Sonntag, Februar 17, 2008

PS-Philosophie

Mein erster Motorradunfall war die Folge juveniler Blödheit. Aus Gründen, die unter logischen Gesichtspunkten nicht nachvollziehbar sind, testete ich während einer Party mit unangemessener Geschwindigkeit jene Schotterpiste, die am Zeltplatz vorbeiführte. Das lautstark bekundete Vergnügen der Zuschauer war Sand im Getriebe meiner Vernunft, und den hochsommerlichen Durstkobold hatte ich mit Büchsenbier besänftigt.

Nach dem Sturz verstummte der Applaus, denn ein wesentlicher Teil meiner Blödheit bestand darin, dass ich während der Vorführung nur mit einer Badehose bekleidet war. Wundersamer Weise hatte ich mich bis auf Schürfwunden nicht verletzt, aber die Testfahrt konnte wegen umfangreicher Schäden am Motorrad nicht fortgesetzt werden. Begleitet von respektvollen Kommentaren der Zaungäste wurden die Überreste des Krads begutachtet. Man reichte mir Erfrischungsgetränke, und noch bevor der abendliche Mofaweitwurfwettbewerb startete, hatte ich den Unfall überwunden. Das Glück ist auf der Seite der Besoffenen und der Blöden.


Mein zweiter Motorradunfall war die Folge der senilen Blödheit eines Autofahrers, der mir innerhalb einer Ortschaft die Vorfahrt nahm und mit seinem Opel Admiral das Heck des Zweirads rammte. Ich stürzte auf den Asphalt, bevor die Maschine noch einige Meter über die Straße schlitterte und anschließend gegen eine Mauer prallte. Diesmal trug ich Lederkleidung über der Badehose, hatte mich ans Tempolimit gehalten und war stocknüchtern.


Wieder blieb ich bis auf Prellungen unverletzt. Benommen stand ich auf, zählte meine Körperteile, schleuderte in jugendlichem Jähzorn den Helm gegen die Mauer und wollte mir den Fahrer des Opel Admiral vorknöpfen. Hinter dem Steuer saß ein kreidebleicher Mann von etwa achtzig Jahren, der sich ängstlich am Lenkrad festkrallte. Seine Hände steckten in weißen Lederhandschuhen.


Noch bevor ich irgendetwas sagen konnte, stammelte er, ich möge von einer Anzeige absehen, er würde mir den entstandenen Schaden ersetzen. Autofahren sei sein letztes Vergnügen - wenn ich die Polizei riefe, nähme man ihm seinen Führerschein ab, und dann könne er nie wieder einen Wagen steuern. Er beteuere seine Schuld, aber er sei auf das Auto angewiesen. Obwohl ich mich fühlte wie von einem Würfelbecher ausgespuckt, tat mir der alte Mann leid. Ich notierte seine Adresse.


Einige Tage später suchte ich den Alten in seinem Dorf auf und hielt ihm die Rechnung unter die Nase. Sofort händigte er mir den Betrag für die Reparaturkosten aus und überreichte zusätzlich 500 D-Mark Schmerzensgeld, ohne dass ich danach gefragt hätte. Zu jener Zeit leistete ich Zivildienst beim Roten Kreuz, und 500 D-Mark erschienen mir als kleines Vermögen.


Etwa ein halbes Jahr später bekamen wir den Auftrag für den Transport eines Krebspatienten vom Kreiskrankenhaus meines Einsatzortes in die Abteilung Innere Medizin der Würzburger Universitätsklinik. Ein Routineeinsatz. Mein Kollege setzte sich ans Steuer des Krankenwagens, und ich betreute den Patienten im hinteren Teil des Fahrzeugs. Nachdem ich einige freundliche Worte mit dem alten Mann gewechselt hatte, meinte er mit zitteriger Stimme, ich käme ihm bekannt vor - ob ich nicht vor einigen Monaten in einen Unfall mit einem Opel Admiral verwickelt gewesen sei.


Bei dem Patienten handelte es sich um den Autofahrer mit den weißen Lederhandschuhen. Ich hätte ihn nicht wiedererkannt, die Krankheit hatte ihn sehr verändert. Sein eingefallenes Gesicht war mit einer gelblichen, fast durchsichtigen Haut bespannt, und sein Körper schien keine Masse mehr zu besitzen.


Als ich mich einige Tage später nach ihm erkundigte, hieß es, er sei verstorben.


P.S. Im Rückblick bin ich mir nicht sicher, ob ich damals richtig gehandelt habe, als ich auf eine Anzeige verzichtete und dem alten Mann den Entzug seines Führerscheins ersparte. Immerhin hatte er an einer übersichtlichen Kreuzung ein Stoppschild übersehen und stellte hinter dem Steuer seines Opel Admiral weiterhin eine Bedrohung dar. Träfe mich ein Teil der Schuld, wenn er nach unserem Zusammenstoß ein Kind überfahren hätte? Das Schicksal kümmert sich nicht um Alternativen aus einer unendlichen Anzahl von möglichen Variationen der Ereignisse, aber wo endet die Verantwortung?

15 Comments:

Blogger MudShark said...

da hast du eine frage gestellt um deren antwort ich vor vier jahren auch gerungen habe. ich war gekleidet wie ein greller paradiesvogel und auf einer übersichtlichen kreuzung mit dem rennrad unterwegs als mir ein entgegenkommender, alter herr beim linksabbiegen die vorfahrt nahm. passanten waren erstaunt, dass ich nach der kampfrolle über seine motorhaube überrhaupt wieder aufgestanden bin. ich hatte großes glück.

jedenfalls habe ich lange überlegt ob ich ihn anzeige. ich habe es sein lassen. wahrscheinlich, weil mir bis auf eine naht am schienbein nix passiert ist und er mir den renner ohne nachfrage ersetzt hat.

ich fände es gut, wenn ab einem gewissen alter, sagen wir 40 (hehe!), jeder führerscheininhaber alle 2 jahre zur kontrolle seiner augen, seines gehörs und seiner reaktionsfähigkeit gehen müsste. beim fliegen ist sowas standard. es würde wohl einige unfälle vermeiden helfen - aber natürlich auch vielen älteren menschen die mobilität nehmen. in der stadt eher kein problem, aber auf dem land der horror.

18.2.08  
Blogger mkh said...

Nicht die durch surrealistische Quintensprünge bestechendste, aber für mich die persönlich bewegendste Quintstory, die ich bei dir bisher lesen konnte.

Die Frage, die du mit dem alten Mann aufwirfst, kenne auch ich gut. Nicht lange her, da hat sich ein Altfahrer mit seinem Altaudi in meine abgelegene Sackgasse mit hohem Steigungsgrad verirrt und konnte nicht mehr vor und zurück, schien zudem orientierungslos; ich hab ihm seinen Altaudi aus dem gröbsten Schlamassel gefahren, dann durfte er wieder ans Steuer und sein Glück bei der Weiterfahrt versuchen - und ich sah ihm nach und stand da zwischen zwei Stühlen: menschliche Hilfsbereitschaft oder Fahrlässigkeit? - Ich weiß bis heute nicht, ob er mit seinem Altaudi in den nächsten Bach gefallen ist oder heil und ohne jeglichen Unfall nach Hause gefunden hat...

Als partieller Motorradfahrer kenne ich außerdem auch den "jugendlichen Zorn" darüber, wenn einem Knautschzonenfahrer viel zu fahrlässig die Vorfahrt nehmen und damit allzu leichtfertig Lebensgefahr-Alarmstufe rot, verursachen...

Aber weiter zu den Altfahrern: Ich habe Respekt vor denjenigen, die irgendwann aus eigenständiger Verantwortung ihren Fürerschein abgeben, aber ich kann auch gut verstehen, wenn ein Altgewordener - besonders auch auf dem Land - das "Autofahren ... sein letztes Vergnügen", seine scheinbar letzte Form der Mobilität und persönlicher Freiheit, liebend gerne behalten möchte, sich vielleicht sogar selbst der Ambialenz, des Risikos bewusst ist...

Aber ich kenne das gleiche Dilemma auch von anderen Erlebnissen: Leute, die existentiell auf die Schnauze gefallen sind - wie lange kann man sie unterstützen, auch wenn sie einem selbst längst wirtschaftlich schaden?!? Irgendwann bleibt wohl nur konsequente Härte?!? - Diese Fragen werden nie eindeutig beantwortet werden können.

Und jetzt aber noch einmal: Alles Beste (nachträglich) zum Geburtstag!

18.2.08  
Blogger stilhäschen said...

Tja, das könnte Dr.Dr.Erlinger sicher ethisch korrekt beantworten, aber was nützt das dem nächsten Unschuldigen, der vom Rollator übergebügelt wird?
Solange der ADAC lebt, wird es keine Fahrtüchtigkeitsüberprüfungen geben - also einfach bitte weiterhin Kombi und Helm und Glück haben, bitte.

18.2.08  
Blogger Oles wirre Welt said...

Ich stand nie wirklich vor einer Entscheidung. Doch bin ich noch nie Motorrad gefahren. Von meinem einzigen Autounfall habe ich nichts mitbekommen. Ich wurde erst im Nachhinein darüber informiert. Es war zwei Wochen nach Erhalt des Führerscheins und ist zehn Jahre her.

19.2.08  
Blogger Jan Spengler said...

Du hast Deine Entscheidung m.E. mit Augenmass und korrekt getroffen. Abwägungen zwischen Menschlichkeit und bürgerlicher Verantwortung. Ersteres ist mir im Zweifel lieber.

Ein anderer Fall wäre es gewesen, wenn der Herr auf Trip oder Schorle gewesen wäre.

Aber wer will schon den ersten Stein werfen ;)

19.2.08  
Blogger Falcon said...

Ich bin ja auch weniger ein Freund es Anzeigens, finde es aber - auch auf dem Land - trotzdem irgendwie bedenklich, wenn jemand Autofahren als letztes ihm gebliebenes Vergnügen bezeichnet.
Im Zweifelsfall hätte ich unter den von Dir beschriebenen Umständen auch auf die Anzeige verzichtet.
Ob ich das heute unter Berücksichtigung der Vorstellung, dass der Typ statt meiner auch meine kleine Tochter hätte erwischen können, genau so machen würde, glaube ich aber nicht.

21.2.08  
Anonymous Anonym said...

Ich denke, du hast dich richtig verhalten. Du stellst ja die Frage nach der Verantwortung.

Die Statistiken sind allerdings eindeutig:

Bei den über 65jährigen an Unfällen PKW-Fahrern tragen 66% die Hauptschuld, bei den über 75jährigen sogar 3 von 4.

Ich befürworte deshalb regelmäßige Grufti-Tests.

22.2.08  
Anonymous Anonym said...

*an Unfällen beteiligten*

22.2.08  
Blogger 100 Goldfischli said...

Unsereiner trägt anscheinend den naiven Glauben mit sich herum, dass es für jede Entscheidung ein "richtig" und ein "falsch" geben muss (weiß gar nicht, wo wir das her haben). Und wir wollen doch gerne alles richtig machen, jaja, unser Gewissen.

Es bedarf einer gewissen Lebenserfahrung (nicht unbedingt Alter) um zu erkennen, dass man immer wieder mal vor die Entscheidung zwischen "schlecht" und "schlechter" gestellt wird. Das geschieht zudem oft so, dass man sich der Entscheidung gar nicht entziehen kann - oder dass Nichtstun auch eine Entscheidung ist.

Das einzig vermeintlich "richtige", was man dann tun kann ist: Abwägen. Und sich mit der daraus getroffenen Entscheidung abfinden. Immerhin hatte man ja einen Grund.

Aktives Weghören: Es gibt zum Abwägen immerhin die Alternativen "Habichnichtgewusst" und "Daswarichgarnicht", aber die wollen uns ja anscheinend auch nicht gefallen, wenn wir es doch gewusst und auch irgendwas getan haben.

22.2.08  
Blogger DanielSubreal said...

Jemand der mal Wortkombinationen wie "juvenile Blödheit" verwendet ist von aller Verantwortung für den Rest der Menschheit freigesprochen und sollte Preise entgegennehmen und sich, wie James Dean, zu tode rasen dürfen. Meinetwegen auch wie Falco einfach beim Ausparken von einem 40Tonner erwischt werden.

...ich sehne mich nach Zuständen juveniler Blödheit...

22.2.08  
Blogger Der_grosse_Transzendentale_Steini said...

Mein Vater ist in seinen letzten Jahren auch so scheiße Auto gefahren. Schlecht hören, schlecht sehen, miese Reaktionen und steifer Hals - das übliche. Als ich ihm zum erstenmal vorgeschlagen hatte, aus Sicherheitsgründen das Fahren sein zu lassen, hat er mich angeguckt, als wollte ich ihn einschläfern lassen. Wenn ich drüber nachdenke, würde es mir wahrscheinlich nicht anders gehen.

Wenn mich allerdings ein halbblinder Greis vom Moped holen würde, wären meine Ansichten nicht mehr so mild.

28.2.08  
Blogger 100 Goldfischli said...

Ergänzend eine These:

Sicher gibt es eine ganze philosophische Schule für die Erkenntnis, dass man hinterher natürlich leicht sagen kann, was richtig war. Und der MQ kennt ihren Namen.

28.2.08  
Blogger nora said...

nicht eher: wo fängt die Verantwortung an?

Einem Menschen etwas nehmen, dass ihm soviel bedeutet und dafür eine potenzielle Gefahr abwehren, die allerdings gar nicht von dir sondern von einem dir gar nicht nahestehenden Menschen ausgeht, und das noch nciht einmal notwendigerweise?

Ich weiß nicht.

6.3.08  
Blogger mq said...

/MudShark: ÖPNV-Netze auf dem Land bestehen hauptsächlich aus Löchern, die Knotenpunkte zwischen den Löchern sind rar. Davon abgesehen ist 40 unbedingt ein hervorragender Zeitpunkt zum Eintritt in den Altersstarrsinn!

/mkh: Ein Motto gibt es für diese Situationen an der merkwürdigen Grenze zwischen Hilfsbereitschaft und Hass nicht. Ist Gerechtigkeit eine individuelle Mixtur aus Härte und Milde?

/stilhäschen: Ich werde Ihren Rat berücksichtigen, auch wenn luftige Bademode ein herrlich idiotisches Gefühl von Freiheit vermitteln mag.

/Ole: Global betrachtet, stellt deine Behauptung, du seist "nie wirklich vor einer Entscheidung" gestanden, eine Herausforderung für meine Vorstellungskraft dar ;)

/Andie Kanne: Du weißt, wie schwer es ist, in jener Gegend ältere Herren zu finden, der sich schorlefrei hinter Lenkräder begeben.

/Falcon: Obwohl man als Demokrat und Steuerzahler gesetzliche Sanktionierungsmaßnahmen unterstützt, könnte es ein Ideal sein, den Zugriff auf das erforderliche Minimum zu beschränken. Aber jedem Glück scheint ein Konjunktiv zu folgen ...

/Elder Blogman: Zusätzlich wäre es eine interessante Überlegung, jedem ab 65, der freiwillig seinen Führerschein abgibt, freie Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln zu ermöglichen.

/<°((( ~~<: Nur wenige Entscheidungen werden in vollständiger Eindeutigkeit getroffen. Und die Rewind-Taste fehlt leider im zeitlichen Konzept. Manche Dinge wusste man allerdings tatsächlich nicht, und in Ausnahmefällen ist man sogar unschuldig. Aber wie entscheidend ist es, dass andere davon ebenfalls überzeugt sind?
Handelt es sich etwa um die philosophische Abendschule der erhobenen Zeigefinger für Verhaltensunauffällige?

/DanielSubreal: Ich könnte mir die Haare pomadieren, aber das Rauchen will mir derzeit nicht gelingen.

/DGT Steini: Der Mann mit den weißen Lederhandschuhen hat mich auch angeguckt, als wollte ich ihn einschläfern lassen. Das scheint eine Art inverses Kindchenschema zu sein. Jedenfalls wirkt es.

/Nora: Und mit großer Wahrscheinlichkeit trifft die potenzielle Gefahr auch keine mir nahe stehenden Menschen. Aber immerhin Menschen.

6.3.08  
Blogger nora said...

ja. so hatte ich es auch nicht gemeint.

7.3.08  

Kommentar veröffentlichen

<< Home