Freitag, Oktober 25, 2013

Tatahanahita

Er sah aus wie irgendeiner aus der Masse der Millionen, die durch das Straßengewirr strömten und einen monströsen Organismus bildeten, dessen Wucherungen sich in Form endloser Wellblechmeere erstreckten. Jacky war bis zur vollkommenen Unauffälligkeit angepasst an Bombay. Er trug diese billigen, milliardenfach produzierten Plastiksandalen, weite Bundfaltenhosen und ein gestreiftes Hemd, bei dem er die oberen Knöpfe offen ließ. In die Brusttasche hatte er einen goldfarbenen Werbekugelschreiber geklemmt. Erst an seinem Englisch, das er mit gedehntem französischen Akzent sprach, erkannte ich, dass er kein Inder war. Als er sich vorstellte, klang es wie "Schakie".

Jacky war die meiste Zeit damit beschäftigt, die Gefräßigkeit seiner Sucht zu befriedigen und gleichzeitig einen Rest Würde zu wahren. Sein Gesicht war ausgesaugt vom Heroin, als ob sich kein Streifen Substanz mehr zwischen dem Schädelknochen und der zerfurchten Haut befand. Er lebte seit Jahren in Indien, auf einer schmalen Kante zwischen Existenz und Tod und auf der Suche nach nichts, außer dem nächsten billigen Schuss.

Einmal sei er zurückgereist in die verlorene Heimat, ein kleines Nest in der Bretagne. Seine Eltern hatten Geld für den Flug geschickt. Ohne Jacke und Socken sei er im Februar in Paris angekommen, weil er vergessen habe, wie kalt es um diese Jahreszeit in Frankreich ist. Im Elternhaus saß er zwei Wochen neben dem Ofen, dann hat er sich Geld für den Rückflug nach Indien besorgt.

Wir begegneten uns in Colaba, einer der vielen pochenden Innereien des Molochs. In der Nähe des Gateway of India kostete ein Platz im Schlafsaal des YMCA für eine Nacht 40 Rupien, etwa zwei Mark. Jacky übernachtete dort seit Monaten. Manchmal packte ihn ein Anfall von Schüttelfrost, und seine Zähne klapperten in der zähflüssigen Hitze, die wie Gelee sämtliche Winkel der Stadt verklebte. Ich belegte das Feldbett neben seinem und versteckte mein Geld nachts in der Unterhose.

Ein Bengale, der jeden Abend vor der Absteige herumlungerte, fragte immer wieder, ob ich in einem Bollywood-Film mitspielen will. In Indien bekommt man merkwürdige Fragen von merkwürdigen Menschen gestellt. Meistens haben die Fragen etwas mit Geld zu tun, das den Besitzer wechseln soll. Zu den ersten Lektionen, die dieses wundersame Land den Fremden lehrt, gehören Misstrauen und die Kunst, Distanzverletzungen auszublenden oder auszuhalten. Der Kampf ums Überleben zwingt unzählige Menschen, nach jedem Faden einer Hoffnung zu greifen.

Die ersten Tage ignorierte ich die Angebote des Bengalen. Bis Jacky erzählte, dass er seit Monaten als Statist arbeitete. Es ging um Produktionen, für die internationale Gesichter benötigt wurden. Für einen Tag beim Film gab es hundert Rupien von der Firma des Bengalen und ein Mittagessen. Bollywood wollte ich mir sowieso ansehen, also ließ ich mich für einen Tagesjob anheuern.

Am folgenden Morgen wurden wir vor dem YMCA von einem Minibus abgeholt, der durch das Zentrum kreuzte und an verschiedenen Ecken Ausländer aufsammelte. Zum Teil handelte es sich um Europäer, zum Teil um Ostafrikaner, die in Bombay Jura studierten. Einer erklärte mir, dass aufgrund der gemeinsamen Commonwealth Vergangenheit einige afrikanische Länder und Indien ein vergleichbares Rechtssystem besäßen. Das Studium sei in Bombay günstiger als in der Heimat, und Gandhi habe schließlich auch als Anwalt in Südafrika gearbeitet.

Das Filmset bestand aus der Attrappe eines Verkehrsflugzeugs in einer riesigen Halle. Grobe Handlung der Szene, an der den ganzen Tag herumgedreht wurde: indisches Liebespaar befindet sich auf internationalem Flug, er singt, dass er sie liebe, sie entgegnet singend und tanzend, dass sie ihn nicht liebe, das Flugzeug gerät in Turbulenzen, eine Katastrophe scheint sich anzubahnen, was durch hektisches Wackeln der Kamera simuliert wurde, alle internationalen Fluggäste springen auf, tanzen zu Hindipop zwischen den Sitzreihen, indischer Hauptdarsteller singt hochdramatisch, wie sehr er die Hauptdarstellerin liebe, sie singt, wie sehr sie ihn immer noch nicht liebe etc. Jedenfalls vermute ich, dass sowas in der Art gesungen wurde. Ich beherrsche kein Mahrathi, aber die Gestik der beiden Witzfiguren war eindeutig, und bei den Bollywood-Filmen, die ich kenne, sind keine wesentlichen Abweichungen in der Handlung wahrzunehmen. Wahrscheinlich stürzte das Flugzeug dann doch nicht ab, oder das Liebespaar hat eine Notlandung überlebt, keine Ahnung, davon kann ich nicht berichten, da während meines Tages beim Film in Bollywood nur die Absturztanzszene gedreht wurde.

Die meiste Zeit verbrachte man damit, herumzustehen und auf irgendwas zu warten. Ich habe keinen Schimmer, worauf beim Film ständig gewartet wird. Geheimnisvolle Welt der Leinwand. Und die Hauptdarsteller verhielten sich zwischen den Drehs genauso blasiert und arrogant, wie ich mir indische Filmstars vorgestellt hatte.


















Am Set von Tatahanahita, Bollywood 1996
Insgesamt fand ich meinen Tag beim Film in Bollywood ansatzweise langweilig. Zwischendurch ging ich spazieren und schaute mir andere Ecken des Geländes an. Das hat keiner gemerkt, oder vielleicht hat es auch keinen interessiert.

Bevor es am späten Nachmittag mit dem Minibus zurück nach Colaba ging, habe ich mich bei der Regieassistentin erkundigt, wie der Film heißen sollte. Tatahanahita, notierte ich auf einem Zettel. Leider habe ich vergessen zu fragen, was das auf Englisch heißt. Ich fragte noch, worum es in dem Film ging. Sie schaute mich entgeistert an, drehte sich um und schwirrte ab.

Im Minibus haben die Afrikaner während der gesamten Fahrt laut durcheinander gerufen, gelacht, gesungen und in die Hände geklatscht. Irgendwann hat der bengalische Jobvermittler ein Mikrofon ergriffen und um Ruhe gebeten, da er eine sehr wichtige Durchsage machen wollte. Da das Mikrofon seine Stimme zwar verzerrte, aber nicht spürbar verstärkte, konnte er sich gegen das Geklatsche, Rufen, Singen und Lachen der Afrikaner zunächst nicht durchsetzen. Irgendwann haben ihm doch alle für einen Moment zugehört.

Mit ernster Miene berichtete der Bengale, dass in Colaba vor wenigen Stunden ein hochrangiger Politiker erschossen worden sei und alle sofort nach Verlassen des Minibusses ihre Unterkünfte aufsuchen sollen, da man mit Unruhen rechnen müsse. Kaum hatte er den Satz beendet, fingen die Afrikaner wieder nahtlos an, durcheinander zu rufen, zu lachen, zu singen und in die Hände zu klatschen. Da politische Unruhen in Indien selten unblutig verlaufen, fragte ich einen der fröhlichen Afrikaner, ob er nicht beunruhigt sei. Er klopfte mir lachend auf die Schulter und meinte, seine Freunde und er kämen alle aus Ländern, in denen jeden Tag Leute erschossen werden, warum sollte er ausgerechnet jetzt beunruhigt sein.

Nach meiner Rückkehr habe ich in Deutschland ein paar Mal bei den Betreibern indischer Videotheken nach einem Film namens Tatahanahita gefragt. Keiner kannte den Streifen oder wusste, was der Titel bedeutet. Vermutlich werde ich mich nie zu einem von Hindipop begleiteten Flugzeugabsturz tanzen sehen. Viele Bollywood Produktionen bleiben unvollendet, oder die Szenen werden unter einem anderen Titel zusammengeschnipselt.

Manchmal frage ich mich, was aus Jacky geworden ist, ob er noch in Indien lebt und ob er überhaupt noch lebt. Aber nach einem kurzen Moment vergesse ich diese Begegnung wieder. Ein Schicksal von Milliarden.

Sonntag, Oktober 20, 2013

Sehr geehrte dumme Frage,

es ist nicht ihre Schuld, gestellt worden zu sein. Und wahrscheinlich ist Ihre Existenz für Sie ebenso unangenehm wie für mich. An Ihren Absender will ich mein Anliegen nicht richten, da man sich dem Verdacht der Überheblichkeit ausliefern würde. Denn landläufig hat sich der Irrtum verbreitet, dass es keine dummen Fragen, sondern nur dumme Antworten gebe.

Auch wenn wir es niemals in der Öffentlichkeit äußern würden und unsere Korrespondenz weiterhin höchst vertraulich behandelt wird, wissen wir beide, dass diese Behauptung schwachsinnig ist. Denn sonst wäre uns Ihre Existenz nicht so grauenhaft unangenehm. Schon allein, wie Sie in der Luft hängen: ohne Sinn und Zweck, ein Bild des Jammers und der geistigen Verwahrlosung. Hätte Ihr stumpf aus der Wäsche glotzender Schöpfer einen Bruchteil der Energie, die zu Ihrer Formulierung erforderlich war, für einen Gedanken an Ihre Beantwortung aufgewendet, wäre uns diese alberne Situation erspart geblieben.

Aber das eigenständige Denken steht in Zeiten der Flatratebeantwortung beliebiger Dummheiten nicht hoch im Kurs. Schamlos werden Salven dummer Fragen in die Welt gepfeffert.

Bevor Sie weiter dumm im Raum stehen beziehungsweise in der Luft hängen, kann ich Sie auch gleich dumm beantworten: Nein.

Mit fragwürdigen Grüßen,
mq

Samstag, Oktober 12, 2013

Atemrost

Während der Lungenkrebs in meinem Großvater wucherte, lungerten auf dem Gang der Krankenstation alte Männer, die sich an rollenden Infusionsgestellen oder an Bierflaschen festhielten und rauchten, als ginge es darum, dem Tod eine zweite Überholspur zu teeren. Der Kippenautomat stand vor dem Eingang, der Bierautomat im Keller der Klinik.

Zu jener Zeit zog ich dem Großvater täglich die Marke des Gründers von New York, dessen Namen ich damals nicht richtig aussprechen konnte und der bis heute mystisch auf mich wirkt, aus dem Automat. Hierfür wurde das Kind mit der Verantwortung über ein Zweimarkstück ausgestattet. Die Aufgabe erledigte ich mit größter Gewissenhaftigkeit, denn ein silbernes Zweimarkstück musste von enormem Wert sein. Am Zigarettenautomat hat das Kind die Mechanik von Geld und Gegenwert begriffen.

Ich schaute dem Großvater gerne beim Rauchen zu. Die Formen, die der Rauch seiner Zigaretten in der Luft hinterließ und der Geruch gefielen dem Kind. Nur diesen verrosteten Atem, den der Großvater ausstieß, wenn er nicht rauchte, mochte ich nicht. Und seine vergilbten Fingernägel mochte ich auch nicht.

Rauchen war ein Symbol der Souveränität. Im vergangenen Jahrhundert glich das erste Inhalieren von Nikotin einem Initiationsritus. Ein Raucher galt als erwachsen oder durfte sich zumindest so fühlen. Ich bin bislang keiner Person begegnet, die sich in den 1980er Jahren mit dem Heranwachsen auseinandersetzen musste und nicht spätestens im Alter von vierzehn Jahren den ersten Glimmstengel auf Lunge geraucht hat. Paffer ernteten Verachtung. Heute soll es Jugendliche geben, die angeblich noch nie an einer Zigarette gezogen haben. Und kaum jemand kennt noch die Herkunft der Frage, wer denn gleich in die Luft gehen wird oder die Behauptung, dass Raucher der Marke, die nach einer baltischen Stadt benannt war, kleine Kinder fressen.

Geraucht wurde überall. Im Kino, im Fernsehen, in der Werbung, in der Literatur, im Büro, in der Politik, im Hotel, im Krankenhaus, im Flugzeug, im Wirtshaus, im Zug, im Bus, im Taxi, im Schlafzimmer, in Amerika, einfach überall. Helmut Schmidt wird gelobt für seine mentholverzierten Mattscheibensperenzchen, aber man sollte auch hervorragende Televisionsraucher wie Manfred Krug, Reiner Werner Fassbinder oder Klaus Kinski nicht vergessen.

Das Ende der Tabakära zeichnete sich ab, als ich 2002 durch San Francisco spazierte. Plötzlich drehte sich ein Passant vor mir um und meinte "Sorry". Wohlsituierte Amerikaner entschuldigen sich für jeden Quatsch, aber in diesem Fall konnte ich bei aller Bemühung nicht nachvollziehen, was mir der Mann getan haben wollte. Auf meine Nachfrage erklärte er sein Bedauern, dass mich der Rauch seiner Zigarette aufgrund der Gegenwindverhältnisse belästigt haben könnte. In diesem Moment wurde mir klar, dass die Hysterie eines Tages die ganze Welt erfassen würde.

Zum Kettenraucher war ich geworden, als ich während der Zeit beim Roten Kreuz von meinem ersten Unfalleinsatz mit mehreren Toten auf einer Landstraße zurückkam und im Verlauf der restlichen Nacht jede Selbstgedrehte an der vorigen angezündet habe. Einige Jahre später habe ich ebenso plötzlich aufgehört, weil jede Form einer Abhängigkeit die Freiheit einschränkt und weil ich kein innerlich verrosteter Mann mit Atem wie verbranntes Metall und vergilbten Fingernägeln werden wollte.