Sonntag, November 16, 2008

München - Venedig (XII): Unter die Vernunftoberfläche

Menschen sollten nicht auf Berge steigen. Dafür gibt es vernünftige Gründe. Es ist gefährlich. Man kann sich verletzen oder zu Tode stürzen. Das Wetter ist unberechenbar. Man wird sich der menschlichen Winzigkeit bewusst. Es ist anstrengend. Man muss sich auf unerwartete Situationen einrichten. Und außer Fernsicht, Kargheit und Einsamkeit gibt es dort oben wenig zu erwarten.

Aber dieselben Gründe sprechen auch für das Bergsteigen, nur liegen sie dann nicht an der verspiegelten Oberfläche der Vernunft. Stärke erwächst nicht aus der Umgehung von Herausforderungen, sondern aus der Suche nach Erfahrungen, der Überwindung von Gefahren und der Bewältigung von Ängsten.

Der Mensch steigt auf Berge, weil er das Gefühl auf den Gipfeln oder den Gipfel von Gefühlen erfahren will. Man kann viel aus Büchern über Wiesen lernen, aber man lernt eine Wiese erst kennen, wenn man darüber geht oder darauf liegt, das Gras spürt und riecht. Ebenso verhält es sich mit dem Erleben der Berge. Beschreibungen genügen dem Wunsch nach Erfahrung nicht, der Mensch will mit allen Sinnen erleben. Und wenn eine Erfahrung Glücksmomente oder Erfolgserlebnisse vermittelt, will sie wiederholt werden - auch mit dem Risiko, dass sich das Ergebnis ins Gegenteil verwandelt.

Nachdem man sich den Besitz der Erfahrung angeeignet hat und auf dem Gipfel steht, möchte man in die Welt dort unten schreien: "Jetzt gehörst du mir!" (Tatsächlich verhält es sich umgekehrt.)



Der Morgen des zehnten Tages war klar wie das Eiswasser eines Gletscherbachs. Ein weißer Mond leuchtete am Himmel, als wollte er mit der Sonne konkurrieren.

Nadeln aus gefrorener Luft stachen in meine Lunge. Die Kühle vertrieb nächtliche Schlafreste und formte Tagtraumbilder, in der Ferne zeichneten sich Bergsilhouetten wie Scherenschnitte ab.



Ein Teil des Weges zum Piz Boè trug die Nummer 666. Dieser Gipfel sollte der höchste auf dem Traumpfad nach Venedig sein. Der Teufel ist mir nicht begegnet, vielleicht gefiel ihm das Wetter nicht.



Als sich der Berg in seiner gespenstischen Größe vor mir auftürmte, hielt ich eine Begegnung mit Trikot-Träger 666 nicht für ausgeschlossen.



Aber es kam völlig anders. Plötzlich schienen Menschen aus verschiedenen Richtungen zu strömen, und alle bewegten sich in Richtung Gipfel, wo sich das Gewusel verdichtete. Oben hatte man auf 3.150 Metern eine bewirtschaftete Hütte errichtet, und davor drängten sich lärmende Massen im Wettbewerb um ein Stück Strudel oder Pommes. Man fand kaum einen Stehplatz, offenbar wollte ganz Italien am 18.8.2008 den Piz Boè besteigen. Eigentlich kein Wunder, drei Tage nach Maria Himmelfahrt. Wohin sollte der gläubige Italiener sonst in diesen Tagen streben, wenn nicht in Himmelsnähe? Dennoch hat mich der Ansturm überwältigt. Ich war derart verblüfft, dass ich sogar versäumte, den Trubel fotografisch festzuhalten. Rasch verließ ich den Gipfel in Richtung Süden.

Der Abstieg war sehr gut mit Drahtseilen versichert. An einigen Stellen bildeten sich Staus, weil man die aufwärts Krabbelnden vorbei lassen musste. Auf jener Route ist der Piz Boè leicht zu erklimmen, zumal sich viele Gipfelstürmer mit der Seilbahn zur Pordoijochhütte gondeln lassen. Ich wählte den Weg über das Kar nach unten.

Vom Passo Pordoi führte der wunderschön gelegene Bindelweg gegenüber des Marmolada-Massivs zum Fedaiasee, wo ich die folgende Nacht verbrachte, ...



... in der sich der Mond den Himmel zurückholte.





















(...)

11 Comments:

Anonymous Anonym said...

Schön, nicht wahr?
Mein Großonkel ist am Pordoi beerdigt und war schon oft sein Grab besuchen…

17.11.08  
Blogger MudShark said...

die dolomiten sind halt schlichtweg der hammer. in jeglicher hinsicht.

17.11.08  
Blogger Jan Spengler said...

Deine Tour muss auch um diese Jahreszeit fantastisch sein, hoch über den Nebeln der Täler.

17.11.08  
Anonymous Anonym said...

Sir Quint, ich will ja eigentlich gerade 'mal meine Fresse halten, aber eines interessiert mich dann ja doch zu sehr: Ist das ein Tip(hehe)fehler oder haben Sie wirklich ein so großartiges Gedöchtnis, dass Sie sich an Reisen von vor zwei Jahren so detailiert erinnern können????

(Geht jetzt wieder in sich und ist still. Die Wortbestätigung sagt squid, Wenn das keine Bestätigung ist.)

17.11.08  
Blogger mq said...

Tippfehler! Merci für den freundlichen Hin- und Beweis: Aus Sicht der Betroffenen wäre ihr Rückzug ein großer Verlust.

18.11.08  
Anonymous Anonym said...

Selten meine Eindrücke so wohlfeil in Worte verpackt bekommen!!
Nur bezüglich des Besitztaumels habe ich mich anders gefühlt. Klein, auf angenehme Weise unbeachtet von diesem mächtigen Ding, das wir Natur nennen.
Geborgen verloren...

Thanx

22.11.08  
Anonymous Anonym said...

Manchmal braucht es einen Rückzug. Und vollkommen leere Blätter. Aber keine Sorge, ein Auflösen ist es nicht. Eher ein Durchatmen und Nachdenken. In der Stille.

22.11.08  
Anonymous Anonym said...

Ohne Beschwerlichkeiten auf sich zu nehmen bekommt man nichts Besonderes. Das ist, was ich auf meinen Auf-den-Berg-Touren lernte.

23.11.08  
Blogger mkh said...

Grandiose Alpen. Sätze wie Kristalle. Emotion Bergwelt!

Staunender Leser.

27.11.08  
Blogger mq said...

/der andere: Ich hoffe sehr, dass ich nie mein eigenes Grab besuchen muss. Möge Ihr Großonkel bald Frieden finden.

/Mud Shark: Absolut.

/Andie Kanne: Für einen Eisexperten wie dich wäre die Tour auch im tiefsten Winter ein Spaziergang, bei mir verursacht schon der Gedanke Gänsehaut.

/Joppi: Ein guter Hinweis. Ich empfinde vielmehr verlorene Geborgenheit als geborgene Verlorenheit innerhalb dieser größten bekannten Macht.

/Frau H.: Restarted? Leere Blätter sind Arbeitsmaterial, keine Inspirationsquelle. Besorgen Sie sich einen Stift! Zuviel Stille macht taub.

/eon: Alles andere sind Instant-Erfahrungen.

/mkh: Dein Kommentar erinnert mich an eine sehr schöne Erzählung, Bergkristall von Adalbert Stifter.

30.11.08  
Anonymous Anonym said...

Bergkristall ist besser als Zuckerkristall oder Schneekristall

8.7.11  

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