Artgerechte Haltung
Seit zweiunddreißig Jahren sitze ich hinter dem Panzerglas und beobachte die Spiegelung meines Gesichts, das sich mit den Gesichtern der starrenden Besucher auf der anderen Seite der Scheibe überschneidet. Sie nennen uns Primaten. Im letzten Sommer haben sie ein Freigehege eingerichtet, aber die meiste Zeit verbringe ich unter der künstlichen Sonne des hellgrün gekachelten Raumes.
Obwohl es hier sehr sauber ist, und man sich nicht über die Nahrung beschweren kann, gibt es immer wieder Fluchtversuche. Sie springen in den Wassergraben und scheitern dann am elektrischen Draht. Andere rennen mit dem Kopf so lange gegen das Panzerglas, bis ihr Blut in hellroten Schlieren die Scheibe herunterrinnt. Wenn sie es überleben, bringt man sie weg. Bisher hat man keinen von ihnen wiedergesehen. Vielleicht sind sie jetzt in Freiheit. Aber trotz dieser vagen Möglichkeit bringe ich den Mut nicht auf, ihrem Beispiel zu folgen.
Manche flüchten in den Käfig der inneren Freiheit. Abwesend sitzen sie in einer Ecke und bewegen ihre Oberkörper in einem endlos gleichen Rhythmus vor und zurück, oder sie gehen an der Scheibe auf und ab. In ihren Augen spiegelt sich keine Reaktion auf die Umgebung mehr.
Meinen hohen Rang innerhalb des Rudels habe ich ohne den Einsatz von Gewalt erreicht. Das ist ungewöhnlich, denn Gewalt ist unter den Rudelmitgliedern beiderlei Geschlechts an der Tagesordnung. Aber die anderen respektieren mich aufgrund meines Alters. Und weil ich Ihnen über das Leben in Freiheit berichten kann, das ich vor langer Zeit erfahren habe. Ich kann mich zwar selbst nur noch dunkel daran erinnern, aber wenn sie mich abends danach fragen, male ich das Bild von der Freiheit in den buntesten Farben. Sie brauchen mich, denn ich vermittle ihnen diese Hoffnung, die sie am Leben hält. Und ich glaube, die Wärter ahnen es.
Noch nie drang eine Nachricht unserer Artgenossen von draußen zu uns. Es ist möglich, dass meine Art in ihrer natürlichen Umgebung bereits ausgestorben ist, denn sie haben uns immer weiter verdrängt, um die Welt für ihre Zwecke zu nutzen. Es soll auch kritische Stimmen in ihren Reihen geben, aber die Mehrheit scheint mit dem Konzept dieses Zoos einverstanden zu sein. Es ist die einzige Möglichkeit, ihren Kindern lebende Tiere wie mich zu zeigen.
Sie haben unsere Lebensweise in sämtlichen Details erforscht. Nie werde ich mich an die Blicke gewöhnen, an ihre Facettenaugen und an die langen Fühler. Am schlimmsten sind die Schneidewerkzeuge an ihren vorderen Gliedmaßen. Wenigstens stehe ich nicht auf ihrer Speisekarte. Ich glaube, sie fressen sich gegenseitig. Man sollte es ihnen hoch anrechnen, dass sie uns im Sinne der Artenerhaltung diesen Lebensraum geschaffen haben. Vielleicht bekommen wir irgendwann nochmal eine Chance.
11 Comments:
Traurig sitzen sie da. Reißen sich fetzenweise die Langeweile und den Wahnsinn aus dem Leib und fressen die eigene Scheiße...
Nach der Vorgeschichte? Noch eine zweite Chance auf Freiheit? Wohl kaum.
....und irgendwie musste ich an Rilke denken...
Panzerglas und Nikotin, rafft den halben Zoos dahin
übrigens: gorillas halten länger wenn man etwas apfelessig unter das mittagessen rührt
man sollte desweiteren zoodirektoren nicht über 25 grad lagern. auch nicht nach entnahme der testikeln.
Ja, traurig ist das ohne Zweifel.
Es bleibt die vage Hoffnung, dass Zoos durch Auswilderung zur Artenerhaltung beitragen können, bevor die Heuschrecken die Menschheit als den Planeten dominierende Spezies abgelöst haben.
Fast denselben Text hätte ich beinahe nach meinem letzten Zoobesuch im November auch geschrieben. Aber dann kam immer irgendwas dazwischen. Was nicht dazwischenkommen sollte. Nun hast Du ihn geschrieben. Sehr gut. Ich ziehe meinen imaginären Hut! :)
/Eon: artgerecht.
/Wasserleiche: Der Panther gehört zu den besten Texten, die überhaupt jemals geschrieben wurden.
/Wolle mer´n roilosse?, Alla guuuuut, Jojo: Und ich hatte beinahe gehofft, Karneval zöge dieses Jahr unbemerkt auf der anderen Seite der Scheibe an mir vorbei ...
/Scheibster: Von Zeit zu Zeit sollte man sich selbst auswildern, um das Dasein der anderen Kreaturen besser zu verstehen.
/Ole: Nachdem nun auch die dazischengekommenen Prüfungen aufrecht gemeistert wurden, steht neuen, aus deinem imaginären Hut gezauberten Texten nichts mehr im Weg :)
Wir fressen einander nicht, wir schlachten uns bloß.
Herr Lichtenberg, Sie haben für jedes Thema einen passenden Aphorismus. Ich schätze Ihr Werk sehr.
...ja, sag ich ja.
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