Einfach mal aufhören
Einfach mal die Butter ohne Brot essen. Einfach mal dreitausend Schritte rückwärts gehen. Einfach mal die Haare mit Kernseife waschen. Einfach mal auf einer Autobahnbrücke stehen und Oden an den Verkehr singen. Einfach mal kein Risiko eingehen und alles auf Sieg setzten. Einfach mal Gespenstern auf den Geist gehen. Einfach mal Kant kapieren. Einfach mal vier Wochen lang keine Produkte kaufen, die man aus der Werbung kennt. Einfach mal zum lachen auf den Balkon gehen. Einfach mal eine neue Zahl erfinden. Einfach mal das eigene Bewusstsein in einen Gedankenfluss werfen und beobachten, wie es schwimmt. Einfach mal eine Brennnessel verpflanzen. Einfach mal das Internet auswendig lernen. Einfach mal mit geschlossenem Mund gähnen. Einfach mal zur Hölle fahren. Einfach mal die gegnerische Mannschaft anfeuern. Einfach mal auf einen Strommast klettern. Einfach mal einen Arzt behandeln. Einfach mal alles gut und richtig machen. Einfach mal alles gut und richtig finden. Einfach mal die Banane andersherum schälen. Einfach mal alle Geräusche in der überfüllten Straßenbahn imitieren. Einfach mal dem Papst eine Postkarte schicken. Einfach mal jeden Satz in einer anderen Tonlage wiederholen. Einfach mal zweifach. Einfach mal ein Passwort fürs Einschlafen festlegen. Einfach mal ein Loch zur inneren Mitte graben. Einfach mal hundert Tage lang flüstern. Einfach mal einem Obdachlosen eine Nacht im Vier Sterne Hotel spendieren. Einfach mal alle Schachpartien nachspielen. Einfach mal in Lagos Urlaub machen. Einfach mal die Medikamente nicht nehmen. Einfach mal aufhören. Einfach mal Luft holen. Einfach mal weitermachen.
Fremde Geschwindigkeit
R hätte sich auf seinen Instinkt verlassen sollen. Anstatt einzusteigen, hätte R das Angebot ablehnen, und sich durch die schwankende Straße weiter in jene Richtung bewegen sollen, wo er sein Hotel vermutete. Der Bordstein kam ihm gefährlich entgegen. R hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, die giftgetränkten Zellen widersetzten sich seinem Instinkt.
Aus dem dunklen Innenraum lockte eine vertraute Stimme. R kannte das Fabrikat nicht, der nachtfarbene Wagen rollte in einem Tempo neben ihm, das kaum höher war, als sein eigenes. Die schwarze Luft roch nach Benzin und Verwesung. R empfand die Geschwindigkeit als Provokation. Sie drängte ihn, seinen Gang zu beschleunigen. R hätte das Gegenteil tun sollen und auf der Stelle stehen bleiben, R hätte in eine andere Richtung laufen oder in einer schmalen Seitengasse verschwinden sollen. Aber die fremde Geschwindigkeit, wenig höher als seine eigene, vermittelte ihm das Gefühl, etwas zu verpassen. R hielt Schritt.
Die Tür stand weit offen. R hatte gezögert, einzusteigen. Aber schon in den ersten Momenten der Begegnung passte R seinen Gang der fremden Geschwindigkeit an. Es war keine bewusste Beschleunigung, vielmehr ein unaufhaltsamer Prozess. Dann versuchte R, den Wagen zu überholen und hinter sich zu lassen, aber bei jedem Versuch passte auch das Fahrzeug seine Geschwindigkeit an und war anschließend wieder schneller, kaum spürbar.
Nachdem die Tür geräuschlos zugefallen war, lehnte sich R im gepolsterten Sitz zurück. Die Stimme aus dem Inneren verstummte. Der Wagen beschleunigte, bis die Umrisse der Nacht schemenhaft vorbeizogen.
Zunächst sah R nur den Nacken des Fahrers. Der Mann kam ihm bekannt vor. R beugte sich nach vorn, und als er das Profil erkannte, erfasste ihn ein kindliches Staunen. R saß selbst am Steuer. Aber es war zu spät, R hätte seinen Blick auf die Straße richten sollen. Die falsche Entscheidung war längst getroffen.
Im letzen Moment entdeckte R mit einem flüchtigen Blick aus dem Fenster, wie R neben dem Wagen lief und sich zulächelte. Nach dem Aufprall stand R neben den Trümmern. R atmete. Die Luft roch verbrannt, es dämmerte ein zähflüssiger Morgen.Labels: R