Pino VII
Ihre Bühne waren die Straßenecken der großen Städte. Dort kletterte Pino VI jeden Tag verschlafen aus dem abgewetzten Lederkoffer, wo er brav auf seinen nächsten Auftritt wartete. Vor vielen Jahren hatte der Alte seinen Gefährten geschnitzt und die Gelenke zwischen den schlanken Gliedern kunstfertig miteinander verbunden.
Zu Beginn jeder Vorführung ließ er Pino VI langsam erwachen. Wenn sich die Fäden unter der Hand des Puppenspielers spannten, kam Bewegung in den hölzernen Körper. Sobald sie zum Leben erweckt war, bewegte sich die Puppe wie von selbst, und während des Spiels schienen sich die seidenen Fäden gleichsam aufzulösen. Dann spürte der Alte kein Gewicht mehr, das an dem Kreuz in seiner Hand zog.
Nie hatte der Puppenspieler eine Dramaturgie entworfen, Dialoge und Geschichten entwickelten sich aus dem Gefühl einer Situation. Nicht immer gehorchte ihm die Puppe. Manchmal widersetzte sie sich in ihrer ungelenken Aufsässigkeit den Befehlen des Meisters. In diesen Momenten mochte das Publikum glauben, dass es sich nicht um einen leblosen Gegenstand handelte, der sich unter den Händen des Puppenspielers bewegte, sondern um ein Wesen, das von einem eigenen Willen in die Lage versetzt wurde, selbständig zu handeln. Dann fochten die beiden Kämpfe aus, die den Puppenspieler an den Rand der Erschöpfung brachten, und nach der Vorstellung hätte er nicht sagen können, wessen Geist die Inspiration seines Geschöpfes entsprungen war. Jenseits der mechanischen Möglichkeiten schien Pino VI sogar eine eigene Mimik zu entwickeln. Wenn er die Puppe in den Koffer zurücklegte, meinte der Alte manchmal, einen hämischen Zug auf ihrem Gesicht zu erkennen.
Eines Nachts träumte der Puppenspieler, dass er den Koffer öffnen würde und Pino VI verschwunden wäre. Am nächsten Morgen schmerzten seine Gelenke, und mit zitternden Händen ließ er die Blechverschlüsse aufschnappen. Aus dem Inneren des Koffers glänzte ihm nur der schwarze Samt entgegen.
Pino VI hatte den Entschluss gefasst, sich von den seidenen Fäden zu befreien und Herr über die eigenen Bewegungen zu werden. Aber schon bald würde ihm die neue Freiheit nicht mehr genügen, und dann würde er das Gefühl der Macht besitzen wollen, das ein Meister beim Bewegen seiner Puppe hat. Er würde eine Puppe nach seiner Vorstellung schnitzen und ihr den Namen seines Meisters geben, der auch sein eigener Namen war. Mit jeder neuen Puppe setzte sich die Tradition fort, während die Welt beständig kleiner wurde.
Pino I blickte dem alten Puppenspieler lange in die hölzernen Augen, bevor er ihn für immer zurück in seinen Koffer legte. Als er den Deckel langsam schloss, wich der Glanz aus den großen Augen von Pino V. Leblos lag er neben Pino II, III und IV auf dem schwarzen Samt.
Als er traurig mit den Schultern zuckte, hätte
Pino I gerne gewusst, wer an seinen Fäden zog.
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In memoriam Carlo Collodi
Zu Beginn jeder Vorführung ließ er Pino VI langsam erwachen. Wenn sich die Fäden unter der Hand des Puppenspielers spannten, kam Bewegung in den hölzernen Körper. Sobald sie zum Leben erweckt war, bewegte sich die Puppe wie von selbst, und während des Spiels schienen sich die seidenen Fäden gleichsam aufzulösen. Dann spürte der Alte kein Gewicht mehr, das an dem Kreuz in seiner Hand zog.
Nie hatte der Puppenspieler eine Dramaturgie entworfen, Dialoge und Geschichten entwickelten sich aus dem Gefühl einer Situation. Nicht immer gehorchte ihm die Puppe. Manchmal widersetzte sie sich in ihrer ungelenken Aufsässigkeit den Befehlen des Meisters. In diesen Momenten mochte das Publikum glauben, dass es sich nicht um einen leblosen Gegenstand handelte, der sich unter den Händen des Puppenspielers bewegte, sondern um ein Wesen, das von einem eigenen Willen in die Lage versetzt wurde, selbständig zu handeln. Dann fochten die beiden Kämpfe aus, die den Puppenspieler an den Rand der Erschöpfung brachten, und nach der Vorstellung hätte er nicht sagen können, wessen Geist die Inspiration seines Geschöpfes entsprungen war. Jenseits der mechanischen Möglichkeiten schien Pino VI sogar eine eigene Mimik zu entwickeln. Wenn er die Puppe in den Koffer zurücklegte, meinte der Alte manchmal, einen hämischen Zug auf ihrem Gesicht zu erkennen.
Eines Nachts träumte der Puppenspieler, dass er den Koffer öffnen würde und Pino VI verschwunden wäre. Am nächsten Morgen schmerzten seine Gelenke, und mit zitternden Händen ließ er die Blechverschlüsse aufschnappen. Aus dem Inneren des Koffers glänzte ihm nur der schwarze Samt entgegen.
Pino VI hatte den Entschluss gefasst, sich von den seidenen Fäden zu befreien und Herr über die eigenen Bewegungen zu werden. Aber schon bald würde ihm die neue Freiheit nicht mehr genügen, und dann würde er das Gefühl der Macht besitzen wollen, das ein Meister beim Bewegen seiner Puppe hat. Er würde eine Puppe nach seiner Vorstellung schnitzen und ihr den Namen seines Meisters geben, der auch sein eigener Namen war. Mit jeder neuen Puppe setzte sich die Tradition fort, während die Welt beständig kleiner wurde.
Pino I blickte dem alten Puppenspieler lange in die hölzernen Augen, bevor er ihn für immer zurück in seinen Koffer legte. Als er den Deckel langsam schloss, wich der Glanz aus den großen Augen von Pino V. Leblos lag er neben Pino II, III und IV auf dem schwarzen Samt.
Als er traurig mit den Schultern zuckte, hätte
Pino I gerne gewusst, wer an seinen Fäden zog.
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In memoriam Carlo Collodi
7 Comments:
lieber pino I,
bitte nicht so traurig sein.
manchmal schlummert in einem unscheinbaren stück kirschholz doch mehr als nur ein hampelmann oder rolldackel.
Der Storm steht bei mir gleich neben dem Heine.
Das Verantwortlichmachen höherer Institutionen macht es den Religionen bis heute leicht. "Knüpfen Sie einfach ein paar Fäden an ihren höchsten Punkt und schon können sie tun und lassen was Sie wollen." Ja was kann ich denn dafür?!?
Schöne Geschichte, die du da skizziert hast dem Herrn Lorenzini zu Ehren!
Sehr schön, fast wie zwei einander zugewandte Spiegel.
Jetzt habe ich für den Rest des Tages einen Ohrwurm.
"Kleines Püppchen...
(dideldideldideldi)
Freches Bübchen...
(dideldideldideldi)"
/Frech'n'Nett: ... während es sich mit einem Schluck Kirschwasser manchmal anders verhält :)
/Opa Pole: Der Storm quälte mich zu Schulzeiten. Aber eigentlich war es gar nicht der Storm, sondern die Lehrplan-Exekutive. Vielleicht sollte ich dem Theo nochmal eine Chance geben.
/Eon: Ist das nicht gleichzeitig ein politisches Prinzip?
/Der Nachbar: Merci. Ich war es dem Hrn. Lorenzini schuldig, denn er hat zu einigen aufschlussreichen Erkenntnissen während meiner Kindheit beigetragen.
/Scheibster: Jetzt habe ICH einen Ohrwurm.
Funktioniert in jedem Winkel des Universums.
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