Mittwoch, August 09, 2006

Das steinerne Rettungsboot



Es wäre fast zerbrochen im zweiten Sturm, den sie nach dem Untergang der Prinzess Nocturna erlebten. Nur drei Seeleute aus Kapitän Hoffmanns Mannschaft hatten das Unglück überlebt. Im Rettungsboot mussten sie mit ansehen, wie das Heck des riesigen Schiffes fast senkrecht aus dem Wasser ragte und anklagend zum Himmel zeigte, bevor es in einer scheinbar unendlichen Langsamkeit versank. Und dann türmten sich erneut quecksilberne Berge bis in die Wolken vor dem kläglichen Rest der Besatzung auf.

Ihr steinernes Rettungsboot war ein Spielzeug des Meeres, das es wie ein kleines Kind zornig von einer Ecke in die andere schleuderte. An Bord gab es außer beten und verzweifeln nichts zu tun. Nach allem, was geschehen war, glaubte keiner der Männer mehr an die Hilfe Gottes. Sie hielten sich am rauhen Stein der Bordwand fest und warteten in ihrer Todesangst, bis auch dieser Sturm vorüber sein würde.

Während Lux, der schwarzbärtige Steuermann, durch das Getöse hindurch in seiner Angst heulte und brüllte, bewies der schmächtige Schiffsjunge, den sie so oft mit schäbiger Herablassung behandelt und erniedrigt hatten, die größte Tapferkeit. Er presste seine Lippen zusammen und beobachtete mit verkniffenen Augen den Tumult der Wassermassen. Sie hatten ihm den Spitznamen Heringsgräte verpasst.

Kapitän Hoffmann und die anderen starrten am Grund der See mit weit aufgerissenen Augen in die ewige Finsternis. Der Bootsmann Konrad, den sie alle hinter seinem Rücken nur Bimbo genannt hatten, würde zwischen zwei Fässern eingeklemmt bleiben, bis sich sein Körper im Salzwasser zersetzte. Seine Haare schwebten schwerelos in der sanften Strömung der Tiefe.

Nach dem Regen kam die Hitze. Als er bereits zwei Tage tot war, warfen sie den verdursteten Körper des Steuermanns über Bord. Während sich die fette Leiche langsam auf dem Rücken treibend vom Rettungsboot entfernte, spiegelte sich in dem leblosen Blick immer noch die Angst vor dem Sterben, obwohl er schon alles hinter sich hatte.

In ihrem Fieber konnten sie nicht bestimmen, wieviel Zeit seit der Havarie vergangen war, als sie feststellten, dass sie durch eine Landschaft aus Mangroven trieben. Indem sie ihre Hände als Paddel benutzten, steuerten sie das steinerne Boot durch das Brackwasser.

- Geschafft,

krächzte der Matrose Robbe, nachdem sie ihr Boot mit letzten Kräften durch das Schilf auf den weichen Untergrund geschoben hatten.

Heringsgräte leckte mit geschwollener Zunge das Salz von seiner Oberlippe. Beim Gedanken an seine Sabotage im Maschinenraum der Prinzess Nocturna flog der Schatten eines bösartigen Lächelns über sein Gesicht. Mit Robbe würde er auch noch fertig werden.

9 Comments:

Blogger Falcon said...

Der Vorzug dieses Bootes ist, dass es sich mit einem Deckel gleicher Konsistenz auch hervorragend als Sarkophag nutzen lässt.
Nur für den Fall, dass man den Schiffbruch dann doch nicht überleben sollte.

9.8.06  
Blogger Der_grosse_Transzendentale_Steini said...

Das kommt davon, wenn man sich die Crew in finsteren Hafenkneipen shanghai't...

9.8.06  
Anonymous Anonym said...

Schöner Seemannsgarn-Seemannspullover ist das!

9.8.06  
Anonymous Anonym said...

Fiuuuuuuuuuuuuuuuu. Schaurig schöne Geschichte. Ich bin wie immer begeistert.

9.8.06  
Blogger Scheibster said...

"Revenge is best served cold... Nah, wet." Hehe.

Wo steht denn das Boot? Und ist die Verbindung zwischen dem Spitznamen des Bootsjungen und den Todesfällen Zufall oder Absicht?

9.8.06  
Anonymous Anonym said...

großartig geschrieben. sehr sehr schön! =)

9.8.06  
Blogger mq said...

/Falcon: Das mit dem Sarkophag ist eine gute Idee. Ich leg mich gleich mal rein.

/DGT Steini: ... wohl immer noch die günstigste Methode

/Eon: ... nur nicht wind- und wetterdicht.

/Martha: Be|geis|te|rung [f. -; nur Sg.] starke freudige Erregung, Jubel, beglückte Stimmung; die Wogen der B. schlugen hoch; (...)
Wunderbar! (Nur das Beispiel mit den Wogen aus dem Wörterbuch stimmt mich bedenklich.)

/Scheibster: Nachdem er an einer Schopenhauerbüste vorbei gepaddelt war, verließ Heringsgräte das Boot für immer am Rande einer stinkenden Brühe im Frankfurter Osten. Ich glaube, auch das war beabsichtigter Zufall - oder zufällig Absicht.

/Inferno: Großartig kommentiert. Danke.

9.8.06  
Anonymous Anonym said...

Ich verstehe zu wenig von der Materie. Noch heute dröhnen mir Mama Karolinas Worte im Ohr:
Wer nichts zu sagen hat, soll das Maul halten.

Trotzdem:
Ein Hoch auf die Verschluckungen der Heringsgräte!

14.8.06  
Blogger mq said...

Dear Flying Cucumberman, Ma Karolina hatte zweifellos recht. Aber auch in fremden Gewässern lasse ich es drauf ankommen. Das ist mein Wesen, auch wenn ich immer wieder absauf und nochmal dran verreck. Danach halt ich mein Maul. Versprochen.

14.8.06  

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