Sonntag, Juli 20, 2008

Fremde Geschwindigkeit

R hätte sich auf seinen Instinkt verlassen sollen. Anstatt einzusteigen, hätte R das Angebot ablehnen, und sich durch die schwankende Straße weiter in jene Richtung bewegen sollen, wo er sein Hotel vermutete. Der Bordstein kam ihm gefährlich entgegen. R hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, die giftgetränkten Zellen widersetzten sich seinem Instinkt.

Aus dem dunklen Innenraum lockte eine vertraute Stimme. R kannte das Fabrikat nicht, der nachtfarbene Wagen rollte in einem Tempo neben ihm, das kaum höher war, als sein eigenes. Die schwarze Luft roch nach Benzin und Verwesung. R empfand die Geschwindigkeit als Provokation. Sie drängte ihn, seinen Gang zu beschleunigen. R hätte das Gegenteil tun sollen und auf der Stelle stehen bleiben, R hätte in eine andere Richtung laufen oder in einer schmalen Seitengasse verschwinden sollen. Aber die fremde Geschwindigkeit, wenig höher als seine eigene, vermittelte ihm das Gefühl, etwas zu verpassen. R hielt Schritt.


Die Tür stand weit offen. R hatte gezögert, einzusteigen. Aber schon in den ersten Momenten der Begegnung passte R seinen Gang der fremden Geschwindigkeit an. Es war keine bewusste Beschleunigung, vielmehr ein unaufhaltsamer Prozess. Dann versuchte R, den Wagen zu überholen und hinter sich zu lassen, aber bei jedem Versuch passte auch das Fahrzeug seine Geschwindigkeit an und war anschließend wieder schneller, kaum spürbar.


Nachdem die Tür geräuschlos zugefallen war, lehnte sich R im gepolsterten Sitz zurück. Die Stimme aus dem Inneren verstummte. Der Wagen beschleunigte, bis die Umrisse der Nacht schemenhaft vorbeizogen.


Zunächst sah R nur den Nacken des Fahrers. Der Mann kam ihm bekannt vor. R beugte sich nach vorn, und als er das Profil erkannte, erfasste ihn ein kindliches Staunen. R saß selbst am Steuer. Aber es war zu spät, R hätte seinen Blick auf die Straße richten sollen. Die falsche Entscheidung war längst getroffen.


Im letzen Moment entdeckte R mit einem flüchtigen Blick aus dem Fenster, wie R neben dem Wagen lief und sich zulächelte. Nach dem Aufprall stand R neben den Trümmern. R atmete. Die Luft roch verbrannt, es dämmerte ein zähflüssiger Morgen.

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7 Comments:

Anonymous Anonym said...

Auch als Triptychon sollte man die Nacht nicht vor dem (zähflüssigen) Morgen loben.

22.7.08  
Blogger MudShark said...

genau. und peinlich darauf achten, was man so in sich hineinschüttet.

pfui deifi. gerade eben wundere ich mich was hier so verbrannt stinkt und ob meine phantasie mit mir durchgeht. aber nein. irdischer gestank. eine fette fliege hat soeben in meinem halogen-deckenfluter suizid begangen.

lüften rechner aus. gut nacht.

22.7.08  
Blogger Christian 55 said...

Und die Moral von der Geschicht: Wer mit sich serlber kollidiert, kollabiert.

25.7.08  
Blogger Frau H. said...

Nehme R. doch einfach den Strang des Laufenden, manchmal tut es Wunder die Blickrichtung zu ändern. Altbekanntes Gesetz. (Ach...ich bin so gut im schön reden...ach...)

26.7.08  
Blogger mq said...

/Neobazifischt: Manchmal sind die Arme des zentralen Bildes nicht lang genug, um die Seitentafeln rechtzeitig zu schließen.

/MudShark: Hoffentlich ist die Luft wieder rein vom Gestank des gegrillten Chitin.

/Christian 55: Das hängt davon ab, in welcher Gewichtsklasse man vom gegnerischen Ich getroffen wird. Bei mir endet es in den meisten Fällen mit einem Remis.

/Frau H.: Man sollte ihm noch den Hinweis geben, sich den Strang des Laufenden keinesfalls um den Kragen zu knüpfen. Oder handelt es sich um ein Gummiband?

27.7.08  
Blogger mkh said...

Mitreißendes Bild. Verstehe es im ersten Lesen als Gleichnis für die Facetten der eigegen Persönlichkeit, die mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten nebeneinander herlaufen...

28.7.08  
Blogger mq said...

Da hast du mir einiges voraus. Ich verstehe es nämlich nach dem fünften Lesen immer noch nicht.

31.7.08  

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