Freitag, September 28, 2012

Am Totpunkt

Von den Kanten der gotischen Gemäuer starrten sie auf ihn herab. Ein Rinnsal schwarzer Brühe suchte seinen Weg durch die Fugen. Auf dem Pflaster ruhte eine Taube mit gespreizten Flügeln und zerquetschtem Kopf.

In ihren entstellten Gesichtern spiegelten sich Spott und Hohn aus Jahrhunderten. Escher vernahm die unausgesprochenen Flüche der Wasserspeier, ein Zischen hinter steinernen Stirnen. Ihre Schatten verfolgten ihn im Schein der Zeit. Aus Abscheu gegen die Hoffnungen eines nahenden Tages atmete die Stadt mit letzter Kraft ihre Bösartigkeit in seinen Nacken.

Hinter den Mauern türmten sich ungeschriebene Seiten über zahllose Leben. Nur eine zufällige Essenz gelangt durch die verdreckten Filter der Geschichte ins Bewusstsein kommender Generationen. Der unermessliche Rest vergilbt ungelesen in der Bibliothek der Bedeutungslosigkeit. Hier würde auch der Band über sein eigenes Dasein irgendwann archiviert, zwischen Milliarden anderen inhaltsleeren Werken.

Aber in dieser Nacht war sein Opfer der Tod, den er auf seinem ziellosen Heimweg überwältigen und ausrauben würde. Escher hörte, wie sich die Schritte steinerner Stiefel näherten. Er nahm die klammen Hände aus den Taschen seines Mantels. Und ohne Furcht bog er um die Ecke.


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Mittwoch, September 19, 2012

Sehr geehrte Damen und Herren Hasspredigerinnen,

sollte sich in der Anrede ein protokollarischer Fehler eingeschlichen haben, bitte ich dies damit zu entschuldigen, dass es sich beim Verfasser dieses Schreibens um einen Unwissenden handelt.

Wieder einmal beschäftigt sich die Welt mit einer Laus, die über die islamische Leber gelaufen ist. Die Hassmaschine wurde angekurbelt, obwohl es sich bei dieser Lausart um harmloses Ungeziefer handelt, das man nicht mit allen Mitteln vernichten muss, sondern einfach ignorieren könnte. Ich habe jenen Film, in dem Ihr Prophet auf eine offenbar unappetitliche Weise dargestellt wird, nicht gesehen. Aus einem vollständig unreligösen, aber hoffentlich dennoch verständlichen Grund gedenke ich nicht, dies nachzuholen: Das Leben ist zu kurz, um sich jeden Scheißfilm anzusehen.

Auch meine Gefühle werden in weltanschaulicher Weise verletzt, wenn ich an sogenannte Talentshows oder anderen audiovisuellen Müll denke, aber spreche ich deswegen eine Fatwa gegen Dieter Bohlen aus? Oder hasse ich den gesamten Islam und trample auf einer brennenden saudiarabischen Flagge herum, weil ich seit 2001 kein Taschenmesser mehr mit mir führe? (Nach den religiös motivierten Anschlägen auf das World Trade Center wurden mir am Flughafen mehrfach Taschenmesser abgenommen, weil ich mich nicht daran gewöhnen konnte, dass man im Besitz dieser ungefährlichen Utensilien kein Flugzeug mehr besteigen durfte. Zuvor war seit meiner Kindheit kein Tag vergangen, an dem ich das Haus ohne Klappmesser in der Hosentasche verlassen habe.) Soll ich eine gesamte Religionsgemeinschaft hassen, weil vereinzelte Irre Hunderte von Menschen getötet haben und ich nebenbei einer nützlichen und vertrauten Angewohnheit beraubt wurde?

Ist einer von Ihnen bereits auf die Idee gekommen, Ihren Glaubensschwestern und -brüdern nahezulegen, sich Verunglimpfungen Ihres Propheten oder anderer Religionsinhalte gar nicht erst anzusehen? Dabei würde es sich um eine nervenschonende sowie gesundheits- und sozialverträgliche Lösung handeln, auch wenn sich Ihre Religionspraxis im Bild der öffentlichen Wahrnehmung nicht unbedingt durch Toleranz und Gleichmut auszeichnet.

Wenn man sich unbedingt aufregen will, gelingt es. Letztendlich scheint es sich bei dieser Fähigkeit um die wichtigste Qualifikation für die Karriere eines Hasspredigers zu handeln. Unter diesem Aspekt bleibt es faszinierend, wie es Ihnen immer wieder gelingt, derartigen Dreck zu einer weltweiten politischen Diskussion hochzustilisieren - in Zeiten, in denen Europa (weiß Gott) wichtigere Probleme hat als schmutzige Phantasien von kalifornischen Pornoproduzenten. Diese Auseinandersetzung ist ein Paradebeispiel dafür, wie man in einer von Inhaltsleere geprägten Medienwelt Aufmerksamkeit generiert, indem Wahrnehmungsfilter gezielt auf verletzende Inhalte gerichtet werden.

Mit limitiert verständnisvollen, aber weitestgehend gelassenen Grüßen,
mq