Donnerstag, Februar 23, 2012

Hotel Carnivoria

In der Ecke pulsierte giftgrün die Senderanzeige eines Röhrenradios. Irgendwo zwischen dem Knistern vernahm Escher Zahlenkolonnen, vorgetragen von einer monotonen weiblichen Stimme. Sieben. Drei. Füneff. Füneff. Eins. Acht. Füneff. Sechs. Drei. Kurzwellenfrequenzrauschen umspülte die Zahlen wie verseuchtes Wasser.

Alles war abgenutzt, über Jahrzehnte beiläufig berührt und geglättet von tausenden Händen. Drei Neonbuchstaben hatten kalt und rot geglüht und den Weg ans Ende der Straße gewiesen. Es war eines jener Hotels ohne Sterne, in denen man eine überteuerte Unterkunft ohne Reservierung fand und keinem anderen Gast begegnete.

Der Nachtportier besaß Augenbrauen aus weißen Borsten, die über seiner Nasenwurzel ineinander wucherten. Er war blind. Am Schlüssel, den er Escher über den Tresen der Rezeption reichte, war ein schwerer Anhänger aus Messing angebracht, auf dem die Zimmernummer 17 stand. Umständlich und mit brüchiger Stimme erklärte der Mann, eher an sich selbst gerichtet, den Weg in den ersten Stock. Er schien dafür tief in seiner Erinnerung zu graben.

Escher kam es vor, als hätte er beim Betreten des Hotels das Alter seiner Umgebung angenommen. In der Minibar stand polnischer Wodka. Das Zimmer war kalt, es roch nach verbranntem Fett. Vom Heizkörper kam ein grimmiges Knirschen. Escher lag auf dem Bett, er hatte seinen Mantel nicht ausgezogen. Roter Neonschein drang von draußen durch einen Spalt im Vorhang. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Escher wusste, dass er niemals einschlafen durfte. Aus trockenen Augen starrte er an die Decke, die unendlich langsam näher kam. Tief aus dem Bauch des Hotels vernahm Escher ein Poltern. Der Hunger fraß sich langsam durch sein Bewusstsein.

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Samstag, Februar 11, 2012

Großes China

Ich bemerkte das Tier erst auf den dritten Blick. Der Hund sah aus wie ein geschrumpfter Bobtail. Verstohlen linste er aus der Handtasche seiner Besitzerin, die sich erkundigt hatte, ob der Platz neben mir noch frei sei. Ein Zug kann völlig überbucht sein, der letzte freie Platz befindet sich garantiert neben mir. Ursachen dafür sind mir nicht bekannt. Jedenfalls besitze ich keine Gesichtstätowierung, lege Wert auf Hygiene, trage keinen Lodenmantel und bevorzuge freundliche Umgangsformen.

Die Frau schätzte ich auf Mitte Fünfzig, und sie trug diese schlichte Art von Kleidung, der man nicht sofort ihren Preis ansieht. Nachdem sie den Bonsaihund abgestellt und sich niedergelassen hatte, fragte ich sie, wie man einen Bobtail schrumpft. Sie sah mich mit aufgerissenen Augen an und antwortete, dass es sich selbstverständlich um einen chinesischen Nackthund handelt. Ich dachte mir, alles klar, einwandfreier Fall von Vollmeisenkaiser, und fragte, ob sie ihm den zotteligen Fellmantel selbst gehäkelt hat. Sie lächelte und erklärte mir, dass bei dieser Rasse nur jeder zweite Wurf nackt geboren wird. Alle anderen chinesischen Nackthunde besäßen Haare. Großes China.

Ursprünglich seien die Nackthunde gezüchtet worden, um Schiffe frei von Ratten zu halten. Mit Seefahrern soll die Rasse nach Europa gelangt sein. In Frankreich wurden die Tiere angeblich von aristokratischen Damen gehalten, da sie gerne auf den Schößen ihrer Besitzer säßen. Angesichts eisiger Temperaturen in Schlossgemäuern fiele das unter Nutztierhaltung. Wenn ich ihn dazu auffordern würde, spränge auch dieser chinesische Nackthund sofort auf meinen Schoß, obwohl ich offensichtlich kein französisches Burgfräulein sei. Das Tier sah mich erwartungsvoll an. Allerdings solle ich unbedingt darauf verzichten, weil sie es nicht möge, wenn ihr Schoßhund sich auf Schöße setzt. Ich war erleichtert, denn zu keinem Zeitpunkt hatte ich daran gedacht, dieses zottelige Wesen zu irgendwas aufzufordern.

Nachdem sie mir Herkunft und Mechanismus des chinesischen Nackthunds erklärt hatte, erhob sich die Frau, um einen Kaffee im Bordrestaurant zu kaufen. Der Hund bleibe brav sitzen, meinte sie, der sei das gewohnt. Als sie entschwand, verließ der Hund augenblicklich die Handtasche und schaute seinem Frauchen hinterher. Wie in Gips gegossen verharrte er zwei Minuten und spazierte dann in Richtung Bordrestaurant, das sich im übernächsten Wagen befand.

Ruckzuck konnte sich dieses winzige Tier in den Weiten und Längen eines ICE verlieren oder in der falschen Tasche verschwinden. Irgendwie fühlte ich mich verantwortlich, weil ich doch inzwischen so viel über chinesische Nackthunde wusste. Ich ging ihm also hinterher, und weil ich seinen Namen nicht kannte, rief ich sowas wie "Hey, hallo Nackthund". Das war ein Riesenspaß für die Menschen im überfüllten Zug. Naturgemäß ignorierte der Hund meine Rufe. Am Ende des Wagons musste er feststellen, dass chinesische Nackthunde keine Schiebetüren in Zügen der Deutschen Bundesbahn öffnen können. Zwischen meinen Beinen hindurch marschierte er wieder in die entgegengesetzte Richtung. Gelächter von allen Seiten. Jeder amüsierte sich über diesen Idioten, der nichtmal einen Hund von der Größe einer Wärmflasche unter Kontrolle hatte.

Ich erwischte den Köter, nachdem er auf seinen Platz gesprungen war und nachsah, ob sich sein Frauchen inzwischen in ihrer Handtasche befand. Vorsichtig hielt ich das filigrane Tier zwischen Daumen und Zeigefinger am Halsband. Nachdem ich mich wieder gesetzt hatte, sprang der behaarte chinesische Nackthund sofort auf meinen Schoß und rollte sich zusammen.

Wenig später traf auch seine Besitzerin wieder ein. Sie sah mich vorwurfsvoll an, nahm den Hund von meinem Schoß und ließ ihn in der Handtasche verschwinden.

Ich weiß nicht, ob es stimmt, dass jeder zweite Wurf des chinesischen Nackthunds ein Fell besitzt. Diesen Informationsballast will ich jedoch keinesfalls durch leichtfertige Wahrheitsfindungsversuche gefährdet wissen.

Samstag, Februar 04, 2012

Sieben Scheiben

Vor ein paar Tagen stand ich im Supermarkt an der Käsetheke neben einem graubärtigen Mann. Der Alte trug einen Pelzmantel und ließ sich die Milchprodukte erklären. Ich erfuhr Details über Erzeugung, Aufzucht und Pflege des gesamten Käsesortiments. Die Verkäuferin kam unter ihrem weißen Häubchen in Fahrt und hielt ausführliche Fachreferate. Graubart und das Häubchen trieben sich gegenseitig zu Höchstleistungen an. Er dachte sich absurde Fragen über Lagerbedingungen, Reifegrade oder Kräuteranteile aus, und sie fand die ungeheuerlichsten Antworten.

Ich stand daneben und staunte so sehr über die Fähigkeit der Menschen, vollständig auf ihrem innersten Planeten zu leben und dennoch miteinander in Kontakt zu treten, dass ich die Inhalte des Dialogs kaum wahrnahm. Mir fiel nur auf, dass der Mann bei ungefähr jeder dritten Käsesorte eine Bestellung über sieben Scheiben aufgab, was sich aus seinem Mund anhörte wie "Siwwe Scheiwe". Ich hörte also einen für mich zusammenhanglosen Käsewortbrei und zwischendurch immer "Siwwe Scheiwe".

Die Zeit verging. Oder vielleicht wurde sie auch angehalten. Ich befand mich unter einer Käseglocke. Die Welt verwandelte sich in einen Camembert, der alles mit seinem Schimmel überzog. Und ich dachte mir, wenn ich noch einmal dieses "Siwwe Scheiwe" höre, verliere ich meinen Verstand und werde wahnsinnig.

Da war es wieder. "Siwwe Scheiwe". Viel zu laut, mit dem Zittern eines Irren in der Stimme, fiel ich dem Häubchen ins Wort und sagte zu dem Mann: "Die Sieben ist wohl Ihre Lieblingszahl?" Die beiden schauten mich mit aufgerissenen Augen an, es wurde vollkommen still. Man hätte einen Käsewürfel fallen hören können. Ich dachte mir, jetzt ist es soweit, jetzt werden Zombiefilme Wirklichkeit. Die Käsethekenzombies.

Dann schien es plötzlich, als fielen die Verkäuferin mit dem weißen Häubchen und der Mann mit dem grauen Bart in sich zusammen. Sie fragte, ob er noch weitere Wünsche hätte, was er verneinte. Die Käseliturgie hatte ein jähes Ende gefunden. Nachdem sie den Kassenzettel an die Papiertüte getackert und den Käse über den Tresen gereicht hatte, wendete sie sich mir mit ausdruckslosem, abgestumpftem Gesicht zu und erkundigte sich nach meiner Bestellung. Hurra. Ich war zurück im Supermarktalltag.

Gestern sah ich den Mann wieder. Er stand neben mir, im selben Supermarkt, vor einem Kühlregal. Mich erfasste ein eisiger Schauer. Dabei konnte ich mich nicht festlegen, ob die Kälte von dem Graubart oder vom Kühlregal ausging. Er nahm mich nicht wahr, während er Joghurtetiketten las. Nur Zombies lesen Joghurtetiketten, dachte ich. Dann nahm er mehrere Joghurtbecher derselben Sorte aus dem Regal und packte sie in seinen Einkaufskorb. Ich zählte mit. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Als er sich abwendete, sagte ich, eher zu mir selbst: "Das waren nur sechs." Daraufhin drehte er sich mechanisch um und nahm einen weiteren Joghurt. Essen Zombies Himbeerjoghurt? Er warf mir einen Blick zu, und jetzt war ich mir sicher, dass die Kälte nicht vom Kühlregal ausging.

Donnerstag, Februar 02, 2012

Sehr geehrte Gedanken,

auch wenn ich nicht weiß, woher ihr kommt und wohin ihr wollt, heiße ich euch als Gäste in meinem Kopf willkommen. Zum einen bleiben mir sowieso kaum andere Möglichkeiten, zum anderen wäre ein Leben ohne euch unvorstellbar. Das denke ich zumindest, übrigens ausschließlich mit eurer Unterstützung.

Denke ich euch oder denkt ihr mich? Seid ihr ich, oder bin ich nur ein kleiner Teil von euch? Manchmal erscheint ihr mir so fremd, dass ich euch nicht als Teil von mir betrachte. Ihr scheint euch ständig selbst zu erschaffen und seid doch nur ein Ergebnis von organischen Prozessen. Wenn es mich nicht mehr gibt, findet auch ihr ein Ende.

Einige von euch sind mit schwindelerregendem Tempo unterwegs, so dass ich sie auf ihrer Durchreise nur andeutungsweise oder verschwommen wahrnehme. Andere nisten sich als Untermieter wohnlich bei mir ein. Manche benehmen sich völlig daneben, besitzen keine Umgangsformen, sind laut, ordinär, pöbeln und stinken. In den seltensten Fällen führt eine Räumungsklage zum Ziel. Ich akzeptiere die Kopfbesetzer, wie sie kommen und irgendwann auch wieder gehen.

Und manche von euch vermisse ich, schon bevor sie sich verabschieden. Beim Versuch, sie festzuhalten, bin ich auf unzulängliche Sprachen angewiesen. Auf dem Weg vom Kopf in den Mund oder die Hand verändern sie sich. Sie erlauben meiner Sprache nur, was ihnen gefällt. Wenn ich sie dann mit anderen Köpfen teile, pflanzen sie sich darin fort oder verrotten im Kompost der Gedanken.

Am liebsten schreibe ich sie mit einer Möwenfeder in den Sand einsamer Strände, kurz bevor die Flut kommt.

Mit (ge)dankenden Grüßen,
mq