Freitag, April 27, 2007

Indien, Nelken und der Tod

Von allen Ländern, die ich erfahren habe, hat Indien den größten Abdruck auf meiner Seele hinterlassen und gleichzeitig die wichtigsten Veränderungen in meiner Weltanschauung bewirkt.

Wenn ein Deutscher behauptet, er fahre nach Indien, ist das vergleichbar mit der Aussage eines Bengalen, er fahre nach Europa. Die Unterschiede zwischen dem Bundesstaat Tamil Nadu im Süden und dem nördlichen Himachal Pradesh sind nicht geringer, als die Unterschiede zwischen Norwegen und Albanien. Und Rajasthan unterscheidet sich von Nagaland mindestens so sehr, wie Holland von Rumänien.

Wenn ich an Indien denke, steigt mir ein bestimmter Geruch in die Nase. Eine Mischung aus Staub, Nelken, Abgasen, Ingwer, Rauch von offenen Feuern, Kokosmilch und Müll. Es ist kein betörend feiner Duft, aber es ist auch kein abstoßender Gestank. Es ist ein Geruch, der sieben Gefühle in sich vereint.

Ich bin noch niemand begegnet, den Indien unberührt gelassen hätte. Dabei liegen die Aussagen der Fremden ebenso weit auseinander wie die Gegensätze dieses Landes. Es gibt zwei Sorten von Ausländern in Indien. Die einen hassen es von Beginn an, sie ertragen den Schmutz, den Lärm und die Enge zwischen den Massen menschlicher Leiber nicht. Die anderen zieht es an wie ein Magnet, der die Dinge in seinem Energiefeld nicht mehr loslässt.

Das ständige Kommen und Gehen, die unzähligen täglichen Begegnungen finden in Indien nur ein Mindestmaß an Beachtung und Tiefe. Wenn man vierzig Stunden in einem Zug von Madras nach Kalkutta unterwegs ist und während der Fahrt von einem Inder in ein intensives, persönliches Gespräch verwickelt wird, sollte man nicht erwarten, dass sich der Mitreisende beim Aussteigen verabschiedet. Er nimmt sein Gepäck und geht. Ohne Blick zurück. Diese Art der Gelassenheit und Sparsamkeit mit oberflächlichen Ritualen ist auf eine ähnliche Art faszinierend wie die oberflächliche Freundlichkeit, der man Nordamerika begegnet.



Schon vor meinem ersten Indienaufenthalt habe ich viele Menschen sterben gesehen. Aber diese Tode passierten entweder infolge von Unfällen oder in einer klinischen Umgebung. Der Tod eines Anderen gehört unter allen Umständen zu den nachhaltigsten Erfahrungen des menschlichen Daseins. Aber die Natürlichkeit des Todes als gleichermaßen wichtiger Teil des Lebens wie die Geburt habe ich erst in Indien verinnerlicht. Das Sterben gehört in diesem Land zum Alltag wie sämtliche Variationen des Lebens, die in jedem Winkel wuchern, stinken und wohlriechend blühen. In Indien begegnet selbst der Tod einer großen Gelassenheit.

Am Marnikanika Ghat in Varanasi unterhielt ich mich mit einem jungen Mann. Als nach einer halben Stunde der Schädel einer brennenden Leiche neben uns mit einem Krachen in den Flammen zerbarst, erwähnte er beiläufig, dass es sich bei der Toten um seine Mutter handelte, die er für die Feuerbestattung aus einem entlegenen Dorf an den heiligen Ganges gebracht hatte. Meine plötzliche Niedergeschlagenheit brachte ihn zum Lachen.
Sein Lachen brachte mich zum Lachen.

14 Comments:

Blogger frech'n'nett said...

markus,
mit diesem beitrag hast du mich heute punktgenau auf dem richtigen fuß erwischt...

nie vorher und nie mehr wieder nachher in meinem leben habe ich mich so "angekommen" gefühlt wie an diesem ort.

und nun habe ich sofort genau diesen geruch wieder in der nase.

wunderbar so ein hirn.. was es alles jederzeit abrufbar speichern kann...
kaum zu glauben, dass alles vergehen soll, sobald die glut den schädel platzen lässt..
obwohl...bei meinem scheißkarma wird bestimmt alles unbewusst wieder zurück kommen, in den nächsten eins bis zehntausend leben, die da noch vor mir liegen, bis ich alle suppen brav ausgelöffelt habe?

...and the tears..they are only from laughing...
(sagte brij, nachdem er seine tochter ohne verbrennung dem ganga übergeben hat)

27.4.07  
Blogger Scheibster said...

Danke. Jetzt muss ich nach Indien. Und wenn es nur ist, um herauszufinden, ob ich zu den Schutzertragern oder den Faszinierten gehöre.

27.4.07  
Blogger Oles wirre Welt said...

Schon lange möchte ich gern einmal dorthin. Zeit haben, die Augen offen halten, riechen, erleben, schmecken. Deine Geruchsmischung erinnert mich in der Beschreibung (da ich selbst ja noch nicht in Indien war) ein wenig an meine Erlebnisse im Londoner Camden Market, wo der Duft frisch gepresster Apfelsonen und von fein gemahlenem Curry, Ingwer und Kardamom mit Urin, Kotze, Dieselabgasen und dem Geruch von in Blechtonnen gegrillten Tauben und Hühnern sich verband und zu einer betörend-verstörenden Mischung wurde, die seltsam faszinierte. Gerne möchte auch ich mal nach Indien reisen, diese ganz andere Welt mit eigenen Fingerspitzen begreifen. Wann ich dafür Zeit und Geld haben werde (vor allem letzteres), weiß ich leider noch nicht. Aber mein Fernweh ist - nicht zuletzt dank dieses wunderbaren Textes - einmal mehr geweckt.

27.4.07  
Anonymous Anonym said...

Ja, die Gerüche. In downtown Sydney riecht es seltsam muffig.

27.4.07  
Anonymous Anonym said...

Auch mich erwischt dieser wunderbare Text genau am richtigen Fuß.

Weil das mit dem Tod als - aus meiner Sicht - Vollendung des Lebens, der unter diesem Aspekt genau gar nichts Schreckliches an sich hat, das habe ich vor ein paar Stunden jemandem auseinanderzusetzen versucht, der daraufhin schockiert: "hör sofort auf, vom Tod zu reden, was für ein schreckliches Thema!" rief.

Meine letzte und erst kürzlich vergangene Begegnung mit dem Gevatter hat mich nämlich eigentlich nur in meiner Philosophie bestärkt, das Leben wie verrückt zu leben und eben zu lieben und niemals den Humor zu verlieren. Weil wenn's vorbei ist, ist's vorbei.

... Und dabei war ich noch nie in Indien.

Danke, daß Sie solche Sachen schreiben, lieber Markus Quint. Ich fühl mich sehr daheim hier.

27.4.07  
Anonymous Anonym said...

..ich befürchte, ich würde es haßen. Wahrscheinlich schon deshalb, weil es mir zu heiß wäre...NULLREIZ. Obwohl, nach Ole's Kommentar...hmmm....was mich allerdings auch fasziniert, ist der Umgang mit dem Tod, den Sie beschreiben. Einer der schrecklichsten und schönsten Momente in meinem Leben war geprägt vom Lachen. Eigentlich einem hysterischen Lachen (das haben die Inder wohl nicht....), aber einem Lachen....und nun ja: alles geht, irgendwann. So ist das eben. Da ist jedes Gefühl zuhause. Irgendwie.
Und alles geht weiter...

Merci!

28.4.07  
Anonymous Anonym said...

Wer den kreis des lebens anerkennt, der kann fühlen, dass der tod nichts endgültiges hat. Mehrmals in meinem leben habe ich kalte hände gehalten und an gräbern gestanden. Habe mir selbst
zugesehen, als es kippe-kante um mich stand. Knapp entkommen, danach wochen im rollstuhl und dann laufen und alles andere wieder neu lernen. Leben im heute und den tod als nichts endgültiges zu sehen, meist kann ich es heute, doch das sterben bleibt für mich grausam. Danke für ihre texte, für mich als blog-rookie haben sie kräftig geholfen, eines meiner vorurteile zu zernagen.

28.4.07  
Anonymous Anonym said...

Manchmal bietet einem nur der Tod eine zweite Chance im Dasein.

Schöner Text, aber ich werde freiwillig kaum nach Indien gehen, weil in meinem Umfeld ein wenig von Indien in Deutschland lebt.

28.4.07  
Anonymous Anonym said...

Interessante Reisebeschreibung. Macht Lust auf mehr! und phil: muss man sich Sorgen machen?

28.4.07  
Blogger mq said...

/Frech'n'Nett: Das Gehirn ist ein Wunderwerk evolutionärer Technik und gleichzeitig die größte Fehlkonstruktion.
In Sachen auszulöffelnde Suppen ist klar derjenige im Vorteil, der die ersten Gänge auslässt und gleich zum Nachtisch übergeht. Ob man davon satt wird, ist eine andere Frage.

/Scheibster: Auch das wäre bereits eine essenzielle Erkenntnis.

/Ole: Du würdest viele großartige Geschichten mitbringen. Dafür lege ich meine Hand in bengalische Feuer. 1992, während meiner ersten Indienreise, hatte ich 900 Mark in der Tasche. Ich war vier Monate unterwegs. Geld ist immer eine Frage der Ansprüche. Zeit nicht.

/Opa: Dafür muss ich nicht um den halben Erdball reisen, sondern nur unter meine Bettdecke krabbeln. (Obwohl das manchmal auch eine Weltreise ist.)

/dieJulia: Sobald die Sprache auf den Tod kommt, wundere ich mich auch oft über die Reaktionen der Leute. Dabei ist der Tod eine hochspannende Angelegenheit - vielleicht das letzte große Rätsel der Menschheit. Und wir werden es alle lösen.

/FrauH.: Bezüglich des Klimas kann ich Sie beruhigen. In den nördlichen Regionen kann es recht frisch werden, sogar im Sommer. Und auch was die Hysterie angeht, kann ich Sie beruhigen. Es mag paradox erscheinen, aber Hysterie ist in Indien weit verbreitet. Vor allem, wenn es um die Sicherung eines Sitzplatzes im Bus geht.

/The white lake knight: Im ersten Moment möchte ich an einen Gott glauben, um mich dafür bedanken zu können, dass ich Ihre beschriebene Erfahrung eines langen, körperlichen Leidens noch nicht selbst machen musste. Im zweiten Moment weiß ich aber, dass auch diese Erfahrung innerhalb des Spektrums möglicher Erfahrungen einen Sinn ergeben kann.

/Phil: Den Tod als zweite Chance im Dasein zu sehen halte ich für sehr gewagt. Denn immerhin besteht die Möglichkeit, dass er das Dasein einfach nur beendet.

/der Nachbar: Vielleicht kommt irgendwann noch mehr ...

29.4.07  
Blogger mkh said...

Bei allen neuen Eindrücken, die ich auf meinen zwei Reisen erhielt, war mein Flugticket immer bei mir wie der Anker ins ferne Zuhause. Daher brachte (Nord-)Indien zwar ungeheuer eindrucksvolle Erfahrungen, aber ich war niemals ein Teil dieses Indiens, immer nur ein Durchreisender. Das ist der Unterschied zwischen Indern, die in Indien leben, und mir, der Indien nur als Lebenserfahrung sammelt.

30.4.07  
Blogger mq said...

Vor dem Hintergrund, dass man in Indien sehr vielen Verirrten begegnet, die ihren eigenen kulturellen Hintergrund nicht von der fremden Welt abgrenzen können, verstehe ich sehr gut, was du meinst. Ich verstehe mich überall als Durchreisender.

30.4.07  
Blogger nora said...

Interessant, ausgerechnet jetzt über Indien zu lesen.

Zu den Menschentypen - ich kann mich selbst nicht zu ordnen. Indien ist für mich alles, vorallem alles gleichzeitig. So intensiv, dass man es fast nicht ertragen kann. So intensiv, dass Alltag zu leicht, zu glatt wirkt, unerträglich werden kann.
Ein Land, in dem man nicht sein kann. Ein Land, ohne das man nicht sein kann.

Auf meiner letzten Reise erzählte mir ein Franzose, dass er immer und immer wieder hierher käme und mit jedem Mal verstehe er weniger und weniger von diesem Land. Vielleicht kann man es besser nicht sagen.

30.4.07  
Blogger mq said...

Vielleicht liegt das Geheimnis auch darin begründet, dass es nicht viel zu verstehen gibt, weil in Indien existenzielle Erfahrungen auf dem Präsentierteller gereicht werden. Vielleicht muss man so lange nach dem Verborgenen suchen, bis man erkennt, dass die Geheimnisse an der Oberfläche liegen.

30.4.07  

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