Jetzt weiß ich gar nicht,
bin ich hinten verstehbar?
Sonst sprech ich lauter.
Ich habe applaudiert, da waren plötzlich alle Blicke auf mich gerichtet. Sogar der Alte neben mir tauchte aus seiner Versunkenheit auf, kratzte sich das Stoppelkinn und gab durch eingefallene Wangen ein schmatzendes Geräusch von sich. Gehörte das Haiku nicht zum Programm? Sollte es nicht der Verwirrung, sondern unter der Tarnkappe eines versehentlichen Versmaßes der Verständigung dienen? War es möglich, dass der Dichter meinte, was er sagte, ohne sprachliche Vorhängeschlösser, deren Schlüssel er in den Tiefen bedeutungszerwühlter Ozeane versenkt hatte? Der Raum erschien mir kleiner als eine Obstkiste und war höchstens zur Hälfte gefüllt, die hinteren Reihen blieben unbesetzt. Totensülze im Publikum. Verzeihung. Totenstille, meinte ich.
Ich bemühte mich um ein unauffälliges Verebben meines Applauses, was gründlich misslang und mit einem viel zu lauten, trotzig einsamen Geräusch endete. Weil das Haiku keine Kunst war, verstand ich den Anlass der Frage, ob der Dichter hinten verstehbar sei, nicht und regte mich darüber auf, dass ich mich schon zu Beginn der Veranstaltung verapplaudiert hatte. Bereits die erste Äußerung des Dichters, ein Gebrauchstext, fast frei von Hintergedanken, hatte mich zu einer Verapplaudierung verleitet! Das verstärkte aus meiner Sicht die Erwartung weiterer Missverständnisse und ließ mich aus der Sicht des Publikums wie ein Trottel aussehen. Zusätzlich blickte mich dieser Arroganzbolzen vom Podium herab nachsichtig über den Rand seiner randlosen Brille an. Gibt es eine schlimmere Herablassung als nachsichtige Blicke über den Rand einer randlosen Brille? Ich fürchtete mich vor den eigenen Gedanken und beschloss, für den Rest meines Lebens nie wieder Beifall zu klatschen.
Nach einer dramaturgischen Pause, die allein dazu diente, den Triumph über meine Verapplaudierung auszukosten, begann der Dichter, mit knarrender Theaterstimme Gedichte vorzulesen. So klingen die Sprecher beim Abspielen von verkratzten, hundertjährigen Schellackplatten. Seine Unterlagen hatte er zuvor demonstrativ einer Aldi-Plastiktüte entnommen. Schon während der ersten Worte beschloss ich, nie wieder eine Dichterlesung zu besuchen. Das beschließe ich jedes Mal. Die Ahnung nach meiner anfänglichen Verapplaudierung, dass auch der weitere Verlauf des Abends von Missverständnissen in der einseitigen Kommunikation zwischen dem Dichter und mir geprägt sein würde, bestätigte sich. Die Texte waren in imposanter Vollkommenheit unverständlich. Zeitgenössische Lyrik versteht sowieso kein Mensch, einschließlich der Autoren selbst. Aber dann las der Dichter einen Aufsatz, und ich konnte das Thema nicht ansatzweise erkennen, obwohl ich mich wie geisteskrank konzentriert habe. Zuerst dachte ich, es ginge um Menschen, die sich auf einem Berg begegnen, aber im Rückblick könnten es auch Fische gewesen sein, die sich in einer Wüste begegnen.
Grausamer als Dichterlesungen sind nur die Podiumsdiskussionen im Anschluss, die von einer mindestens doppelt promovierten Kuratorin oder Literaturvereinsvorstandsvorsitzenden moderiert werden. Im Vordergrund stehen dabei akademische Monologe, die bezeugen, wie gut die Doppelpromotion während ihres geisteswissenschaftlichen Studiums gelernt hat, sich selbst zuzuhören.
Der Dichter sagte wenig, löste aber mechanisches Nicken im Publikum aus, wenn er scheinbar beiläufig Namen wie Karoline von Günderrode oder Marie von Ebner-Eschenbach erwähnte. Mich lassen allein diese Namen vor den Werken zurückschrecken, und die Diskussion erinnerte mich an eine fast leere Zahnpastatube. Man denkt, es ist nichts mehr drin, aber mit einem angestrengten Drücken kommt doch immer wieder ein kleiner Klecks heraus. Und die Doppelpromotion drückte angestrengt auf den Dichter, diese fast leere Zahnpastatube, und immer wieder kam noch ein Wortklecks aus dem Dichter heraus, und ich fühlte die Wut in mir aufsteigen, denn es war stickig in diesem kleinen Raum, die Luft vom vielen Vorlesen und meiner geisteskranken Konzentration verbraucht.
Genau in dem Moment, als ich mich erheben und apokalyptische Feuersbrünste ankündigen wollte, beendete die Doppelpromotion das Ganze und lud zu einem Glas Wein ein. Wer Interesse hätte, der Dichter würde auch signieren. Noch ein erstaunliches Phänomen. Genau genommen sind es sogar zwei, aber den Wein lassen wir an dieser Stelle aus. Worin besteht der Nutzen, wenn ein Autor seinen Namen oder - noch schlimmer - eine Widmung in den Vorsatz kritzelt? Dann steht dort sowas wie: Für blabla, xy. Oder einfach nur: xy.
Um herauszufinden, worum es bei der Lesung ging, blätterte ich am nächsten Morgen im Feuilleton. Dort wurden die Inhalte der Veranstaltung eindrucksvoll erklärt, nur fragte ich mich, wo eigentlich ich am Vorabend war und ob ich mir das versehentliche Haiku und die Totensülze nur eingebildet habe.