Samstag, Mai 26, 2007

Qýð

Die Mitglieder der ersten Forschungseinheit waren verändert an Bord der Colosseo zurückgekehrt. Sie hatten nützliche Daten gesammelt, aber sie waren nicht in der Lage, über die Ereignisse zu berichten, die zu den Veränderungen geführt hatten. Kein ungewöhnliches Phänomen, Begegnungen mit fremden Welten hatten häufig Blockaden zur Folge. In Situationen, die weit außerhalb der Vorstellungskraft lagen, konnte es passieren, dass die Psyche mit einem Schutzmechanismus reagierte, indem sie einen Riegel zwischen das Erlebte und die Sprache schob. In der Wissenschaft war dieser Effekt nach dem berühmten Raumfahrtpsychologen Lemkov benannt.

Qýð war bereits nach der Röntgenteleskopanalyse in Kategorie A\* eingeordnet worden, und musste demnach auf seine Bewohnbarkeit überprüft werden. Atmosphärische Werte und Oberflächenstrukturen von Qýð waren optimal. Die Psychen der ersten Forschungseinheit waren mit dem Lemkoveffekt verriegelt, aber Kommandant Devi wollte den Netzplan einhalten. Daher entschied er gegen die Vorschrift, dass er sich in Begleitung des zweiten Bordpsychologen auf eine Erkundungstour begeben würde.

Der Sauerstoff war sehr dünn, und auch an das blaue Licht und die subtropische Hitze würden sich die Siedler über Generationen hinweg gewöhnen müssen, dachte Devi, als er sich gemeinsam mit Cortez einen Weg durch die, in Regenbogenfarben schimmernde, Vegetation bahnte. Aber kein anderes Lebewesen besaß eine ähnliche Anpassungsfähigkeit. Im Lauf der Evolution hatten sie die Fähigkeit entwickelt, in den feindlichsten Winkeln des Weltalls zu überleben.

Die blaue Sonne war zweimal aufgegangen, als sie an das Ufer des stillen Meeres gelangten. Bei der chemischen Analyse stellten sie fest, dass die Flüssigkeit aus zwei Elementen bestand, die in keinem Periodensystem vorkamen. Die beiden Entdecker starrten in Richtung Horizont. Zu ihren Füßen kräuselte sich nicht die kleinste Welle, wie ein blutroter Spiegel lag das Meer vor ihnen.

Plötzlich hob Cortez seinen Kopf und zeigte auf zwei Punkte, die sich vom Flimmern der Gase abhoben und langsam größer wurden. Die zwei Gestalten kamen direkt auf Devi und Cortez zu. Als man die Nahenden deutlich erkennen konnte, strichen sich die Wartenden am Ufer nachdenklich über die Barthaare. Es handelte sich offensichtlich um das banale Phänomen einer Doubleyou Halluzination. Nahezu jeder Weltraumfahrer hatte diese Art der Begegnung mit dem eigenen Ich während Reisen zu unbekannten Sternensystemen gemacht. Der Spuk beschränkte sich immer auf die optische Wahrnehmung und verschwand meist nach wenigen Minuten. Es war allerdings ungeklärt, warum das Phänomen zur gleichen Zeit bei verschiedenen Astronauten identisch wahrgenommen werden konnte.

Devi und Cortez setzten sich auf einen Felsbrocken am Ufer, der zur Hälfte im roten Schlamm versunken war, und warteten. Entgegen ihrer Erwartung blieben die Trugbilder vor ihnen stehen. Als Devis Dopplung zu sprechen begann, gefror der Ausdruck in den Gesichtern der Weltraumfahrer.

- Wir haben auf euch gewartet.
- Falls Sie das auch gehört haben, ignorieren Sie es einfach,
flüsterte Cortez in Richtung seines Kommandanten, ohne den Blick von den Dopplungen abzuwenden. Seine Barthaare zitterten. Aber Devi konnte der Gelegenheit, sich mit dem Ebenbild zu unterhalten, nicht widerstehen.
- Sieht es nicht eher danach aus, als hätten wir auf euch gewartet?
- Auch das stimmt.
- Ihr seid nur trügerische Erscheinungen, Spielfiguren unserer Wahrnehmung.
- Wie kommt es, dass ihr keinen Einfluss auf unsere Gegenwart habt?
- Dies ist nicht unsere erste Doubleyou Erfahrung. Ihr werdet von selbst verschwinden, eure Existenz ist nur eine temporäre Idee in unseren Köpfen.
- Könnte ich mit dir sprechen, wenn ich nur ein Doubleyou Phänomen wäre?

Für einen Moment hatte Devi den Eindruck, als ob er sich selbst aus der Perspektive seiner Dopplung auf dem Steinbrocken sitzen sähe. Cortez hatte die Augen geschlossen und schwieg.

- Wir können jetzt gehen,
sagte der stehende Devi zur Dopplung von Cortez. Mit einem Schmunzeln wendeten sich die beiden von den Sitzenden ab und entfernten sich über die gespannte Oberfläche des Meeres.

Als Cortez seine Augen öffnete, konnte er beobachten, wie sich seine Dopplung neben dem gehenden Devi in Nichts auflöste. Er wendete seinen Blick nach rechts und erschrak über die ausdruckslosen Augen des Kommandanten, der wenige Sekunden später verschwunden war.

Sie trafen sich wieder an Bord der Colosseo. Devi verhielt sich normal, aber Cortez hatte das Gefühl, als ob sich sein Kommandant verändert hätte. Sie gaben unterschiedliche Versionen ihrer Erlebnisse und der Trennung am Ufer zu Protokoll. Beide behaupteten, der andere habe sich entfernt.

Vor ihrer Landung auf Qýð bestand die gesamte Besatzung der Colosseo aus Projektionen, Klonen aus Licht, die vom entfernten Mutterplaneten als Vorhut gesendet worden waren. Ihre Heimat existierte längst nicht mehr, und wenn sie irgendwann, nach vielen Milliarden Lichtjahren, zurückkehren würden, fänden sie anstelle der Erde nur noch ein Bild aus Licht vor. Sie würden der Abbildung entgegen fliegen und für die Dauer der kürzesten Zeiteinheit mit ihr verschmelzen.

Aber das Wesen in Kommandant Devis Gestalt würde mit seinen Barthaaren das Steuerpult bedienen und die Colosseo weiterlenken durch die Tiefen des Weltalls. Und die Mitglieder der Besatzung würden die erforderlichen Tätigkeiten verrichten. Nur einer wäre nicht mehr an Bord.

10 Comments:

Anonymous Anonym said...

Ein Raumfahrer
mit einem
Strohhut.

(William F. Nolan über Ray Bradbury/Die Mars-Chroniken)

Das Buch - ich lese es ca. einmal im Jahr, bevorzugt im Frühsommer - habe ich gerade aus dem Regal geholt und auf die Reisetasche gelegt, um es mitzunehmen. Danke für diesen Text. Danke für dieses Blog. Ich fühle mich so daheim da.

26.5.07  
Anonymous Anonym said...

Ich werde den Heiligen Geist befragen, wer es sein würde, der fehlte. Morgen, wenn er über mich kommt.

26.5.07  
Blogger mkh said...

Nach 12 Monaten Quintensprüngen hüpft der frische Fisch nun in noch verschärftere Denkmeere für Fortgeschrittene. Wir werden alles verstehen, sobald wir mit unseren Klonen aus Licht auf Qýð verschmolzen sein werden. Einstweilen leide ich noch ein wenig unter Lemkov.

26.5.07  
Anonymous Anonym said...

"Natura non facit saltus" oder doch ein Quantensprung?

26.5.07  
Blogger mq said...

/dieJulia: Ich schätze vor allem Bradburys Kurzgeschichten, die deutschsprachige Anthologie Geh nicht zu Fuß durch stille Straßen gehört zu meinen Lieblingsbüchern. Und mit Fahrenheit 451 hat er Literaturgeschichte geschrieben.

/Opa: Natura facit salti letali.

/Mkh: Heilung naht, der Heilige Geist ist im Anmarsch!

28.5.07  
Blogger MudShark said...

ganz großes science-reality kino! habs mir ausgedruckt und neben doug adams ins regal gestellt.

28.5.07  
Anonymous Anonym said...

Mein absolutes Lieblingsbuch von Bradbury ist ja "Das Böse kommt auf leisen Sohlen" (eng. "Something Wicked This Way Comes"). Danke für den Kurzgeschichtentip, er fällt auf sehr fruchtbaren Boden. Ich hab von Bradbury eigentlich ziemlich alles gelesen, Fahrenheit sowieso, bis auf das genannte...

28.5.07  
Blogger mq said...

/MudShark: Bist du wahnsinnig?! Weißt du überhaupt, wieviele Regenwälder dafür sterben mussten?!

/dieJulia: Diesen Titel wiederum kenne ich nicht - aber er trifft genau meinen schwarzen Nerv. Merci für den Tipp!

29.5.07  
Blogger 100 Goldfischli said...

" ... könnte ich mit dir sprechen, wenn ich nur ein Doubleyou Phänomen wäre?"

Ja. Klar doch. Ich kann auch halluzinieren, dass du mit mir sprichst. Ich kann das sogar träumen.

Ich kann allerdings auch träumen, dass du mit jemand anderem sprichst. Oder dieses halluzinieren.

Mit dem gemeinsam Halluzinieren verhält es sich vermutlich ähnlich wie mit dem gemeinsam Menstruieren. Das geht angeblich auch.

15.6.07  
Blogger mq said...

Rein statistisch gesehen sind Massenmenstruationen relativ einfach nachweisbar, valide Daten für Massenhalluzinationen dürften schwieriger zu ermitteln sein. Aber das Schöne an der Wahrscheinlichkeit ist, dass sie auf jeden Fall zutrifft.

20.6.07  

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