Betonmutanten
Sperrgebiet
Wie an allen militärischen oder polizeilichen Kontrollposten weltweit, ist auch hier das Fotografieren verboten. Mein Versuch bleibt nicht unbemerkt, der Fahrer zischt durch seine Zahnlücke: "Don't take any pictures of the cops!" Nachdem wir die Absperrung hinter uns gelassen haben, kommt auf den verbleibenden 18 Kilometern nach Tschernobyl kein Fahrzeug mehr entgegen. Bunte Herbstwälder, wie im Indian Summer, dazwischen Grassteppe. Bislang wusste ich ungefähr über dieses Land, dass es die Heimat talentierter Boxer ist, Gogol für mich zu den wichtigsten Erscheinungen der Literaturgeschichte zählt und während eines Irlandaufenthalts vor einigen Jahren in jedem Pub Chicken Kiev auf der Speisekarte stand.
Indian Summer
Die Fahrt von der ukrainischen Hauptstadt ins Sperrgebiet dauerte etwa zwei Stunden. Während wir in Richtung Reaktor fahren, erzählt Maxim, dass im letzten Jahr ein amerikanisches Kamerateam anreiste und darauf bestand, Mutanten zu filmen. Es gibt in der Zone Tschernobyl aber keine Mutanten, sondern nur Arbeiter und Wissenschaftler, die mit der Sicherung radioaktiver Anlagen beschäftigt sind sowie Polizisten und Soldaten, die sich um die Sicherung der Arbeiter und Wissenschaftler und des Areals im Großen und Ganzen kümmern. Und dann gibt es noch die Menschen, die hierher zurückgekehrt sind, weil sie ihre Heimat vermisst haben oder nicht wussten, wohin sie sonst gehen sollten. Die Wälder werden von einer zunehmenden Anzahl von Hirschen, Wölfen und Bären bevölkert. Radioaktivität hindert die Tiere nicht daran, sich ihren Lebensraum zurück zu erobern. Das amerikanische Kamerateam reiste wieder ab, man wollte keine Wölfe, Bären oder normale Menschen filmen. Mindestens Mutanten oder gar nichts.
Betonmutant
Neben der Straße ragt ein grauer Sarkophag wie ein Raumschiff aus der Landschaft und erinnert mich an nichts, was ich bislang gesehen habe. Daneben hat die französische Firma Novarka ein Betonwerk errichtet. Das Unternehmen ist mit der Instandhaltung der verwitterten Versiegelungen beauftragt. Die Geigerzähler ticken unaufgeregt. Nieselregen legt sich wie ein feines Netz über das Gesicht.
Novarka
In Pripjat, der Stadt nahe des Kernreaktors 4, wo einst rund 50.000 Menschen angesiedelt waren, leben nur noch Gespenster. Beim Gang durch die Ruinen spürt man ihren Atem im Nacken. Morbide Plattenbauten, Hochhäuser zerfallen, die Natur nimmt mit der gleichen Rücksichtslosigkeit wie zuvor der Mensch von allem Besitz. Nur zeigt sie dabei mehr Gelassenheit. Mit tausend Bussen wurde die Bevölkerung am Tag nach dem Unglück in verschiedene Teile der Sowjetunion evakuiert. Neben Ausweispapieren und einem Kleiderkoffer durften Lebensmittel für einen Tag mitgenommen werden. Man hatte den Leuten gesagt, dass sie ihre Wohnungen vorübergehend verlassen müssen.
Bäume besiegen Beton
Zwischen den Rippen der Betonskelette findet man verwitterte Spuren einer Zivilisation, die an technische Errungenschaften der Atomphysik und ihr Heil für den Fortschritt im Arbeiter- und Bauernreich glaubte.
Wandgemälde im ehemaligen Kulturzentrum
Bis zum Größten Anzunehmenden Unfall ging es den Menschen hier nicht schlecht. Sie genossen im Vergleich mit anderen Regionen der Sowjetunion überdurchschnittliche Einkommensverhältnisse und lebten innerhalb der kommunistischen Vorstellung moderner Infrastrukturen. Es gab Versammlungsstätten, Supermärkte, ein Kino, verschiedene Sporthallen und zwei Schwimmbäder.
Sprungtürme
Ich stehe am Rand des leeren Schwimmbeckens und stelle mir vor, wer zuletzt von einem der Türme sprang. Dort oben könnte eine beliebige Person stehen, ein ungelenker Junge etwa oder ein Mädchen mit langen Zöpfen oder ein dickbäuchiger Mann mit Glatze und schwarzen Haaren auf dem Rücken. Immer sind es Kleinigkeiten, die uns die größten Katastrophen begreifen lassen.
Riesenrad im Herbst
Der Vergnügungspark sollte am 1. Mai 1986 eröffnet werden, fünf Tage nach der Reaktorexplosion. Vielleicht steht in Pripjat seit fast einem Vierteljahrhundert der einzige Autoscooter der Welt, in dem noch nie Kinder gefahren sind.
Autoscooter
Den Wölfen, Bären und anderen Tieren sei das wilde Paradies gegönnt. Und es ist kein Geheimnis, wie stark unsere Industrie auf gewaltige Mengen an Strom angewiesen ist. Dennoch empfehle ich den Befürwortern von Atomenergie eine Besichtigung der Betonmutanten von Tschernobyl.
Der tödliche Reaktor 4
Der letzte Kernreaktor im Sperrgebiet, Nr. 3, wurde vor zehn Jahren abgeschaltet.
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Der >Artikel zu Tschernobyl in Wikipedia ist lesenswert, vor allem die Chronologie der Ereignisse im April 1986.
Indian Summer
Die Fahrt von der ukrainischen Hauptstadt ins Sperrgebiet dauerte etwa zwei Stunden. Während wir in Richtung Reaktor fahren, erzählt Maxim, dass im letzten Jahr ein amerikanisches Kamerateam anreiste und darauf bestand, Mutanten zu filmen. Es gibt in der Zone Tschernobyl aber keine Mutanten, sondern nur Arbeiter und Wissenschaftler, die mit der Sicherung radioaktiver Anlagen beschäftigt sind sowie Polizisten und Soldaten, die sich um die Sicherung der Arbeiter und Wissenschaftler und des Areals im Großen und Ganzen kümmern. Und dann gibt es noch die Menschen, die hierher zurückgekehrt sind, weil sie ihre Heimat vermisst haben oder nicht wussten, wohin sie sonst gehen sollten. Die Wälder werden von einer zunehmenden Anzahl von Hirschen, Wölfen und Bären bevölkert. Radioaktivität hindert die Tiere nicht daran, sich ihren Lebensraum zurück zu erobern. Das amerikanische Kamerateam reiste wieder ab, man wollte keine Wölfe, Bären oder normale Menschen filmen. Mindestens Mutanten oder gar nichts.
Denkmal Feuerwehrleute
Am Weg steht ein Denkmal, das zur Erinnerung an die Feuerwehrleute errichtet wurde, die innerhalb weniger Tage und Wochen in der Strahlenhölle umkamen. Erst vier Tage nach dem Unfall, als in Schweden erhöhte radioaktive Werte gemessen wurden, haben die alten Männer im Kreml das Reaktorunglück unter dem Druck der westlichen Welt offiziell bekannt gegeben. Der damalige Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Sergejewitsch Gorbatschow, soll bei der Verschleierung der Ereignisse eine maßgebliche Rolle gespielt haben.Betonmutant
Neben der Straße ragt ein grauer Sarkophag wie ein Raumschiff aus der Landschaft und erinnert mich an nichts, was ich bislang gesehen habe. Daneben hat die französische Firma Novarka ein Betonwerk errichtet. Das Unternehmen ist mit der Instandhaltung der verwitterten Versiegelungen beauftragt. Die Geigerzähler ticken unaufgeregt. Nieselregen legt sich wie ein feines Netz über das Gesicht.
Novarka
In Pripjat, der Stadt nahe des Kernreaktors 4, wo einst rund 50.000 Menschen angesiedelt waren, leben nur noch Gespenster. Beim Gang durch die Ruinen spürt man ihren Atem im Nacken. Morbide Plattenbauten, Hochhäuser zerfallen, die Natur nimmt mit der gleichen Rücksichtslosigkeit wie zuvor der Mensch von allem Besitz. Nur zeigt sie dabei mehr Gelassenheit. Mit tausend Bussen wurde die Bevölkerung am Tag nach dem Unglück in verschiedene Teile der Sowjetunion evakuiert. Neben Ausweispapieren und einem Kleiderkoffer durften Lebensmittel für einen Tag mitgenommen werden. Man hatte den Leuten gesagt, dass sie ihre Wohnungen vorübergehend verlassen müssen.
Bäume besiegen Beton
Zwischen den Rippen der Betonskelette findet man verwitterte Spuren einer Zivilisation, die an technische Errungenschaften der Atomphysik und ihr Heil für den Fortschritt im Arbeiter- und Bauernreich glaubte.
Wandgemälde im ehemaligen Kulturzentrum
Sprungtürme
Ich stehe am Rand des leeren Schwimmbeckens und stelle mir vor, wer zuletzt von einem der Türme sprang. Dort oben könnte eine beliebige Person stehen, ein ungelenker Junge etwa oder ein Mädchen mit langen Zöpfen oder ein dickbäuchiger Mann mit Glatze und schwarzen Haaren auf dem Rücken. Immer sind es Kleinigkeiten, die uns die größten Katastrophen begreifen lassen.
Riesenrad im Herbst
Autoscooter
Der tödliche Reaktor 4
Der letzte Kernreaktor im Sperrgebiet, Nr. 3, wurde vor zehn Jahren abgeschaltet.
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Der >Artikel zu Tschernobyl in Wikipedia ist lesenswert, vor allem die Chronologie der Ereignisse im April 1986.
15 Comments:
Gelungene journalistische Spurensuche mit investigativem Potenzial. Oder anders: Fotos und Sprachbilder schaffen Stimmungen. Und die kommen auch 24 Jahre danach nicht leichtfüßig daher. - Gern gelesen!
Wieder mal ein sehr gelungener Artikel mit Gänsehaut-erzeugender Atmosphäre. Die Fotos könnten als Hintergrund eines düsteren Adventures dienen ... zu dumm, dass es hier nicht um Fiktion geht.
Meine Verneigung, Herr MQ ;-)
Zap
mich erinnern solche gebäude immer an ein ballerspiel: doom.
Ich besitze zu Hause einen Bildband mit dem Namen "Sperrzonen: Pripyat and Chernobyl", der nichts anderes zeigt als photografische Aufnahmen der Region und wie es dort heute aussieht. Beeindruckend wie sich die Natur alles wieder zurück holt.
Ich persönlich mag solche Aufnahmen sehr. Sie sind beeindruckend und bewegen mich.
Danke diesen Post. Der hat mir mehr als nur gefallen.
Gibt es irgendeinen Ort der Welt, wo sie noch nicht waren? Wahrscheinlich haben sie sogar irgendwo auf einem alten USB-Stick noch Bilder von ihrer geheimen Marsmission 1982. Wenn ich einen Hut hätte, würde ich ihn direkt ziehen und auch werfen.
Diese traurige Geschichte erinnert mich an die Redensart eines Physikers, dass der Mensch nicht die Natur zerstört, sondern nur seinen eigenen Lebensraum. An die Aussage muss ich oft denken, ich kann sie beinahe täglich beobachten, wenn sich Krähen ihr Fleisch von einem für Menschen unbewohnbaren Autobahnkreuz picken, wenn Klee durch Stahlbeton bricht oder Bakterien wieder gegen ein Penizillin immun geworden sind.
Treffend deine Feststellung, dass es immer die Kleinigkeiten sind, die uns die größten Katastrophen begreifen lassen. Erst die Banalitäten ermöglichen unserem Geist wohl einen fassbaren Zugang.
Sehr eindrucksvolle Reportage - vielen Dank!
... ähm ... ... ... ... Sie haben da nicht zufällig den Herrn Escher getroffen?
"Immer sind es Kleinigkeiten, die uns die größten Katastrophen begreifen lassen." punkt. ja. ist so. und der rest ist auch gut, aber das wurde ja alles schon gesagt. chapeau!
So sehr ich dem Blogzirkus zwischenzeitlich entschwunden bin und mich andernorts getummelt hab: Gerade Deine Texte, gerade solche wie dieser machen Lust auf Rückkehr, auf Wiederlesen und überhaupt!
Bester Sir MQ, mit dieser Reise haben Sie etwas getan, was ich, seit ich einen Film über eben jenes von der Natur zurückeroberte Menschenniemandsland (ein Kamerateam verfolgte eine Katze auf ihrem "Weg" hindurch...und beschrieb eben jenes, was auch Sie so trefflich beschreiben) gesehen habe, auch gerne 'mal tun würde... Und so bewundere ich an dieser Stelle neben der großartigen Beschreibung des Erlebten, vor allem Ihre Tatkraft... Und sage DANKE! Einfach nur so.
Irsinns Hallenbad-Foto und überaus lesenswerter Reisebericht, wenn ich auch mal förmlich loben darf.
"Mindestens Mutanten oder gar nichts." könntest du an RTL als Slogan für ihre Casting-Shows verkaufen.
/mkh: Man bewegt sich in jener Gegend tatsächlich nicht leichtfüßig. Umso besser, wenn es gelungen sein sollte, das bleierne Gefühl anzudeuten.
/Zap: Zwischenzeitlich beschlich mich der Gedanke, dass es sich um ein düsteres adventure game gehandelt hat. Aber das hektische Ticken des Geigerzählers, als Maxim das Gerät über eine bestimmte moosbewachsene Stelle im aufgerissenen Asphalt des traurigen Vergnüguungsparks gehalten hat, war allzu real - und wird es für die nächsten paar Millionen Jährchen bleiben. Vielleicht ist das ganze Dasein ein düsteres adventure game. Anyway, keep on playing.
/MudShark: Innerhalb der Gebäude, die zur Besichtigung vorgesehen sind, darf man sich frei bewegen, und mich hätte es nicht überrascht, wenn während der Erkundung hinter irgendwelchen Ecken - frei nach Doom - schwerstbewaffnete Mutanten gelauert hätten. Aber in dieser Hinsicht wurde bereits das amerikanische TV-Team enttäuscht.
/Herr MiM: Um die Natur müssen wir uns, selbst im Fall eines globalen Atomkriegs und der Zündung sämtlicher nuklearer Sprengköpfe, keine Sorgen machen. Sie wird sich einen verseuchten Kehricht um menschliche Befindlichkeiten kümmern und beharrlich fortbestehen, solange in den Tiefen irgendeines Ozeans ein Mikroorganismus überlebt. Das war die gute Nachricht.
/c.s.: Die Negative wurden damals, unter dem Einfluss von atmosphärischer Strahlung, leider stark beschädigt. Beim nächsten Ausflug in die Galaxie verwende ich Digitalfotografie, versprochen.
/Andie: Wie jede andere Lebensform, ist der Mensch nur sich selbst wichtig. Wir können problemlos ohne die tausenden von Arten, die wir bereits ausgerottet haben, weiter existieren. Umgekehrt wäre es genauso.
/100 Goldfischli: In diesem Fall hätte ich sofort versucht, einen Kontakt zum erwähnten amerikanischen TV-Team herzustellen.
/queen of maybe: In weitaus selteneren Fällen sind es die größten Katastrophen, die uns geringste Kleinigkeiten begreifen lassen.
/Ole: Deine Auftritte fehlen dem Zirkus. (Aber du hast recht, es gibt soviele andere Bühnen, Logen und Balkone.) Anyway, keep on playing. (Und schön, wieder von dir zu lesen!)
/Frau H.: Bestimmt hat sich die Katze mit wichtigeren Dingen als der Vergangenheit beschäftigt. Das vermutete Fehlen von Vergangenheit und Zukunft zählt überhaupt zu den merkwürdigsten Faszinationen, die von der Tierwelt ausgehen. Während wir Menschen gefüllte Vakui aneinanderreihen, stehen Inhalte und Daseinszweck für die Viecher bedingungslos fest. Welches Übel ist nun größer?
/Burnstl: 1A Idee! Da steckt weiteres Potenzial drin, z.B. "Maximalmutanten" oder "Mutantenparade" etc. Wer die Idee zuerst an die Privatverdummung verkloppt, zahlt eine Runde Schnaps.
Hat man eine Wahl?
Was ist denn das für eine Frage. Man hat immer eine Wahl.
Also haben Sie entschieden, ein Menschlein sein zu wollen, statt eines Vögleins? Respekt!
(Ihnen würde ich das sogar irgendwie zutrauen... ;)...)
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