Donnerstag, Oktober 30, 2008

München - Venedig (X): Zum gekreuzigten Hirsch

Auf dem Weg von Pfunders nach Niedervintl kam ich am gekreuzigten Hirsch vorbei. Dabei handelte es sich nicht etwa um ein Wirtshaus, das von einem Besitzer mit Hang zum Sarkasmus geführt wurde, sondern um den unfreiwilligen Kunden einer Kfz-Werkstatt. Man hatte ihn an einem Strick bis unter die Decke des Raumes gezogen und seine Vorderläufe an einer Querstange fixiert. Die aufgeschnittene Bauchdecke klaffte weit auseinander. Tot-alschaden, irre-parabel.

Als mein Blick das ausgeweidete Tier beiläufig im Vorbeigehen streifte, ordnete ich die Szenerie nicht sofort in eine Kategorie des Außergewöhnlichen ein. Ein unterbewusster Wahrnehmungsmechanismus hatte den Anblick des gekreuzigten Hirschen vom Gesamteindruck der Werkstatt subtrahiert, weil sich die Bildinhalte wie Puzzleteile verhielten, die nicht zueinander passten. Einige Schritte später nahm das Arrangement in meinem Kopf Gestalt an. Ich ging zurück und konnte nach eingehender Betrachtung nicht ausschließen, dass es sich um eine Installation von Damien Hirst handelte. Aber es war keiner in der Nähe, den man fragen konnte. Wie ausgestorben.






















Ich wunderte mich darüber, dass der Anblick bizarr und abstoßend wirkte. Der Hirsch war fachgerecht ausgeweidet, und die scheinbar unpassende Umgebung hatte man aus pragmatischen Erwägungen gewählt. Im Supermarkt denkt man nicht über die rote, in Klarsichtfolie verpackte Masse nach, während man an langen Fleischregalen vorbeigeht. Gelernte Abstraktionen lassen vieles in der Unauffälligkeit verschwinden.

Auch in Italien gibt es Schilder, die davor warnen, Starkstrommasten zu besteigen. Würde sich jemand, der auf eine solche Stahlkonstruktion klettern will, von der pictographischen Darstellung eines Totenkopfs und dem Hinweis auf die Todesgefahr von seinem Vorhaben abbringen lassen? Oder sagt man sich: "Aha, Todesgefahr. Da muss ich jetzt aber doppelt aufpassen, dass ich nicht herunterfalle oder mir einen kleinen Starkstromschlag hole."



Leider konnte ich den Rückblick über die Tiroler Alpen nicht gebührlich genießen, da mich zwei zerschundene Zehen plagten.



In Niedervintl inspizierte ich die Zehen-Situation und beurteilte die Ansicht als ausreichend abstoßend, um sofort wieder in meine Schuhe zu steigen und weiterzugehen. Der Vorteil bei dieser Art von Schmerz besteht darin, dass man ihn kontrollieren und überwinden kann. So wie der Weg zur Entspannung über die Anstrengung führt, kann Schmerz eine Chance zur besseren Körperbeherrschung bedeuten.

An jenem Tag verließ ich die Massive der Zentral-Alpen, vor mir lagen die südlichen Kalkalpen. Seit vielen Jahren habe ich an die Dolomiten besonders schöne Erinnerungen. Manche Berge dieser Alpenregion wirken wie Kegel, die jemand in einer saftig grünen Landschaft aufgestellt hatte.



Bevor ich die Kreuzwiesenhütte erreichte, schenkte mir der Tag noch einen der letzen Rückblicke über die Gebirgskette der Zentralalpen.


(...)

8 Comments:

Blogger MudShark said...

tatsächlich dachte ich beim lesen des titels zunächst an eine wanderpause mit heftigem genuß von kräuterlikör. da hätte sicher auch die kaputten zehen für kurze zeit vergessen lassen.

31.10.08  
Blogger Christian 55 said...

Der Titel des von Damian Hirst in Formaldehyd eingelegten Tigerhais würde irgendwie auch zum gekreuzigten Hirsch passen: The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living. Nur würde der Hirschkadaver dann wohl so um die 50 Millionen Pfund kosten und kaum unbeaufsichtigt in einer Garage hängen...

31.10.08  
Blogger Frau H. said...

Wer Tier essen will, sollte auch eine Idee davon haben, wie man Tiere tötet. (Sie nicht, ich weiss. Ich schon..)
Und irgendwie mag ich das Foto. Herrlich! Die Hirst Assoziation ist nicht von ungefähr, nur DAS ist besser! Ich hätte jetzt nix gegen ein Hischgulasch mit Knödel, Rotkraut und Preiselbär... Wohlsein!

(Wortbestätigung: woodefe..hähä...)

31.10.08  
Blogger Jan Spengler said...

Beim Stichwort Dolomiten denke ich gerne an die Vorträge eines befreundeten Schlammhais zu geologischen/tektonischen Fenstern. Bei diesem Phänomen liegt das Gestein vormals kilometerhoher Berge durch Erosion nun offen an der Bodenoberfläche.

In meiner kindlichen Phantasie findet man dort faustgrosse Nuggets und Diamanten. Unter dem nächsten Stein, man muss ihn nur umdrehen...

1.11.08  
Anonymous Anonym said...

Tolle Fotos - später den rest ;-)

1.11.08  
Blogger Oles wirre Welt said...

so lange ich nicht wieder selbst auf pirsch und reise gehen kann, freue ich mich an diesen brillanten episoden und träume mich in die ferne.

4.11.08  
Blogger mq said...

/MudShark: Die betäubende Wirkung wäre ein Vorteil gewesen, aber bei heftigem Genuss derartiger Getränke neigt man dazu, auch den gesamten Rest zu vergessen.

/Christian 55: Vielleicht handelte es sich um eine Außenstelle seines Ateliers, und der Künstler hatte noch nicht signiert.

/Frau H.: Die von Ihnen beschriebene Mahlzeit würde auch ich nicht verschmähen, wenn ich den Hirsch eigenhändig er- und zerlegt hätte.

/Andie Kanne: Merci für den interessanten geologischen Hinweis. Man sollte mehr Steine umdrehen.

/Opa: Selten habe ich mich über einen Kommentar so sehr gefreut wie über diesen!

/Ole: Nun wirst du erstmal Beute der Jäger > deines Buches, die dann in deinen Geschichten reisen können.

9.11.08  
Anonymous Anonym said...

Sollten Sie mal auf die Jagd gehen wollen, Sir Quint, sagen Sie Bescheid... Ich habe zwar nicht wirklich eine Ahnung davon, wie man einen Hirschen (bei Hühnern und Fischen würde ich das wohl hinbekommen und dem Tod und der Zerlegung eines Schweines wohnte ich auch schon bei) fachgerecht in Gulasch verwandelt, aber na ja, so schwer kann es auch nicht sein. Ordentlich ausbluten und dann immer runter von den Knochen...

(Verdammt, ich muss 'mal wieder nach Franken!)

9.11.08  

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