Die Taschentuchmaus Herr Jahnke
Ein Kind besitzt die Fähigkeit, unbeseelten Dingen Leben einzuhauchen, indem es Dialoge mit den Dingen führt. Neben der eigenen Rolle spielt das Kind dabei gleichzeitig alle Rollen, die es den Gegenständen in seiner Phantasie zuweist.
Als ich ein Kind war, unterhielt ich mich ein Jahr lang mit einem hellgrau karierten Taschentuch. Aber es war nicht nur ein Stück Stoff. Ein Kurgast, der in der Pension meiner Großmutter wohnte, hatte das Taschentuch mit einigen geschickten Knoten in eine Maus verwandelt. Der Kurgast hieß Herr Jahnke, er kam aus Berlin und hatte Gallensteine. lch gab der Maus seinen Namen und trug sie immer bei mir. Auch als sich die Knoten längst gelöst hatten, wurde Herr Jahnke nicht wieder zum Taschentuch, sondern blieb die Maus, mit der ich mich unterhielt.
In der folgenden Saison kam der Kurgast wieder. Eines Nachts entwendete meine Großmutter heimlich das Taschentuch, das inzwischen den Schmutz eines Kinderjahres in sich trug. Am nächsten Morgen lag auf dem Frühstückstisch eine neue Maus. Aber es war nicht Herr Jahnke, der da frisch gewaschen und mit neuen Knoten geknüpft vor mir lag. Indem meine Großmutter das Taschentuch wusch und der echte Herr Jahnke neue Knoten knüpfte, kehrte meine Maus zurück in den Zustand eines unbelebten Stoffes, der nicht mehr mit mir sprechen konnte.
So verlor ich meinen ersten Freund durch einen Waschgang bei neunzig Grad. Am Ende seines Daseins war er ein schmutziger Freund, aber schlecht war er nicht.
Als ich ein Kind war, unterhielt ich mich ein Jahr lang mit einem hellgrau karierten Taschentuch. Aber es war nicht nur ein Stück Stoff. Ein Kurgast, der in der Pension meiner Großmutter wohnte, hatte das Taschentuch mit einigen geschickten Knoten in eine Maus verwandelt. Der Kurgast hieß Herr Jahnke, er kam aus Berlin und hatte Gallensteine. lch gab der Maus seinen Namen und trug sie immer bei mir. Auch als sich die Knoten längst gelöst hatten, wurde Herr Jahnke nicht wieder zum Taschentuch, sondern blieb die Maus, mit der ich mich unterhielt.
In der folgenden Saison kam der Kurgast wieder. Eines Nachts entwendete meine Großmutter heimlich das Taschentuch, das inzwischen den Schmutz eines Kinderjahres in sich trug. Am nächsten Morgen lag auf dem Frühstückstisch eine neue Maus. Aber es war nicht Herr Jahnke, der da frisch gewaschen und mit neuen Knoten geknüpft vor mir lag. Indem meine Großmutter das Taschentuch wusch und der echte Herr Jahnke neue Knoten knüpfte, kehrte meine Maus zurück in den Zustand eines unbelebten Stoffes, der nicht mehr mit mir sprechen konnte.
So verlor ich meinen ersten Freund durch einen Waschgang bei neunzig Grad. Am Ende seines Daseins war er ein schmutziger Freund, aber schlecht war er nicht.
14 Comments:
Einen Freund zu verlieren ist immer hart.
Und dass ein schmutziges Taschentuch manchmal der beste Freund sein kann, werden Erwachsene wohl nie verstehen.
Hach...traurig, so seinen Freund zu verlieren.... Aber ich hoffe du hast neue Freunde gefunden;)
@falcon
Wieso "Erwachsene nie verstehen"? Mit dir und mir verstehen es doch jetzt schon mindesens 3 Erwachsene (MQ selbstredend einbezogen).
Aber ich gebe zu, diese schöne Geschichte hat mir die kindliche Beseelung der Welt gerade wieder in Erinnerung gebracht. Manchmal neigt man dazu, es zu vergessen - besonders dann, wenn sich Kinder bspw. wegen ihrer Schnuffeldecke, die nicht gewaschen werden soll, "anstellen".
Auf der anderen Seite gibt es bei mir heute noch (oder heute wieder!) jede Menge beseelte Dinge... fängt mit meinem VW an... - Wie "kindisch"!
@MKH: Auch richtig, aber in Anbetracht solcher Empfindungen wäre ich vorsichtig, mich selbst als erwachsen im strengen Wortsinn zu bezeichnen.
Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.
Da steckt viel Weisheit drin. Die schmutzigsten Freunde waren schon immer die besten, die ich hatte.
@falcon
Oh, DIE Meinung teile ich jetzt aber NICHT! Erwachsensein heißt nicht, nur noch in konventionellen Maßstäben zu denken!
Das Einzige, was man vielleicht sagen könnte, ist, dass man im Glauben an die Beseeltheit der Dinge kein streng "rationales" Denken hat, sondern für "Irrationales" offen ist.
Aber selbst das Wort "Irrationalität" erscheint mir angesichts immer spirituellerer Elemente in der Wissenschaft zunehmend irrational... Wer weiß, ob irgendwann quantenphysikalisch nachweisbar ist, dass mein Passat womöglich TATSÄCHLICH beseelt ist... Warten wir mal ab!!! :-)
Ich gehe ja auch eher von der westeuropäisch geprägten Feld-, Wald- und Wiesendefinition des Begriffes "erwachsen sein" aus.
Und die sieht ja unter dem Gebot des vernünftigen Handelns keinerlei irrationales Verhalten vor. Schon gar nicht im Hinblick auf den Glauben an die Beseeltheit der Dinge.
Ich muss in diesem Zusammenhang immer noch an die irritierten, belustigten und zum Teil entnervten Blicke anderer Erwachsener denken, als ich in einem vollbesetzten Flugzeug zur Unterhaltung meiner kleinen Tochter ein Puppentheaterstück aufführte, bei dem eine zum Leben erwachte Mütze eine nicht unwesentliche Rolle spielte...
@Mütze
*lach* Verstehe!
Oh. Traurig, traurig. Mein "Herr Jahnke" war ein, aus einem rosa Handtuch genähter Bär. Ich glaube er hieß Kiki oder so. Ja scheiß Name, aber Mädchen haben doofe Spielzeug-Namen. Ich konnte nur einschlafen weil Kiki so schön muffelig gerochen hatte. Als er dann auch, Jahre später, gewaschen wurde mochte ich ihn nicht mehr...
@falcon: Ich halte es für eine große Kunst, Kindern den Unterschied zwischen Vernunft und Unvernunft beizubringen. Die noch größere Kunst besteht vielleicht darin, Kindern beizubringen, dass Unvernunft zum richtigen Zeitpunkt vernünftiger ist, als Vernunft - und dass Peinlichkeit ein erfundenes Gefühl ist, das Erwachsene allzu gern auf Kinder übertragen. Bei der Puppentheateraufführung wäre ich jedenfalls gerne dabei gewesen.
@kerze: Ja, wobei ich mich selbst eher als mittelmäßig tauglichen Freund einschätze und meine Freunde hingegen alles andere als mittelmäßige Freunde sind.
@mkh: Fahrzeuge mit Charakter lassen sich durchaus von ihrem Eigentümer beseelen. Mein erster R4 Kastenwagen ließ mich nie im Stich, wenn es um Leben und Tod ging. Ich habe sogar eine Weile in ihm gewohnt und wir verstanden uns prächtig!
@steini: Die schmutzigen Freunde können die besten sein ... solange sie nicht noch schmutziger sind, als man selbst.
@martha: Was sollte an Kiki doofer sein als an Herr Jahnke? Kiki und Coco zählen zu meinen Lieblings-Spielzeugbärennamen. Soviel steht fest.
@mq: Meiner Meinung nach ist nicht ausschlaggebend, als wie tauglicher Freund man sich empfindet, sondern als wie tauglich man von seinen Freunden empfunden wird.
Herr Jahnke geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Inzwischen wissen Rudi (mein Auto), Lisa (mein Fahrrad), mein Toaster, mein Kühlschrank und jede Menge Bäume von ihm. Die nächste Maus, die sich unter meinen Augen an den Walnüssen im Garten zu schaffen macht, werde ich so taufen. Freundschaftlich, versteht sich.
Schön! Herr Jahnke hätte es sich bestimmt niemals träumen lassen, dass er irgendwann einmal so berühmt unter Transportmitteln, Küchengeräten und Bäumen wird.
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