Kür
Ein Sekundenbruchteil jenseits der zeitlichen Messbarkeit entschied über das Ende ihrer Karriere. Damals stand sie auf dem Höhepunkt, kurz vor der Edelmetallernte. Den einsamen Gipfel hatte sie am Ende einer entbehrungsreichen Reise durch die Salzwüste des Kraftraums und über die Leitern der Sprungtürme erklommen. Die Eintrittskarte für den Erfolg bezahlte sie mit den Nachmittagen ihrer Kindheit und Jugend. Das selbstzufriedene, runde Gesicht des Vaters nach einem Turniersieg war der schönste Pokal.
Zehn Meter unter ihr klaffte der aufgerissene Rachen des Beckens. Die Stimmung im Stadion war angespannt wie jeder einzelne Muskel an ihrem austrainierten Körper. Nur der Schlag ihres Herzens hallte zwischen den Tribünen, während sie sich mit den Zehen an der Betonkante festkrallte.
Im Moment des Absprungs wusste sie, dass die Kür misslang. Beim Eintauchen ins eisige Blau spritzte das Wasser zornig in alle Richtungen.
Jetzt stand sie wieder auf dem Turm. Sie wollte es noch einmal versuchen. Wie damals drehte sie sich elegant mit dem Rücken zum Becken und hielt das Gleichgewicht auf der Betonkante. Sie spreizte ihre Arme im rechten Winkel vom Körper, und nachdem sie die Spannung für die richtige Länge des Moments gehalten hatte, stieß sie sich ab. Der Sprung war in seiner Perfektion vollendet, und ein zufällig anwesender Wettkampfrichter hätte die Bestnote gegeben. Ohne Punkteabzug. Aber es war Nacht, und aus der Nacht gab es kein Auftauchen.
Am nächsten Vormittag wollte der Bademeister das Herbstlaub im Becken zusammenkehren. Die Zigarette fiel ihm aus dem Mundwinkel, als er den verrenkten Körper entdeckte. Das angetrocknete Blut der Tochter hatte auf den blauen Kacheln eine bizarre Grafik hinterlassen. Das Muster erinnerte ihn an den Rorschach-Test, den man vor seiner Verurteilung in der fernen Stadt mit ihm durchgeführt hatte. Damals.
Kurz vor der Bestattungszeremonie fiel ein Platzregen aus den Wolken, und in der Grube glänzte braunes Wasser, als die Träger den Sarg langsam hinabließen.
Zehn Meter unter ihr klaffte der aufgerissene Rachen des Beckens. Die Stimmung im Stadion war angespannt wie jeder einzelne Muskel an ihrem austrainierten Körper. Nur der Schlag ihres Herzens hallte zwischen den Tribünen, während sie sich mit den Zehen an der Betonkante festkrallte.
Im Moment des Absprungs wusste sie, dass die Kür misslang. Beim Eintauchen ins eisige Blau spritzte das Wasser zornig in alle Richtungen.
Jetzt stand sie wieder auf dem Turm. Sie wollte es noch einmal versuchen. Wie damals drehte sie sich elegant mit dem Rücken zum Becken und hielt das Gleichgewicht auf der Betonkante. Sie spreizte ihre Arme im rechten Winkel vom Körper, und nachdem sie die Spannung für die richtige Länge des Moments gehalten hatte, stieß sie sich ab. Der Sprung war in seiner Perfektion vollendet, und ein zufällig anwesender Wettkampfrichter hätte die Bestnote gegeben. Ohne Punkteabzug. Aber es war Nacht, und aus der Nacht gab es kein Auftauchen.
Am nächsten Vormittag wollte der Bademeister das Herbstlaub im Becken zusammenkehren. Die Zigarette fiel ihm aus dem Mundwinkel, als er den verrenkten Körper entdeckte. Das angetrocknete Blut der Tochter hatte auf den blauen Kacheln eine bizarre Grafik hinterlassen. Das Muster erinnerte ihn an den Rorschach-Test, den man vor seiner Verurteilung in der fernen Stadt mit ihm durchgeführt hatte. Damals.
Kurz vor der Bestattungszeremonie fiel ein Platzregen aus den Wolken, und in der Grube glänzte braunes Wasser, als die Träger den Sarg langsam hinabließen.
14 Comments:
Die Gerinnungszeit der negativen Kindheitserinnerungen ist äußerst kurz. Hat man Glück kann man die Großteile wegwischen; und hat man keins bleiben sie an einem das ganze Leben in Form eines blutigen Rorschach-Musters kleben.
Äußerst traurige Geschichte Herr Quint.
Kalt erwischt. Sehr kalt.
ein sehr eleganter freitod.
Du meinst also, dass der goldene Oktober nun unwiederbringlich fort ist und wir uns gemeinsam auf die Herbstdepression einstimmen sollten?
An Herbstdepression musste ich auch gerade denken. Zum Glück ist die Lady kein Gast bei mir.
Trotzdem ergreifend, und in ihrer herbstlichen Kälte erschreckend zugleich.
ein perfekter sprung in eine hoffentlich perfekte parallelwelt.
Ich liebe solche Geschichten :)
/TTR: Psychoschorf kann hartnäckig sein.
/Neo-Bazi: Pardon. Das Thermostat lässt sich wieder mal nicht regeln.
/Mudshark: Kann der Tod eine Ästhetik besitzen?
/Chris: Lass uns einfach weiterschwimmen, auch wenn das Wasser gefriert.
/Scheibster: Der Herbst ist auf dem Land die schönste Jahreszeit. In der Stadt ist er einfach ein farbloser Vorbote der Kälte.
/Wort-Wahl: Ein Gedanke, den ich oft habe - es wäre schön, wenn jede Geschichte weiterginge, auch wenn sie scheinbar beendet ist. (Leider bin ich nicht religiös.)
/Phil: Solche Geschichten lieben solche Leser :)
oh.. Tragik breitet sich im Internet aus wie Gangrän. Worte auf den Ounkt. ein Text der die Sonne im Herzen aufgehen läßt. Respekt!!
Die Pest ist eine andere Geschichte.
Sehr traurige Geschichte. BTW: Sitzt Vater Graf eigentlich immer noch im Kahn ein?
aus Wikipedia: "Anfang 1997 wurde er [Anm. Peter Graf] zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt."
Assoziationen mit lebenden oder verstorbenen Personen waren allerdings nicht beabsichtigt.
@mq: der tod kann sehr wohl eine ästhetik besitzen - landläufig wird das wohl mit 'würdevoll' beschrieben. wobei wohl jeder etwas anderes darunter versteht.
Im Nachhinein freilich leicht zu sagen:
Ein grandioser Text. Sollte so stehen bleiben und nicht etwa als Podcast verlieren, denn das muß er, gleichgültig, wer liest.
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