondern grub sich wie eine Kluft in die Seele. Erst die Geräusche meines Atems oder von Schritten und dem Knistern der Kleidung befreiten mich aus der Beklemmung.
Beim Überqueren der Birkkarspitze wurde die Stille vom Geräusch des Windes zerschnitten. Der Blick über die Welt unter mir hingegen war ungeteilt.
Im Gerüst der Erinnerungen ersetzen Fotos eine verwischte Wirklichkeit. Objektivität hinter dem Objektiv existiert nicht, nur eine unbegrenzte Anzahl von Subjektivitäten. Fotografie zeichnet keine Eindrücke auf, die im Kopf entstehen. Auf Lichtbildern ist nicht zu sehen, was das Auge hinter dem Auslöser festhielt, sondern ein ausgestanzter Teil der Szenerie. Betrachter begreifen die tiefgefrorenen Bruchstücke wiederum als Teile ihrer Realität und modellieren aus jedem Bild eigene Bilder. Aus der Vorlage entsteht in jedem Kopf ein unterschiedliches Bild, und die Unmöglichkeit von Objektivität überlagert das scheinbare Original, den Ausschnitt einer Wirklichkeit, im Moment seiner Betrachtung. Die Vorstellung des Betrachters besteht im Abbild des Abbildes. Originalität ist eine Illusion, denn auch der Fotografierende muss in der Ablichtung etwas anderes als in seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit erkennen. Und niemand kann ausschließen, dass die Wirklichkeit selbst eine Illusion ist.
Auf dem langen und beschwerlichen Abstieg ins Hinterautal konnte ich beobachten, wie Gämsen ein Schneefeld kreuzten, das ich anschließend selbst überquerte.
Oft enttäuschen Orte, die wir zuvor von Bildern kannten, weil die Wirklichkeit in ihrem gesamten Ausmaß den bildhaften Vorstellungen und daraus entstandenen Erwartungen nicht gerecht werden kann. Das Karwendel könnte selbst bei bester Fotografie und schlechtester Erfahrung kaum enttäuschen, zumindest die Faszination einer in sich gekehrten Wildheit kann dieser Gegend keiner absprechen.
Wenn man beim Lesen von Karten Namen wie Praxmarerkarspitze, Tratenköpfl, Hallerangeralm oder Lafatscherjoch begegnet, erscheint die deutsche Sprache wie Nebel über einem bedeutungstiefen Tal.
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6 Comments:
Wow. Wenn es dieses Blog nicht gäbe, niemand könnte es erfinden.
Wie wahr!
rettender hechtsprung unter ein felsdach, das klingt nach abenteuer und kann die hose auch ohne sturm zum flattern bringen.
interessante abhandlung zur wahrnehmungstheorie von lichtbildern. man könnte das vom fotografen erstellte abbild der wirklichkeit durch empathie eventuell beser 'sehen'.
Ich fühle mich subjektiv ein Stück mtgenommen. Danke!
Sehr schön. Der Blick über die Berggipfel weckt die Sehnsucht, fliegen zu können.
Abschweifend von der Höhe der Berge; ich durfte absolute Stille, verbunden mit absoluter Dunkelheit, tief unter der Erde in Höhlen erleben. Beides war so ungewohnt, dass es unwirklich erschien. In diesem Zusammenhang scheint mir auch eine Auszeit in einer wüstenartigen Umbegung sehr intensiv zur Schärfung der Sinne.
/stilhäschen: Es soll nicht überheblich klingen, aber ... ich würde es mir zutrauen.
/Neobazi: Mit der Wahrheit verhält es sich wie mit der Wirklichkeit.
/MudShark: ... wenn man das Abbild der Wirklichkeit tatsächlich aus der Sicht des Fotografen sehen will, was bei guter Fotografie nicht unbedingt erforderlich ist.
/Eon: Ich fühle mich subjektiv bestätigt. Danke!
/Andie Kanne: Ich bin nicht klaustrophobisch veranlagt, aber deinen extremen Caving Erlebnissen zolle ich großen Respekt. In Wüsten war ich bislang nie allein, bestimmt kann man auch dort absolute Stille erleben ... solange die Geier nicht über einem kreisen ...
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