Mittwoch, Oktober 06, 2010

Beziehungskistenbastlerpornoszenen im Lichtspieltheater

Der Pornokinobesuch war auch jugendlichem Interesse geschuldet, aber vor allem war ich nach durchtrampter Nacht quer durch die geteilte Republik erschöpft und fror im grauen Morgen der Stadt. Der dämmernde Tag war eine Mischung aus Nebel und schwebendem Nieselregen, als ob das Wasser schwerelos in der Luft des Häusermeeres stand.

Das Pornokino am Bahnhof war durchgehend geöffnet, kostete sechs Mark fünfzig Eintritt und lockte neben der neuen Erfahrung mit der Aussicht auf einen warmen Schlafplatz. Die neonbeleuchtete Frau an der Kasse hatte schwammige Haut und einen naturblonden Schnurrbart. Sie riss ein Ticket von der Rolle, ohne meinen Ausweis zu verlangen.

Es roch muffig, aber damals durfte man im Kino noch rauchen. Ich drehte mir eine Zigarette und angelte die Büchse Bier von der letzten Autobahntankstelle aus dem Seesack. Dann starrte ich auf glänzendes, zuckendes Fleisch, bis die Leinwand vor meinen Augen verschwamm. Als ich aufwachte, war die Kippe verglüht und hatte ein Loch im roten Samt der Armlehne hinterlassen. Die Dramaturgie der Filme war identisch, das Geschehen wurde professionell, technisch präzise und zielgerichtet vorgetragen. Alle Szenen wirkten trotz der vorgetäuschten oder vielleicht auch natürlichen Lust der Darsteller steril und beinahe so sachlich wie in den Filmen aus der Landesbildstelle, wenn allerlei Fauna im Biologieunterricht kopulierte. Ich rauchte noch eine Zigarette, dann verließ ich den Saal. Es blieb mein einziger Besuch in einem Pornokino.

Den Beziehungskistenbastlerpornos mit ihren als Kunst getarnten Sexszenen, die uns bis in die Nachmittagsvorstellungen der großen Lichtspielhäuser verfolgen, entkommt man hingegen nur durch Medienabstinenz. Diese hinterhältigste Form der Pornografie ist eine als Filmkunst getarnte Lichtspieltheaterpornografie. Wenige Regisseure widerstehen der Versuchung, an den unpassendsten Stellen ihrer Beziehungskistenbastelfilme intime Turnübungen einzuflechten und experimentell auszuleuchten. Hinterher wird das niederträchtige Werk als Filmkunst deklariert, und jedes Mal stellt sich die Frage, in welchem Zusammenhang diese Szenen zur Handlung beitragen sollen, oder ob es sich bei der Nackedeierei nur um eine temporäre Überbrückung von Prüderie handelt, quasi moralisch korrekten Pornokonsum, weil der Film wegen der experimentellen Ausleuchtung und beschwipsten Kameraführung als Kunst deklariert wurde. Geschlechtsakte sind ebenso wie das gemeinsame Einkaufen ein Teil von Beziehungen, aber wie häufig werden Paare experimentell beim Einkaufen ausgeleuchtet?

In Zeiten von Filmen wie "Wenn die Gondeln Trauer tragen" war der Alltag nicht mit Nacktheit zugepflastert, und entblößte Brüste erzeugten noch eine erotische Wirkung. Inzwischen sind filmische Sexszenen so geheimnisvoll wie Gähnen mit Mundgeruch. Spannung entsteht in solchen Momenten höchstens, wenn man möglichst unverhohlen die Sitznachbarn beobachtet. Aber aufregend werden Filme sowieso erst, wenn jemand ein Schiff über einen Berg im Urwald zieht oder andere scheinbare Unmöglichkeiten in die Tat umsetzt. Mit Erotik hat das meistens ebenso wenig zu tun wie die Beziehungskistenbastlerpornografie. Aber es ist kurzweiliger.

6 Comments:

Blogger mkh said...

Meine Sexwahrnehmung bei "Wenn die Gondeln Trauer tragen" verbuche ich in meinen Erinnerungsarchiven nicht unter Pornokonsum, sondern irgendwo beim Thema Innigkeit. Ohnehin schwant mir noch heute, dass Sex stark abweichende Qualitäten aufweisen kann und auch die besten Erlebniseinkäufe meiner Konsumentenbiografie kamen nie an dessen gelungenste Variationen heran, während seine schlechtesten Facetten besser durch jeden Stadtbummel ersetzt worden wären. Ziemlich genauso ist das irgendwie mit den guten und den schlechten Filmen.

6.10.10  
Anonymous Frau H. said...

Ein Pornokino gehört zu den Dingen (neben einem "Club") zu den Orten, die ich schon immer im Leben 'mal aufsuchen wollte. Leider habe ich es bisher nur bis zu den Auslagefensterchen des "Salambo" (oder war's der Safarie-Club? Egal., da gab's mal "LiveSex" auf der Bühne...und ein Freund von mir wollte unbedingt rein. Mir allerdings reichten die Auslagefensterchen...zumal der Spaß auch noch 12 € Eintritt kosten sollte, von den völlig überzogenen Getränkepreisen - ein Getränk MUSSTE man - 'mal abgesehen, das war mir für fünf Minuten einfach zu viel...ein Fehler vielleicht) geschafft.
Was die Filmerotik angeht, so gibt es wohl kaum einen Film, den ich erotischer fand, als "Verhängnis". Vor allem der Dreckrand an der Badewanne und die zerrissenen Strümpfe hatten es mir angetan.... Wundervoll!

7.10.10  
Blogger 100 Goldfischli said...

Dieser Eintrag ist eine Filmkritik von 9 Songs, oder?

In diesem Werk ist allerdings nichts experimentell ausgeleuchtet, sondern alles sehr explizit.

8.10.10  
Blogger Herr MiM said...

Tolle Text. Gefällt mir sehr gut. Man kann sich gut in den Worten treiben lassen.

10.10.10  
Blogger mq said...

/mkh: Es kommt darauf an, in welcher Stadt man sich befindet. Hinsichtlich mancher Orte wäre selbst die mieseste Sexfacette eine Alternative, die man durchaus in Erwägung ziehen könnte.

/Frau H.: Dreckrand an der Badewanne und zerrissene Strümpfe? Klingt immerhin spannender als ein lauwarmer Piccolo für 12 Euro plus Spesen.

/100 Goldfischli: Kenne ich nicht. Danke für den Tipp, die Handlung klingt fast so originell wie >manche Pornotitel.

/Herr MiM: Danke, ich treibe es auch gern mit den Worten.

24.10.10  
Anonymous The Plinkster said...

Wie immer - dein Blog ist hoch erfreulich, schmunzeln garantiert

4.2.11  

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