Freitag, Juni 27, 2008

Hohe Stufen

R wollte nach oben. Auch wenn das Erklimmen einsamer Gipfel keinem vernünftigen Zweck diente, symbolisierte allein die Anstrengung einen Fortschritt auf den steilen Routen zur Erkenntnis. Der Ausblick von den verschiedenen Spitzen unterschied sich kaum, und dennoch enttäuschte ihn das Panorama, wenn R unter einem Gipfelkreuz stand, nie. Zwar konnte man die Bergwelt auch fliegend bestaunen, aber das wäre zu einfach gewesen.

Sein letzter Tritt schien sicher, und beim Abtasten der rauen Oberfläche fand R einen Griff. Mit dem Zeigefinger klammerte R sich an einen winzigen Vorsprung. Als R den anderen Arm streckte, um sich an einem weiteren Griff hochzuziehen, rutschten seine Füße vom Felsen. Für einen winzigen Moment aus Ewigkeit hing R an seinem Zeigefinger, unter ihm das Nichts.


Als R aus dem Nichts erwachte, spielte Schwerkraft keine Rolle mehr. Nachdem der Entwicklungsprozess abgeschlossen war, fanden seine Füße im neuen Leben Halt, und auch Überhänge bewältigte R ohne Schwierigkeiten. Das freie, ungesicherte Klettern war noch immer seine Leidenschaft. Mit den neuen Voraussetzungen bewegte R sich sogar an vollkommen glatten Steilwänden aus Glas ohne Gefahren.


Eine Fliegenklatsche machte R sein neues Dasein schlagartig bewusst. Das bislang unbekannte Gefühl des Schmerzes durchzuckte seinen Körper. Die Wiedergeburt als Stubenfliege in einer Allgäuer Bauernküche brachte offenbar nicht nur Vorteile mit sich. Aber nach einigen Drehungen um die eigene Achse gelang es ihm, vom Rücken wieder auf die kleinen Beinchen kommen. Ohne zu zögern, hob er vom Fensterbrett ab und flog in exakten geometrischen Mustern durch die Weiten der Stube. So entging R dem zweiten Schlag der Fliegenklatsche. Die Bäuerin kniff die Augen zusammen und versuchte, seine Flugbahn zu verfolgen. Dann gab sie ihre Jagd auf und legte die Fliegenklatsche zurück auf den Küchentisch.


Wenig später steuerte R das gelbe Band an. Es erschien ihm vernünftig, sich nach der Aufregung zu erholen. Das Band hing von der Decke und verströmte einen angenehmen Geruch. Manchmal stellt sich die Vernunft als Falle heraus. R ging der Bäuerin auf den Leim. Inmitten verendeter Artgenossen klebte R am Fliegenband und wunderte sich darüber, dass ihm diese Todesfalle während seiner Erkundungsflüge und Klettertouren zuvor nie aufgefallen war.


Auf der nächsten Stufe in der Reihe seiner Wiedergeburten befand R sich im Körper einer Zecke. Dieser Aufenthaltsort war für eine kletternde Seele beinahe ideal, denn außer den Zecken gab es im Kreislauf der Natur nur einen Schädling, der noch weniger natürliche Feinde kannte und ähnlich nutzlos erschien. Aber diese Stufe der Evolution hatte R bereits hinter sich.

(Dem >Seeblogger
in den Allgäuer Bergen gewidmet.)

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4 Comments:

Anonymous Anonym said...

Ich bin gewidmet - heissen Dank! Welcher andere nutzlose Schädling hat so ein Glück?

28.6.08  
Blogger mq said...

Ich habe zu danken, der Text entstand vor >diesem Hintergrund. Ohne deine Anregung würde die Stubenfliege noch immer an Allgäuer Glasscheiben klettern, ihre Eier in Allgäuer Milchprodukte legen und einer Allgäuer Bäuerin auf den Geist gehen.

2.7.08  
Blogger Oles wirre Welt said...

Ich glaube, die Zecke. :)

2.7.08  
Anonymous Anonym said...

Nun... solch ein Artikel an meinem Geburtstag...
Ein weiteres Zeichen!

10.7.08  

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