Montag, September 15, 2008

München - Venedig (III): Kakophonische Gefechte und eine Amputationsverletzung

Der einsetzende Regen beschleunigte meine Schritte, als ich den Marienplatz in Richtung Isar verließ. An solchen Tagen behält die Sonnenuhr im Innenhof des Deutschen Museums ihre Zeit unter Verschluss. Eine Regenuhr müsste man erfinden, als Armband- oder Taschenausgabe.

Es gelang mir nicht, am Flugzeug-Karussell des Museums vorbeizugehen, ohne eine Fahrkarte zu lösen. Bei Sonnenschein wäre diese Unternehmung reizlos gewesen, aber was ist schöner als eine Karussellfahrt im Regen? Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Karussells. Wenn ich Venedig jemals erreichen wollte, musste ich darauf hoffen, dass es nicht allzu viele Karussells an der Strecke gab. Oder auf ein Hochdruckgebiet.

Ich entfernte mich vom Stadtzentrum flussaufwärts in Richtung Süden. Bald begegnete ich einer Steinskulptur, die am Ufer stand und unter ihrer Last zu leiden schien. Der gebückte Träger hatte sich nach vielen Jahren, in denen er bewegungslos verharrte, so sehr an seine Bürde gewöhnt, dass er jeden anderen Gesichtsausdruck verlernen musste. Ich warf ihm einen aufmunternden Blick zu und freute mich über mein leichtes Gepäck.





















Beim Anblick des Kraftwerks auf der anderen Isarseite wunderte ich mich darüber, dass viele Zeitgenossen solche Betongebilde als Verschandelung empfinden. Industriegebäude inmitten der Natur üben einen intensiven visuellen Reiz aus. Auch Windräder, die sich zwischen einer grauen Wolkendecke und blassem Weidegrün drehen, betrachte ich nicht als Verschandelung der Landschaft. Sollen andere mit Lanzen dagegen anreiten.




Ich hatte Münchens Stadtgrenze längst überschritten, als mir beim Wirtshaus Brückenfischer donnernd Blasmusik entgegen schallte. Die Bordkapellen mehrerer Flöße waren in kakophonische Gefechte verwickelt. Sie beschossen sich mit Dixieland und bayrischen Stammesrhythmen.



Entgegen der beschriebenen Route wechselte ich das Ufer auch weiterhin nicht, um zwischen Isarkanal und Isar zu gehen, sondern schlug mich auf der östlichen Seite des Flusses durchs Gestrüpp. Einen Teil der Strecke legte ich im Flussbett zurück, und schließlich wanderte ich auf einem Waldweg entlang des Gewässers.



Kurz vor Wolfratshausen kreuzte eine Blindschleiche meinen Weg, der sich inzwischen zu einer geteerten Fahrradstrecke gewandelt hatte. Die Amputationsverletzung am hinteren Körperende des Tiers war nicht zwangsläufig durch die Begegnung mit einem Zweirad verursacht worden, aber auszuschließen ist ein solcher Verkehrsunfall nicht.



Neben meiner Verwurzelung in der deutschen Sprache gibt es eine Reihe äußerlicher Heimatmerkmale, und das Aufstellen von Maibäumen gehört zu den schönsten Traditionen. Die höchste Maibaumdichte dürfte in Süddeutschland zu messen sein, wobei man das abgebildete Exemplar kurz vor Wolfratshausen treffender als Augustbaum bezeichnen sollte.





















Als ich mich bei einem alten Mann nach dem Wanderweg in Richtung Bad Tölz erkundigte, fragte er nach meinem Ziel. Der Mann hatte eine Warze auf der Nase, und ich glaubte zu erkennen, dass auf der Warze Moos wuchs. Bestimmt war dieses Moos von märchenhaften Kleinstlebewesen bevölkert. Einerseits hatte ich Mühe, meinen Blick vom Warzenbiotop abzuwenden, und andererseits fand ich die Frage im übertragenen Sinn sensationell. Man sollte jeden Menschen, dem man dialogisch begegnet, nach seinem Ziel fragen. Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass ich auf dem Weg nach Venedig sei. Er entgegnete, dass ich mit diesem Schuhwerk niemals ankäme. Daraufhin machte er kehrt und entfernte sich.

Anhand eines Aufkleber fand ich den Weg dann doch. Dieser Hinweis wurde von freundlichen Menschen angebracht. Er begegnete mir auf dem Weg noch oft und war in einigen Fällen der Orientierung sehr dienlich.




Am Isarufer zwischen Wolfratshausen und Bad Tölz legte ich mich in meinen Schlafsack und schaute in einen wolkenfreien Nachthimmel. Ich zählte vier Sternschnuppen, bevor ich einschlief. So viele Wünsche hatte ich gar nicht.
(...)
--
>> Maibaum

6 Comments:

Blogger Frau H. said...

Ha! Sehr schön! Und das mit den Sternschnuppen in der Überzahl (bis dato dito zählte ich exakt eine in meinem Leben) hatte ich dieses Jahr auch, wenn auch weit weit nördlicher...bis zur dritten fieberte ich...und danach fiel mir auch nix mehr ein...vielleicht beim nexten Mal eine Sternschnuppe wünschen, für den Fall, dass man mal wieder einen Wundsch hat?

(Und das Schild sieht so idyllisch aus, dass frau fast selbst über die Alpen gehen möchte...aber ich warte besser 'mal ab, wie es Ihnen noch so ergangen ist...zumal mein Schuhwerk mit Sicherheit noch schlechter ist, als das Ihre,,,und eine kurze Hose hab' ich auch nicht. Ob ein Rockerl auch ginge??? Hupf hupf...)

15.9.08  
Blogger MudShark said...

ah, endlich wird losmarschiert!

haben schwanzlose blindschleichen eventuell mehr power als warzenbemooste trolle, oder sind die sternschnuppen der spitzentrumpf im glücksbringerquartett?

16.9.08  
Blogger Christian 55 said...

Eine Warze, die bemoost ist, und das Moos, das von Kleinstlebewesen bevölkert wird - eine Beobachtung, die zu philosophischen Gedanken von ungeahnter Tiefe Anlass gibt, so dass einem fast ein wenig schwindelig wird... Wie nennt man so ein Biotop übrigens? Mikrozoo?

16.9.08  
Blogger mkh said...

Jo, denn ma weiter, ne!

Macht Spaß, deine Reise nachzuerleben...

19.9.08  
Anonymous Anonym said...

Man will ja nicht meckern oder gar drängen, beileibe nicht. Aber bei machen Dingen kann die Vorfreude wirklich nicht größer sein als der nächste Teil.

22.9.08  
Blogger mq said...

/Frau H.: Der Sternschnuppeninflation kann man mittels Stärkung der persönlichen Wunschwährung nicht gefahrlos entgegenwirken, denn es sind zahlreiche Blüten im Umlauf. Die gefälschten Wünsche sind schwer erkennbar und schädigen die Volksphantasie.

/MudShark: STICHT! (Ich habe es einfach mal auf gut Glück herausgebrüllt. Das macht man doch noch so, oder?)

/Christian 55: Warzenpark?

/mkh: Merci. Macht Spaß, meinem Lieblingspublikum von der Reise zu berichten.

/stilhäschen: Verstehe. Ich kann allerdings nicht versprechen, dass es mir gelingen wird, kürzere Beiträge in kleineren Intervallen zu veröffentlichen.

22.9.08  

Kommentar veröffentlichen

<< Home