Mittwoch, Dezember 31, 2008

München - Venedig (XIV): Das Potenzial der Schwäche

Im Morgengrauen des zwölften Tages erschienen die Bergsilhouetten wie Aquarelle eines Außerirdischen, der seine Erinnerung an ferne Welten in die Landschaft geworfen hat. Ich kannte die Namen der Umrisse nicht, aber Namen hätten keine Vertrautheit geschaffen und nichts am Gefühl des Alleinseins im weichen Kontrast zur Einsamkeit geändert.



"Die Gruppe ist immer so stark wie ihr schwächstes Mitglied. Und diese Rolle übernimmt täglich ein anderer", meinte M., ein Politikwissenschaftler aus Sheffield, der gemeinsam mit vier Freunden nach Venedig unterwegs war. Das Zitat lässt sich auf jede Gesellschaftsform anwenden. Wenn die Schwachen im Wettbewerb bestehen, kommen langfristig auch die Starken weiter voran.

Gliedmaßen einer Hochglanzgesellschaft lassen sich beliebig austauschen, zerkratzte Körperteile landen als Amputationsabfälle in der Wertstofftonne. Die Recycling-Methoden beruhen auf der Abwägung von politischen Risiken und nicht auf der Erkenntnis, dass eine Schadensbegrenzung mittels phantomschmerzstillender Mittel auf lange Sicht aufwändiger ist, als die Verfeinerung eines Bildungssystems, das der größtmöglichen Bandbreite von Begabungen und Schwächen gerecht wird. Wer Bildung besitzt, sollte seine Mittel mobilisieren, um diesen Reichtum mit den Bildungsschwachen zu teilen - das macht die Starken nicht schwächer, aber die Schwachen stärker. Dabei steht nicht Verteilungsgerechtigkeit im Vordergrund, sondern Chancen- und Leistungsgerechtigkeit.

Während des stundenlangen Gehens genügen scheinbar kleine Auslöser, um sich mit elementaren Themen auseinanderzusetzen. In unseren Köpfen lassen sich alle Weltprobleme lösen, aber manche Gedanken scheitern bereits an einer Formulierung. Und auf dem Weg in die Realität strandet ein Großteil der Ideen an der Logik des Irrationalen.



Auf der von Graßler beschriebenen Route trifft man Einzelgänger, aber auch Zeitgenossen, die entweder gemeinsam aufgebrochen sind oder sich unterwegs zu einer Gruppe zusammengeschlossen haben. Der Dialog mit den verschiedenen Stimmen im eigenen Ich kann anstrengend sein, aber das Alleinsein ist der Einsamkeit in einer Zweckgemeinschaft vorzuziehen. Wozu taugt die Stille, wenn man Kommentaren über die Stille ausgesetzt ist?


Galloway Rinder in einem Tal westlich der Civetta

Das Vieh würde sich nicht von der Herde lösen, um ein Leben außerhalb seines Sozialverbandes zu erkunden. Und bei Wölfen erfolgt die Trennung vom Rudel in den meisten Fällen erst im fortgeschrittenen Alter. Der Mensch scheint die einzige Tierart zu sein, deren Mitglieder zwischen einer Vielfalt von sozialen und solitären Lebensformen wählen.



Wie die Berge sind unsere Gedanken von Wolken umgeben, wie Ruinen verfallen sie in den Gewittern der Zeit.





















(...)

11 Comments:

Blogger Christian 55 said...

"Wenn die Schwachen im Wettbewerb bestehen, kommen langfristig auch die Starken weiter." Ein Motto, das ich gerne als Motto des Jahres 2009 erklären möchte. Danke, lieber (nicht mehr ganz) unbekannter Freund, für deine inspiriernden Gedanken!

1.1.09  
Blogger Frau H. said...

Ah! Es geht weiter.. Wie schön! Das Foto ganz am Ende finde ich ein famoses Bild für ein neues Jahr (auch wenn das nicht der Kontext ist).
Und nun ja, Sie haben auffallend recht: Menschen sind die merkwürdigsten Tiere, eben weil sie in der Lage sind, sich nicht artgerecht zu verhalten und trotzdem erst einmal für eine verhältnismässig lange Zeit überleben. Aber jede Hochkultur hat sich am Ende selbst ihr Grab geschaufelt. So what?

2.1.09  
Anonymous Anonym said...

...die Menschheit selbst hat sich bisher aber noch nie ein Grab geschaufelt. So THAT!

Wir (die Menschen) machen das ganz gut, finde ich. (wenn man bedenkt, dass unsere Aufgabe darin besteht, uns zu erhalten und zu entwickeln)

Wir sind allemal ein gutes Stück weitergekommen, als all die anderen Tiere (inkl.Galloways).

3.1.09  
Blogger Frau H. said...

@Eon: STOPP! Widerspruch! Sicher, die Menschheit selbst gibt es noch immer, aber ob sie/wir es gut macht(en), wage ich doch schwer zu bezweifeln! Diesen Umstand haben wir wohl eher unserer fast schon rättischen Anpassungsfähigkeit zu verdanken...
Aber wenn wir es gut machen würden (wozu wir rein theoretisch rein Ausstattungstechnisch in der Lage wären), dann würden wir aufhören uns wie Ratten (ist es vermessen zu behaupten, dass eine Ratte sich wahrscheinlich sogar sozialer verhält?) zu verhalten und das GANZE sehen. Und auch wenn ich jetzt springe: Vielleicht ist die (von mir an sich nicht so sehr befürwortete Globalisierung) die einzige evolutonäre Chance...
Obwohl ich im Grunde nicht finde, dass es schade um uns wäre. Die Welt wäre meiner Meinung nach um einiges besser dran...but: THAT's life!

3.1.09  
Anonymous Anonym said...

...dann wäre es aber umsonst, weil es niemandem bewusst wäre! Schön ist die Welt erst, weil wir da sind und sie so sehen.
Und was die artübergreifenden sozialen Fahigkeiten der Anderen angeht, würde ich weder auf die Rücksicht eines Rudels Riffhaie, noch auf die Freundlichkeit eines Heeres Treiberameisen setzen. Untereinander sind die übrigens auch nicht nett.

4.1.09  
Anonymous Anonym said...

eine starke metapher ist der blick durchs portal durchs portal durchs portal. und alle verfallen.

6.1.09  
Blogger Jan Spengler said...

Auch die Berge selbst verfallen.

Aber durch ihr nachlassendes Gewicht drückt der Auftrieb der Erdkruste sie wieder nach oben und gleicht den Verfall einigermassen aus. Wenn auch nur zeitlich, bis sich die Kräfte irgendwann ausgeglichen haben.

Klasse Bilder, sie hinterlassen einen -wie immer zeitlich limitiert- bleibenden Eindruck bei mir.

6.1.09  
Blogger mkh said...

"Wozu taugt die Stille, wenn man Kommentaren über die Stille ausgesetzt ist?"

! mkh

7.1.09  
Blogger DanielSubreal said...

Ein hübsches Loblied der Verteilungsgerechtigkeit

9.1.09  
Blogger MudShark said...

[...] manche Gedanken scheitern bereits an einer Formulierung [...]

in der gegenrichtung noch schwieriger wird es bei gefühlen.

q.e.d.

15.1.09  
Blogger mq said...

/Christian55: Inzwischen ist im weltweiten Wettbewerb einiges passiert, das diese Hypothese eher untermauert als widerlegt.

/Frau H.: Menschen nutzen die gesamte Bandbreite artgerechten Verhaltens, sogar die Niedertracht gehört zu den Eigenschaften unserer Art, aber ...

/eon: ... Zweckoptimismus ist eine vertretbare Haltung. Mit einer Treiberameise oder einem Riffhai wollte ich das Trikot der Existenz jedenfalls nicht tauschen.

/stburns: Vielleicht eine ebenso starke Metapher waren die Darmkrämpfe, die mich auf Höhe der Ruine überfielen. Und der Umstand, dass ich kein Klopapier mehr hatte, förderte den inneren Verfall.

/Andie Kanne: Lässt sich dieses geologische Phänomen auf seelische Massive und Krusten übertragen?

/mkh: Hier darf es ruhig lauter zugehen. (Ich kann nicht glauben, dass ich das geschrieben habe.)

/DanielSubreal: Wie gesagt, ich halte Zweckoptimismus für eine vertretbare Haltung. Aber danke für den Hinweis, denn offenbar habe ich nicht ausreichend deutlich formuliert. In erster Linie geht es nicht um Verteilungsgerechtigkeit, sondern um Chancen- und Leistungsgerechtigkeit. Der Text wurde entsprechend ergänzt.

/MudShark: Ist die Trennschärfe zwischen Gedanken und Gefühlen nicht relativ?

13.4.09  

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