Montag, Oktober 31, 2011

Voodoo Display #34

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Samstag, Oktober 29, 2011

Ligne blur

Die Werke von Hergé gehören zu den zeitlosen Monumenten der Zeichenkunst. Mit seiner Ligne Claire hat der Belgier eine Stilrichtung geschaffen, die bis heute wirkt und mehrere Generationen von Zeichnern und Lesern geprägt hat. Durch die maximale Reduktion von Strichen wird das Wesentliche freigelegt. Konturen erhalten eine Seele, die Seele erhält Konturen. Hergés Figuren gewinnen ihre Dynamik und Lebendigkeit losgelöst von jeder realistischen Darstellung. Gleichzeitig eröffnet das Stilmittel der Abstraktion dem Leser sämtliche Möglichkeiten, sich mit den Figuren zu identifizieren und in die Geschichte einzutauchen. Alle guten Geschichten funktionieren durch eigenständige Arten der Abstraktion. Ideen werden verfremdet, und erst in der Verfremdung finden Betrachter funktionierende Realitäten.

Bei Steven Spielbergs Verfilmung von Tim und Struppi handelt es sich um einen Trickfilm im 3D-Format. Im Gegensatz zu Hergé verwendet Spielberg nahezu fotorealistische Figuren und Szenarios. Der Film ist gespickt mit massiver Tricktechnik. Die 3D-Brille nervt sowieso bereits während des überlangen Vorspanns, und bei den ganzen Versuchen einer realitätsnahen Darstellung wundert man sich, warum Spielberg überhaupt die Form des Trickfilms gewählt hat. Tim wirkt hölzern hinter seinen gespenstisch belebten Augen.

Spielberg hat seinen Film mit opulenten Actionszenen überladen und ist dabei sich selbst, aber nicht Hergé treu geblieben. In der Bemühung um dreidimensionale Tiefe und Klarheit wirkt der gesamte Film flach und verschwimmt in seiner künstlichen Überdeutlichkeit. Das Wesen von Hergés Ligne Claire kam vollständig abhanden. Und auch die dramaturgisch solide und pointierte Musik von John Williams, noch das Beste an Spielbergs Werk, rechtfertigt keinen zweiten Teil, der sich am Ende von "Die Abenteuer von Tim und Struppi - Das Geheimnis der Einhorn" ankündigt.

Sonntag, Oktober 23, 2011

Dagegen

Man darf gegen Atomkraft, die Abschaffung des Reinheitsgebots, Kopftücher, Krieg, miese Motorradbereifung und Lipgloss sein. In einer freiheitlich demokratischen Grundordnung darf man gegen alles sein, außer gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung. Man darf auch gegen Banken und gegen Politik im Allgemeinen sein. Das ist ganz einfach, man ruft nur: "Ich bin dagegen", und schon weiß jeder, der es gehört hat, bescheid. Man muss keinen Nachweis erbringen, dass man die Gegen- und Zustände, die man ablehnt, verstanden hat.

Manche Dinge sind leicht zu verstehen, dazu gehören das Reinheitsgebot und Motorradbereifung. Das ist schön und bequem, weil man sich keine allzu komplexen Zusammenhänge aneignen muss. Andere Dinge sind schwer zu verstehen, dazu gehört Krieg. Angesichts der Gräuel gibt es kaum vernünftige Argumente für einen Krieg. Daher sollte man dagegen sein, auch wenn man die komplexen Zusammenhänge eines Krieges nicht bis ins letzte Detail versteht.

Politik und Finanzwirtschaft sind nicht leicht zu verstehen. Und wenn in der Politik oder in Banken unbequeme Entscheidungen getroffen werden oder unerwünschte Ereignisse eintreten, die nicht leicht zu verstehen sind, erklären die Menschen schnell, dass sie dagegen sind. Menschen bevorzugen einfache Lösungen. Darin unterscheiden sie sich nicht von Tieren. Nur ist die von Menschen geschaffene Welt im Verlauf der letzten 200.000 Jahre kompliziert geworden, und es gibt entgegen den unveränderten Wünschen und Bedürfnissen der Menschen nicht mehr für jedes Problem eine einfache Lösung.

Im Fall von Reinheitsgebot und Motorradbereifung gibt es vergleichsweise einfache Lösungen. Bei einer weltweiten Bankenkrise oder wirtschaftlichen Problemen innerhalb eines Staatenbündnisses verhält es sich anders. Ohne lange und intensive Auseinandersetzung sind Systeme dieser Größenordnungen nicht zu verstehen, und selbst vor dem Hintergrund einer entsprechenden Auseinandersetzung behält nicht jeder den Überblick.

In Frankfurt wurde in den letzten Tagen munter gegen die Banken demonstriert. Als hätten ausgerechnet US-Amerikaner das Demonstrieren erfunden, wurde die Occupy Bewegung gelobt und adaptiert. Es waren Rufe nach Zerschlagung oder gar Abschaffung der Banken zu vernehmen. Dabei fiel auf, dass die Rufenden Schuhe trugen. Und auch andere Kleidungsstücke! Manche der Campierenden vor der Europäischen Zentralbank haben sogar Kaffee konsumiert, vermutlich nicht aus Eigenproduktion. Man könnte unterstellen, dass der Kaffee über komplexe Wertschöpfungsketten in die Plastikbecher gelangte. Die Zelte trugen Labels bekannter Markenhersteller. Dabei handelte es sich um mittelständische Unternehmen, die im Vergleich zu manchen Großkonzernen nicht über eigene Banken verfügen, sondern für die Entwicklung und Fertigung ihrer Produkte auf Finanzierungen in Form von Krediten fremder Geldinstitute angewiesen sind. Die Trennung von Finanz- und Realwirtschaft ist eine Illusion, die Systeme sind verzahnt und voneinander abhängig. So wie es nie eine neue Ökonomie (New Economy) gegeben hat, gibt es keine einfache Lösung für die Entflechtung von Geld- und allen anderen Produkten. Und die verteufelten Investmentbanken sind übrigens nicht nur bei der Züchtung fauler Wertpapiere kreativ, sondern auch bei der Kapitalbeschaffung für Unternehmen. Leider mangelt es zur Bekämpfung des Heuschreckenhabitus, ebenso wie zur Modellierung eines gerechteren Steuer- und Sozialsystems offenbar an Vorschlägen, die unter juristischen, volkswirtschaftlichen und politischen Aspekten durchdacht und durchführbar sind.

Jedenfalls ist Dagegensein ein unverzichtbares Ritual der psychosozialen Hygiene. Deswegen bin ich außer gegen Krieg auch gegen die Abschaffung des Reinheitsgebots und gegen miese Motorradbereifung. Soviel ist schonmal klar. Bei Lipgloss lege ich mich nicht fest, sondern wechsle meine Meinung nach Belieben in Korrelation zur sonstigen Beschaffenheit der Dame.

Dienstag, Oktober 18, 2011

Metrou

Ich hatte die Fremde nur nach dem Weg zum Piata Alba Iulia gefragt. Sie bat mich, für einen Moment ihr Telefon zu halten, wühlte in den Tiefen einer Ledertasche und brachte diesen handgezeichneten Metroplan zum Vorschein, den sie mir vergnügt überreichte. Dann nahm sie ihr Handy aus meiner Hand, drehte sich und verschwand in der Menge.

Donnerstag, Oktober 06, 2011

Die Vergangenheit vor uns

Manchmal wecken Begegnungen mit Fremden unsere Erinnerung an eine Vergangenheit, die sich nicht ereignet haben kann, aber immer vor uns liegt. Während der Zugfahrt von Bukarest nach Sibiu bin ich einem Mann gegenüber gesessen, der aussah wie der greise Mircea Eliade auf späten Ablichtungen. Seine übereinander geschlagenen Beine waren so dünn, dass sie sich kaum unter der Hose abzeichneten. Draußen zogen hügelige Herbstlandschaften vorbei, die meinem Ideal einer vergessenen Heimat nahe kamen. Der Mann hatte eine große Schachtel Zigaretten in seiner Westentasche und trug eine dieser alten Quarzuhren mit Taschenrechner am rechten Handgelenk. Er blickte aus dem Fenster, während seine Frau auf ihn einredete. Irgendwann holte er zwei Stofftaschentücher aus dem Nadelstreifensakko, nahm sein Gebiss aus dem Mund und wickelte es sorgfältig zwischen den Taschentüchern ein. Dann begann er, der Frau zu antworten.