Donnerstag, Januar 07, 2010

Zeitfiguren

Er ging, jeden Tag, dieselbe Strecke. Schlammig und ausgetreten wand sich sein Weg durch den Park der verlorenen Zeit, wie Escher die Anlage bei sich nannte. Im grauen Himmel verharrten Vögel, deren Gefieder die Farbe der Wolken angenommen hatte, auf dürren Ästen in Gedanken. Nichts rührte sich. Es war, als entspränge die Stille ihrer eigenen Quelle, ebenso wie jeder Laut.

An einem quecksilbernen Nachmittag, der sich in nichts von den anderen Nachmittagen im tauenden Frost der Jahreszeit unterschied, fiel ihm auf, dass an jener Kreuzung, an der Escher noch nie entschieden hatte, die rechte Abzweigung zu nehmen und den gewohnten Weg zu verlassen, um eine neue Richtung einzuschlagen, eine Skulptur errichtet war, eine männliche Figur aus schwarzem Granit, die ratlos auf ihrem Sockel stand, als würde sie sich fragen, wie sie dorthin geraten sein könnte und wie die gesamte Welt um sie herum entstanden ist.

Gesichtszüge und Statur des Mannes aus Stein erschienen ihm vertraut. Escher wunderte sich, dass er die steinerne Figur, die von Efeu überwuchert war, noch nie wahrgenommen hatte. Ohne die Inschrift auf dem Sockel zu beachten, ging er am Denkmal vorbei und schlug seinen gewohnten Weg ein.

Auch am nächsten Tag unterbrach er seinen Gang nicht. Aber an der Wegkreuzung überkam Escher das Gefühl einer begründbaren Angst. Und er hatte den Eindruck, als wäre die Luft im Umfeld der Statue kälter. Der Anlass für seine Angst nahm in den folgenden Tagen Konturen an. Jede Begegnung mit dem Mann aus Granit bekräftigte Eschers Beobachtung, dass sich die Statue veränderte. Sie schien über Nacht eine andere Haltung einzunehmen. Zeichnete sich anfangs noch ein verzweifelter Ernst auf dem, in die Ferne gerichteten Gesicht ab, schien es inzwischen mit einer hinterhältigen Freundlichkeit ausgestattet und in die Richtung gedreht, aus der Escher sich näherte. Als ob die Figur ihn erwartete, empfing sie Escher mit ihrem rätselhaften Blick aus schwarzen Augen.

Es vergingen mehrere Tage. Escher ging, jeden Tag, dieselbe Strecke. Als er an einem Sonntag an die Wegkreuzung kam, war die Figur verschwunden. Nur der Sockel stand verlassen zwischen den Büschen. Zum ersten Mal versuchte Escher, die Inschrift zu entziffern. Ein frostiger Windhauch streifte seinen Nacken. In den Stein waren sein Name und sein Geburtsdatum gemeißelt. Eschers Blick fiel auf ein weiteres Datum und ein Kreuz daneben, aber die Ziffern waren zur Unkenntlichkeit verwittert.

Er stieg auf den Sockel. Von oben beobachtete Escher, wie sich ein Mann der Kreuzung näherte, der denselben Mantel trug wie er. Dann erkannte er, dass Escher selbst auf ihn zukam. An der Kreuzung zögerte Escher kurz. Er schaute ihm kurz in die Augen, bevor er in den linken Weg einbog. Als er nicht mehr zu sehen war, stieg Escher von seinem Sockel und schlug den rechten Weg ein.

Zeit ist ein Wegweiser ohne Beschriftung. Allein Veränderungen markieren Zeit, ohne die Vergänglichkeit von Ereignissen existiert Zeit nicht. Escher betrachtete seine Fäuste, die auf den Armlehnen des Ohrensessels ruhten. Sie fühlten sich hart an, als seien sie aus Granit geschlagen. Sein Blick verfinsterte sich.

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6 Comments:

Blogger Christian 55 said...

Es war sehr spät, und die Nacht war kalt. Eine Nacht in einer Stadt. Keiner besonderen Stadt; einer Stadt mit nass glänzenden Strassen. Die Fenster der Häuser schlafende, lidlose Augen. Das Geräusch der vorbeifahrenden Autos beinahe schön. Die Erinnerung ein schwaches Licht am Ende eines langen Tunnels.
So beginnt die Versteinerung, während ich die feuchte Kälte des Nebels immer weniger deutlich am Gesicht und an den Händen spüre.

8.1.10  
Blogger Frau H. said...

Escher sollte fliesen lernen (ach, das ist so schön doppeldeutig!)...wie die Zeit, mit der Zeit, gegen die Zeit. Im Weichen liegt die wahre Kraft.

12.1.10  
Blogger mkh said...

Eschamorphosis

12.1.10  
Blogger MudShark said...

ich glaub der escher hat einen an der waffel. fragt sich nur welcher.

13.1.10  
Blogger DanielSubreal said...

Ich hoffe Escher wird glücklich. Als ich jung gewesen bin, war ich mal in eine junge Dame aus Marmor verliebt. Aber es gelang mir nicht ihr Herz zu erwärmen. Trotzdem ist sie mir in guter Erinnerung... und jetzt wieder vor Augen. Manchmal ist in der ganzen Zeit nichts passiert...

14.1.10  
Blogger mq said...

/Christian 55: Bewegung ist die einzige Waffe im Kampf gegen Kälte und Versteinerung.
(Ihr Kommentar erinnert mich an ein >> großartiges Video.)

/Frau H.: Welchen Klebstoff können Sie empfehlen, damit keine Kacheln von der Decke des Zeitraumes fallen?

/mkh: s.a. Eschapismus.

/MudShark: ""Unter den Waffeln schweigen die Gesetze." (Frei nach Cicero)

/DanielSubreal: Diese Damen aus Marmor sind härter als Granit.

17.1.10  

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