Arambol
Die Römerin war an jeder sichtbaren Körperstelle tätowiert. Alle Bilder auf ihrer Haut waren in einem sehr einfachen Stil gestochen und zeigten die Umrisse von Tieren. Schafe, Hunde, Schweine, Katzen, Ziegen, Hühner. Jede Tätowierung sollte eines der Tiere darstellen, die in ihrem Haus gelebt hatten. Immer, wenn ein Tier gestorben war, hatte sie ihren blinden Mann gebeten, es zur Erinnerung mit schwarzer Tinte unter ihre Haut zu stechen. Der Blinde hatte eine Gabe, das Wesen der Formen zu erkennen und auf verschiedene Weisen darzustellen.
Dann starb der Blinde. Unerwartet, ein Tumor hatte sein Hirn zerfressen. In ihrer Trauer trennte sich die Römerin von den verbliebenen Tieren und verkaufte das Haus. Ich lernte sie im Bus zwischen Bombay und Panaji kennen. Während der Fahrt injizierte sie sich eine Dosis Insulin in die Haut über ihrem Bauch. In meinem Bedürfnis nach Diskretion hatte ich den Kopf zur Seite gedreht, aber sie missverstand die höflich gemeinte Geste. Mit einem aggressiven Ton in der Stimme erklärte sie, dass es sich nicht um Drogen handelte, sondern um ein notwendiges Medikament, das sie aufgrund ihrer Diabetes spritzen musste. Ich antwortete, wenn es außer Insulin einen Stoff gäbe, den man sich in die Bauchfalte spritzt, würde ich ihn mit Sicherheit kennen. Die Römerin lachte, und die raue Stimme klang noch vulgärer, als wenn sie mit ihrem rollenden Akzent englische Sätze formulierte, die zu einem großen Teil aus Flüchen bestanden.
Sie sprach davon, dass sie mit der Reise nach Indien eine Suche nach ihrem innersten Ich angetreten hatte und ein neues Leben finden wollte. Zu jener Zeit wusste ich bereits, dass man sich in Indien leicht verlieren, aber niemals finden konnte. Mir waren zu viele begegnet, die den letzten Rest ihrer Identität im Land der bunten Götter verloren hatten. Sie verweigerten sich der Erkenntnis, dass sich unter dem Schleier der Exotik nichts anderes verbarg, als hinter dem Nebel des Alltags.
Wir begegneten uns wieder in Arambol. Die Römerin teilte sich eine Hütte mit anderen Italienern, die sich gegen jede Form der Realität entschieden hatten. Auf den ersten Blick konnte man erkennen, dass ihr das Insulin zur Erhaltung der Illusion von einem schwerelosen Leben nicht mehr genügte.
Nach einer dreitägigen Party entdeckte man den toten Körper der Römerin am Strand von Anjuna. Ich hoffe, dass sie ihr neues Leben gefunden hat. Obwohl ich nicht daran glaube.
Dann starb der Blinde. Unerwartet, ein Tumor hatte sein Hirn zerfressen. In ihrer Trauer trennte sich die Römerin von den verbliebenen Tieren und verkaufte das Haus. Ich lernte sie im Bus zwischen Bombay und Panaji kennen. Während der Fahrt injizierte sie sich eine Dosis Insulin in die Haut über ihrem Bauch. In meinem Bedürfnis nach Diskretion hatte ich den Kopf zur Seite gedreht, aber sie missverstand die höflich gemeinte Geste. Mit einem aggressiven Ton in der Stimme erklärte sie, dass es sich nicht um Drogen handelte, sondern um ein notwendiges Medikament, das sie aufgrund ihrer Diabetes spritzen musste. Ich antwortete, wenn es außer Insulin einen Stoff gäbe, den man sich in die Bauchfalte spritzt, würde ich ihn mit Sicherheit kennen. Die Römerin lachte, und die raue Stimme klang noch vulgärer, als wenn sie mit ihrem rollenden Akzent englische Sätze formulierte, die zu einem großen Teil aus Flüchen bestanden.
Sie sprach davon, dass sie mit der Reise nach Indien eine Suche nach ihrem innersten Ich angetreten hatte und ein neues Leben finden wollte. Zu jener Zeit wusste ich bereits, dass man sich in Indien leicht verlieren, aber niemals finden konnte. Mir waren zu viele begegnet, die den letzten Rest ihrer Identität im Land der bunten Götter verloren hatten. Sie verweigerten sich der Erkenntnis, dass sich unter dem Schleier der Exotik nichts anderes verbarg, als hinter dem Nebel des Alltags.
Wir begegneten uns wieder in Arambol. Die Römerin teilte sich eine Hütte mit anderen Italienern, die sich gegen jede Form der Realität entschieden hatten. Auf den ersten Blick konnte man erkennen, dass ihr das Insulin zur Erhaltung der Illusion von einem schwerelosen Leben nicht mehr genügte.
Nach einer dreitägigen Party entdeckte man den toten Körper der Römerin am Strand von Anjuna. Ich hoffe, dass sie ihr neues Leben gefunden hat. Obwohl ich nicht daran glaube.
9 Comments:
Bei den Hindus ist Reinkarnation auf vielerlei Weisen möglich, als Mensch, Tier oder Pflanze. Ansich grosser Spielraum für die Römerin. Leider bestimmt der vorhergehende Lebensstil das nachfolgende Leben. Hoffen wir auf einen ansonsten untadeligen Lebenswandel der Dame; als Strandköter hat man in Indien nichts zu lachen.
Nicht nur in Indien. Da sich die Römerin aber sehr umsichtig verhielt, bevor sie sich verlor, sehe ich diese Gefahr nicht. (Schafe, Hunde, Schweine, Katzen, Ziegen, Hühner, alles im Haus).
Der Polizist, der die Tote fand, war übrigens überrascht, als sich gerade ein Einheimischer über die Dame hermachte:
"Sind Sie verrückt, sehen Sie nicht, daß Madame tot ist?
"Tot, ach so. Ich dachte, es sei eine Amerikanerin."
es wäre ihr zu wünschen, dass sie es nun gefunden hat
/Andie Hindus: Schlaue Köter erkennt man an der Wahl des Strandes - immer den Partyarschlöchern hinterher, im Urlaub wollen alle Hunde verwöhnt werden.
/Opa: Viel wahrscheinlicher ist, dass sich der Ordnungsverhüter wortlos in der Reihe vorgedrängelt hat. Das entspräche eher dem Verständnis von Situationskomik indischer Behörden. Die Kerle lassen nichts anbrennen.
/Chris: Manchen Menschen wünscht man, dass sie sich nach dem Tod wieder begegnen. Auch wenn man, wie gesagt, selbst nicht daran glaubt.
Und dann gehen manche in ihrer Selbstfindung so weit, daß sie sich gleichsam wie Touristen suchen, ein paar Fotos von ihren inneren Sehenswürdigkeiten machen und wieder verschwinden. Denn zu ihren dunklen Seiten, den Slums ihrer Seelen, führen weder Straßen noch Wege.
(Peter E. Schumacher)
Bei Römerin dachte ich abrupt an etwas sehr Antikes, was die Lektüre zu einem verwirrenden Vergnügen machte. :)
/Phil: Manchmal klopft ein fremder Reisender an die Tür. Man schaut durch den Spion, und nachdem man sich selbst da draußen erkannt hat, schleicht man leise zurück an den Schreibtisch.
/Ole: Diese Stadt wird, genau wie Paris, gewisse Assoziationen nie los. (Zu Recht.)
@assoziationen
ging es um töpfe? garnicht mitbekommen ^^
verwirrt wäre ich übrigens gewesen wenn sie sich von einer blinden schleiche das konterfei ihres gatten hätte tätowieren lassen nach dessen ableben ...
Nein, es ging auch nicht um Pariser - und nichts sollte mir ferner liegen, als die verehrte Leserschaft zu verwirren.
Sie hatte übrigens - zwar nicht das Konterfei - aber den Namen ihres verstorbenen Mannes (ich glaube, die beiden waren nicht verheiratet, denn sie sprach von my dead man und nicht von my dead husband, aber das mag mit ihrem Italienglisch zu tun gehabt haben) auf die Innenseite ihrer linken Hand tätowiert. Vermutlich hat sie den Namen selbst gestochen, der Mann hieß Gianluca. Merkwürdiger Weise kann ich mich an ihren Namen nicht mehr erinnern, wobei ich mir Namen ansonsten ausgesprochen gut merken kann.
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