München - Venedig (XIII): Kraft atmen
Wäre Schnee auf den Wiesen unterhalb des Fedaiasees gelegen, hätte man federleicht auf Wintersportgerät ins Tal gleiten können, um dann geduldig in der Schlange vor einem der zahlreichen Lifte oder einer Seilbahnstation zu warten. Man hätte sich nach oben transportieren lassen, wäre anschließend erneut der Schwerkraft talwärts gefolgt usw.
Diese Routine hätte man in Variationen solange wiederholt, bis am Strand einer angetauten Insel der Vernunft auf dem frostigen Gedankenglobus die Frage angeschwemmt worden wäre, worin eigentlich das Ziel des Vorgangs liegt. Dann wäre man in eine der vorsätzlich verkitschten Après-Skihütten gestürzt, um sich dem Enzian zu ergeben oder andere Geister zu beschwören.
Als Metapher für das Leben im umfassenden Sinn trifft Skifahren nur bedingt zu: Zwar gleitet man im Sog der Schwerkraft mancher Ereignisse rasant abwärts, und einige Talfahrten sind mit schweren Stürzen verbunden, aber es erfordert Anstrengung und Ausdauer, sich aus den Tiefen des Lebens zurück in die Höhen zu ziehen. Komfortable Transportmittel stehen dabei selten zur Verfügung.
Im August lag auf den Wiesen unterhalb des Fedaiasees kein Schnee. Die Masten der Lifte ragten aus der Morgenlandschaft wie Nadeln, die ein bösartiger Riese in die Erdkruste gestochen hatte. Aber die Murmeltiere machten einen zufriedenen Eindruck, sie schienen den Wintersport ebenso wenig zu vermissen wie ich.
Auf dem Weg nach Alleghe kommt man durch Dörfer mit urzeitlich klingenden Namen wie Soraru und Sottoguda. In jener Gegend Südtirols wird noch Ladinisch gesprochen, ein überliefertes Vulgärlatein, das mit rund 30.000 Muttersprachlern zu den Idiomen mit der geringsten Verbreitung in Europa gehört. Daher zählen die Ladiner innerhalb der EU zu den anerkannten sprachlichen Minderheiten. Zusätzlich zeichnet sich die Gegend durch prächtige Holzgebäude aus.
Bereits aus weiter Ferne gab sich die Civetta als eine der mächtigsten Bergformationen der Dolomiten zu erkennen. Ich wanderte am Ufer des Alleghe-Sees entlang und war vom Anblick des Berges kolossal beeindruckt, so dass ich in Masaré zunächst ein Wirtshaus aufsuchte und sechs Käsebrote sowie dieselbe Anzahl koffeinhaltiger Kaltgetränke bestellte. Nach dem Imbiss begann ich den steilen Aufstieg.
Gehen erfordert eine besondere Form der Ausdauer. Auch ein geübter Langstreckenläufer muss sich an die unterschiedliche Belastung beim Gehen über täglich lange Strecken und viele Stunden gewöhnen. In flachem Gelände erscheint es mir anstrengender, 30 Kilometer in sechs Stunden gehend zurückzulegen, als dieselbe Strecke in der halben Zeit zu laufen.
Während des teilweise drahtseilversicherten Aufstiegs von Masaré zur Nordwestwand der Civetta war an Laufen nicht zu denken. Der Weg war nicht weit, aber zwischen dem Dorf im Tal und dem Col Rean lagen 1300 Höhenmeter. Als ich am Ende des Tages in die Tiefe blickte, erschien der Alleghe-See wie das Requisit einer Modelleisenbahn-Landschaft.
Ich atmete keine Luft, sondern Kraft, während ich meinen Blick über die Marmolada wandern ließ und mir den Weg vor Augen führte, den ich tagelang gewandert war.
(...)
Diese Routine hätte man in Variationen solange wiederholt, bis am Strand einer angetauten Insel der Vernunft auf dem frostigen Gedankenglobus die Frage angeschwemmt worden wäre, worin eigentlich das Ziel des Vorgangs liegt. Dann wäre man in eine der vorsätzlich verkitschten Après-Skihütten gestürzt, um sich dem Enzian zu ergeben oder andere Geister zu beschwören.
Als Metapher für das Leben im umfassenden Sinn trifft Skifahren nur bedingt zu: Zwar gleitet man im Sog der Schwerkraft mancher Ereignisse rasant abwärts, und einige Talfahrten sind mit schweren Stürzen verbunden, aber es erfordert Anstrengung und Ausdauer, sich aus den Tiefen des Lebens zurück in die Höhen zu ziehen. Komfortable Transportmittel stehen dabei selten zur Verfügung.
Im August lag auf den Wiesen unterhalb des Fedaiasees kein Schnee. Die Masten der Lifte ragten aus der Morgenlandschaft wie Nadeln, die ein bösartiger Riese in die Erdkruste gestochen hatte. Aber die Murmeltiere machten einen zufriedenen Eindruck, sie schienen den Wintersport ebenso wenig zu vermissen wie ich.
Auf dem Weg nach Alleghe kommt man durch Dörfer mit urzeitlich klingenden Namen wie Soraru und Sottoguda. In jener Gegend Südtirols wird noch Ladinisch gesprochen, ein überliefertes Vulgärlatein, das mit rund 30.000 Muttersprachlern zu den Idiomen mit der geringsten Verbreitung in Europa gehört. Daher zählen die Ladiner innerhalb der EU zu den anerkannten sprachlichen Minderheiten. Zusätzlich zeichnet sich die Gegend durch prächtige Holzgebäude aus.
Bereits aus weiter Ferne gab sich die Civetta als eine der mächtigsten Bergformationen der Dolomiten zu erkennen. Ich wanderte am Ufer des Alleghe-Sees entlang und war vom Anblick des Berges kolossal beeindruckt, so dass ich in Masaré zunächst ein Wirtshaus aufsuchte und sechs Käsebrote sowie dieselbe Anzahl koffeinhaltiger Kaltgetränke bestellte. Nach dem Imbiss begann ich den steilen Aufstieg.
Gehen erfordert eine besondere Form der Ausdauer. Auch ein geübter Langstreckenläufer muss sich an die unterschiedliche Belastung beim Gehen über täglich lange Strecken und viele Stunden gewöhnen. In flachem Gelände erscheint es mir anstrengender, 30 Kilometer in sechs Stunden gehend zurückzulegen, als dieselbe Strecke in der halben Zeit zu laufen.
Während des teilweise drahtseilversicherten Aufstiegs von Masaré zur Nordwestwand der Civetta war an Laufen nicht zu denken. Der Weg war nicht weit, aber zwischen dem Dorf im Tal und dem Col Rean lagen 1300 Höhenmeter. Als ich am Ende des Tages in die Tiefe blickte, erschien der Alleghe-See wie das Requisit einer Modelleisenbahn-Landschaft.
Ich atmete keine Luft, sondern Kraft, während ich meinen Blick über die Marmolada wandern ließ und mir den Weg vor Augen führte, den ich tagelang gewandert war.
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