Montag, September 04, 2006

Der Befall

Mitten in der Nacht wurde Escher von einem Schmerz geweckt, der sich, wie mit einer stumpfen Axt gehauen, quer durch seinen Körper zog. Er saß bis zum Morgengrauen am Küchentisch, ein Glas Leitungswasser leistete ihm fade Gesellschaft. Escher konnte nicht feststellen, ob es sich bei dem Schmerz um eine gute oder eine schlechte Angelegenheit handelte, denn einen Schmerz dieser Kategorie hatte er noch nie empfunden. Immerhin war es ein Gefühl, und in der Zeitung hatte er gelesen, dass mit Gefühlen behutsam umzugehen sei.

Der Schmerz begleitete Escher auf dem Weg zur Arbeit und wollte auch im Verlauf des Tages nicht von ihm weichen. Also verfügte er sich mit seinem Schmerz zu einem Spezialisten, der eine Reihe halbherziger Untersuchungen an Escher vornahm. Dabei sah ihm der Spezialist kein einziges Mal in die Augen.

- Handelt es sich bei diesem Gefühl um einen guten oder um einen bösen Schmerz?

Escher rechnete mit dem Schlimmsten.

- Herr Escher. Es ist ernster, als es sich jemals anfühlen könnte, und doch nicht schlimmer, als ich zunächst befürchtet hatte. Bei Ihrem Schmerz diagnostiziere ich eine weit verbreitete Art des Seelenbefalls. Diese Art von Ungeziefer wird durch flüchtigen Blickkontakt übertragen und grassiert derzeit wie eine Seuche. Aber es gibt eine Heilmethode. Mit einem kleinen Schnitt wird ihnen heute schon zu helfen sein.

Der Spezialist führte die Operation auf der Stelle durch. Trotz fehlender Narkotisierung spürte Escher den Schnitt kaum, und er war sofort von seinem stumpfen Schmerz kuriert.

Aber so schnell, wie der Schmerz verschwunden war, kam er zurück. In den folgenden zwei Wochen verging kein Werktag ohne ambulante Seelenoperation. Die entfernten Teile sammelte der Spezialist nach pathologischer Betrachtung in einem schwarzen Glaskolben.

Bei Eschers letztem Besuch in der Praxis eröffnete ihm der Spezialist eine Furcht einflößende Nachricht.

- Um zu verhindern, dass sich der Befall auf weitere Teile ihrer Persönlichkeit ausweitet, werden wir eine vollständige Entfernung vornehmen müssen. Aber keine Sorge, dieser Verlust beeinträchtigt den Alltag eines Patienten in nahezu hundert Prozent der Fälle kaum. Nur die nach Entfernungen gelegentlich auftretenden Phantomschmerzen sind nicht auszuschließen.

Die Operationswunde vernarbte zufrieden stellend, und Escher war dauerhaft von seinem dumpfen Schmerz geheilt.

Das Gefäß mit den entfernten Teilen hatte ihm der Spezialist überlassen. Seither stand es auf Eschers Nachttisch. Wenn ihn gelegentlich ein Phantomschmerz überfiel, berührte er das kalte Glas mit den Fingerspitzen. Irgendwann würde er den Seelenkolben vielleicht sogar öffnen und einen Blick hineinwerfen. Es war eine Zeitbombe. Wie jeder versiegelte Sondermüllbehälter.

Aber noch hatte Escher seine Neugier unter Kontrolle.

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10 Comments:

Anonymous Anonym said...

Zeitbomben sind leider auch nicht mehr, was sie früher mal waren. Mir ist gerade eine digitale um die Ohren geflogen, die hat nicht einmal getickt.

4.9.06  
Blogger mq said...

Manchmal ticken die Dinger unhörbar. Und dann auch noch falsch.

5.9.06  
Blogger Der_grosse_Transzendentale_Steini said...

Tja, der unverhüllte Einblick in die eigene kalte, dunkte Seele hat schon so manchen schockiert und fertig gemacht.

5.9.06  
Anonymous Anonym said...

Dafür setzt es Blogroll:)

5.9.06  
Anonymous Anonym said...

irgendwie erinnern mich ihre escher-geschichten immer an das buch 'herr jensen steigt aus'.
nur besser.

5.9.06  
Anonymous Anonym said...

Wieder mal selbst übertroffen. Der Brüller-Satz: ... und in der Zeitung hatte er gelesen, dass mit Gefühlen behutsam umzugehen sei. Daumen hoch.

5.9.06  
Blogger mq said...

/DGT Steini: Das Mäntelchen der Verhüllung ist in vielen Fällen selbst gestrickt.

/St. Burnster: Das wirft Licht in die rußschwarzen Kammern meines Herzens und wurde bereits vor geraumer Zeit mit der Höchststrafe - Blogrollkerker in dieser Textruine - vergolten.

/Wort-Wahl: Mit dem ausgestiegenen Hrn. Jensen habe ich noch keine ausführliche Bekanntschaft gemacht, der Sprössling von Christoph Hein ist mir aber schon mehrfach positiv aufgefallen. Und seinem Erzeuger verdanke ich einige epochale Leseerlebnisse, u.a. den Roman Der fremde Freund, seinerzeit auf dieser Seite der Mauer unter dem Titel Drachenblut erschienen. [Ich schweife ab. Trotzdem empfehlenswert - auch wenn es sowieso jeder kennt. Verzeihung, ich habe Hopfenblütensud verzehrt und höre mich gerade gerne schreiben.] Und danke für den Tipp. [Falls es einer war.]

/Martha: Dazu fällt mir noch eines meiner Lieblingszitate von Thomas Bernhard ein: Die Welt steht in den Zeitungen.

5.9.06  
Anonymous Anonym said...

Um toxische Reaktionen zu vermeiden darf nicht Sondermüll auf Nachtischen gelagert werden, sondern in 10000m tiefen Salzstollen.

6.9.06  
Anonymous Anonym said...

... und Typos dürfen nicht in Blogs verewigt werden sondern müssen in 10000km entfernten Servern mit Bluescreen crashen...

6.9.06  
Blogger mq said...

/Andietoxic: Warum - der Nachtisch war doch GENIAL.

6.9.06  

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