Im heute unvorstellbar weit entfernten 1980 hatte ich eine Brieffreundin im damals unvorstellbar weit entfernten Amerika. Das Mädchen wohnte irgendwo in Arkansas, und schon beim Klang des Namens Arkansas stiegen mir Gerüche von Lagerfeuern, Pferdemist und Schießpulver in die Nase. Wir schrieben uns etwa ein Jahr lang Briefe über unsere Leben in Ländern, die sich zu jener Zeit gegenseitig viel exotischer vorkamen, als sie es heute sind. Für mich war der Wilde Westen eine Mischung aus Karl May und Kojak, während sie davon überzeugt war, Deutschland sei noch vom Krieg zerstört. Ein Jahr erscheint kurz, aber in diesem Alter kommen einem schon die Sommerferien vor wie das halbe Leben.
Nach etwa fünfzehn Briefen schickte sie ein Foto von sich. Darauf war ein hübsches Mädchen mit langen blonden Haaren und einer gigantischen Zahnspange zu sehen. Also legte ich meinem nächsten Brief ein Bild von mir bei. Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.
Sie hatte zuvor von ihrer Kirchengemeinde berichtet, und ich hatte geantwortet, dass ich trotz meiner Tarnung als Messdiener eine Existenz Gottes für unwahrscheinlich halte. Später erfuhr ich, dass Arkansas zu den gottesfürchtigsten Gegenden der USA zählt. Bis heute darf kein Konfessionsloser in diesem Bundesstaat des Bible Belt ein öffentliches Amt bekleiden.
Die unantastbare Grundregel eines Briefwechsels bestand nach meiner Auffassung darin, dass man sich abwechselnd schreibt. Also habe ich nicht nachgefragt, ob ihr plötzliches Verstummen an dem Foto lag oder an meinem ketzerischen Text. Ich fand das Foto nicht schlecht, den Text sowieso nicht. Vielleicht hatte sie auch einen Unfall oder eine Amnesie. Oder ein kieferorthopädisches Problem mit Ihrer Zahnspange. Ich werde es nie erfahren. Aber die Zahnspange war wirklich gigantisch.
Inzwischen liegt Amerika, ebenso wie Papua-Neuguinea oder Malawi, unmittelbar vor der digitalen Haustür. Kontakte unter Heranwachsenden entstehen und vergehen vermutlich über digitale Netzwerke. Mit Profilbild und Kurzbeschreibung religiöser Vorlieben lässt sich dort alles steuern. Entweder man gefällt sich, oder man bleibt unbefreundet. Oder man schimmelt als digitale Kontaktleiche die nächsten 100.000 Jahre unbeachtet auf der Schattenseite eines Serverparks vor sich hin.
Aber wann schreibt man heute noch Briefe, wenn man nicht gerade eine Bahncard kündigen will? So weit sei man noch nicht, dass die Bahncard via E-Mail gekündigt werden könne, sagte mir kürzlich eine Dame hinter dem Fahrkartenschalter. Ich bestaune immer wieder den anachronistischen Charme der Deutschen Bundesbahn und diese konsequente Servicedefensive, aber gibt es auch noch Briefkontakte persönlicher Natur? Post mit Erlebnisberichten, philosophischen Gedanken und einer Übermittlungszeit von mehr als 0,6 Sekunden? Vermutlich existiert irgendwo eine Website zur Vermittlung von postalischen Brieffreundschaften: erstens nostalgischer Kitsch, zweitens total unsinnlich. Dagegen war sogar die entsprechende Rubrik in der Pop Rocky ein Highlight.
Das Damals der handschriftlichen Briefe und der Spannung beim Öffnen des Briefkastens ist vorbei und soll auch nicht idealisiert werden. Aber das Heimkommen war spannender, als Briefkästen nicht nur ein Depot für Zeitungen, Rechnungen und Wurfsendungen waren. Die Briefe der kleinen Texanerin besitze ich jedenfalls nicht mehr, auch an ihren Namen kann ich mich nicht erinnern. Und das ist vollkommen in Ordnung, denn Menschen kommen und gehen. Aber noch heute rieche ich die Mischung aus Lagerfeuer, Pferdemist und Schießpulver, wenn irgendwer den Namen Arkansas ausspricht. Und ich sehe diese gigantische Zahnspange vor mir.