Man darf gegen Atomkraft, die Abschaffung des Reinheitsgebots, Kopftücher, Krieg, miese Motorradbereifung und Lipgloss sein. In einer freiheitlich demokratischen Grundordnung darf man gegen alles sein, außer gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung. Man darf auch gegen Banken und gegen Politik im Allgemeinen sein. Das ist ganz einfach, man ruft nur: "Ich bin dagegen", und schon weiß jeder, der es gehört hat, bescheid. Man muss keinen Nachweis erbringen, dass man die Gegen- und Zustände, die man ablehnt, verstanden hat.
Manche Dinge sind leicht zu verstehen, dazu gehören das Reinheitsgebot und Motorradbereifung. Das ist schön und bequem, weil man sich keine allzu komplexen Zusammenhänge aneignen muss. Andere Dinge sind schwer zu verstehen, dazu gehört Krieg. Angesichts der Gräuel gibt es kaum vernünftige Argumente für einen Krieg. Daher sollte man dagegen sein, auch wenn man die komplexen Zusammenhänge eines Krieges nicht bis ins letzte Detail versteht.
Politik und Finanzwirtschaft sind nicht leicht zu verstehen. Und wenn in der Politik oder in Banken unbequeme Entscheidungen getroffen werden oder unerwünschte Ereignisse eintreten, die nicht leicht zu verstehen sind, erklären die Menschen schnell, dass sie dagegen sind. Menschen bevorzugen einfache Lösungen. Darin unterscheiden sie sich nicht von Tieren. Nur ist die von Menschen geschaffene Welt im Verlauf der letzten 200.000 Jahre kompliziert geworden, und es gibt entgegen den unveränderten Wünschen und Bedürfnissen der Menschen nicht mehr für jedes Problem eine einfache Lösung.
Im Fall von Reinheitsgebot und Motorradbereifung gibt es vergleichsweise einfache Lösungen. Bei einer weltweiten Bankenkrise oder wirtschaftlichen Problemen innerhalb eines Staatenbündnisses verhält es sich anders. Ohne lange und intensive Auseinandersetzung sind Systeme dieser Größenordnungen nicht zu verstehen, und selbst vor dem Hintergrund einer entsprechenden Auseinandersetzung behält nicht jeder den Überblick.
In Frankfurt wurde in den letzten Tagen munter gegen die Banken demonstriert. Als hätten ausgerechnet US-Amerikaner das Demonstrieren erfunden, wurde die Occupy Bewegung gelobt und adaptiert. Es waren Rufe nach Zerschlagung oder gar Abschaffung der Banken zu vernehmen. Dabei fiel auf, dass die Rufenden Schuhe trugen. Und auch andere Kleidungsstücke! Manche der Campierenden vor der Europäischen Zentralbank haben sogar Kaffee konsumiert, vermutlich nicht aus Eigenproduktion. Man könnte unterstellen, dass der Kaffee über komplexe Wertschöpfungsketten in die Plastikbecher gelangte. Die Zelte trugen Labels bekannter Markenhersteller. Dabei handelte es sich um mittelständische Unternehmen, die im Vergleich zu manchen Großkonzernen nicht über eigene Banken verfügen, sondern für die Entwicklung und Fertigung ihrer Produkte auf Finanzierungen in Form von Krediten fremder Geldinstitute angewiesen sind. Die Trennung von Finanz- und Realwirtschaft ist eine Illusion, die Systeme sind verzahnt und voneinander abhängig. So wie es nie eine neue Ökonomie (New Economy) gegeben hat, gibt es keine einfache Lösung für die Entflechtung von Geld- und allen anderen Produkten. Und die verteufelten Investmentbanken sind übrigens nicht nur bei der Züchtung fauler Wertpapiere kreativ, sondern auch bei der Kapitalbeschaffung für Unternehmen. Leider mangelt es zur Bekämpfung des Heuschreckenhabitus, ebenso wie zur Modellierung eines gerechteren Steuer- und Sozialsystems offenbar an Vorschlägen, die unter juristischen, volkswirtschaftlichen und politischen Aspekten durchdacht und durchführbar sind.
Jedenfalls ist Dagegensein ein unverzichtbares Ritual der psychosozialen Hygiene. Deswegen bin ich außer gegen Krieg auch gegen die Abschaffung des Reinheitsgebots und gegen miese Motorradbereifung. Soviel ist schonmal klar. Bei Lipgloss lege ich mich nicht fest, sondern wechsle meine Meinung nach Belieben in Korrelation zur sonstigen Beschaffenheit der Dame.