Der Unverwechselbare
Er hat den für mich einzigen plausiblen Grund für die Lektüre von Lyrik genannt. In einem Interview sagte Marcel Reich-Ranicki, dass er in seinem Versteck nicht gewagt habe, sich mit längeren Texten zu beschäftigen, aus Angst, von den Nazis gefasst zu werden und ein Werk nicht zu Ende lesen zu können.
Ende der Neunziger habe ich für einige Monate im Frankfurter Stadtteil Eschersheim gelebt. Die Wohnung befand sich in einer Mietskaserne auf der nördlichen Seite der Hügelstraße. Er wohnte, sehr passend, im sogenannten Dichterviertel südlich der Hügelstraße. Allerdings residierte er nicht in einer der großbürgerlichen Villen, sondern in einem waschbetonverkleideten Mehrfamilienhaus. Und nahezu täglich, wenn ich mit meinem Hund in Richtung Grünanlage gegangen bin, sind mir Marcel Reich-Ranicki und seine Frau Tosia begegnet. Sie sind stets in dieselbe Richtung spaziert und haben sich dabei auf Polnisch unterhalten. Jedes Mal, wenn ich den Kritiker und seine Frau eingeholt hatte, verlangsamte ich meinen Schritt und begleitete die beiden für wenige Sekunden auf gleicher Höhe, weil ich herausfinden wollte, ob man sein Lispeln auch in der fremden Sprache erkennen konnte. Aber obwohl er deutlich vernehmbar sprach, war ich mir nie sicher, und um nicht aufzufallen, musste ich das Paar schließlich überholen. Ob sein Sprachfehler international war, kann ich bis heute nicht sagen.
Auf nationaler Ebene war nicht nur sein Sprachfehler von größter Unverwechselbarkeit und höchstem Rang. Von Karl Kraus abgesehen, gibt es - vollkommen unabhängig von der Kunstform - keinen deutschen Kritiker, der eine vergleichbare Bedeutung besitzt. In Erinnerung bleiben nicht nur das Literarische Quartett, seine Fehden mit Martin Walser und die rabiate Ablehnung des Deutschen Fernsehpreises, sondern vor allem die unzähligen Rezensionen, in denen er kein Blatt vor den Mund genommen hat. Welchem zeitgenössischen Kritiker gelingt es, mit Einverständnis seiner Herausgeber, unverblümte Schmähungen wie "wertlos", "furchtbar", "abscheulich" oder "scheußlich" in einem reichweitenstarken Medium zu veröffentlichen?
Seine Begeisterung für Thomas Mann konnte ich nie teilen, und die gespielten Wutausbrüche wirkten zuweilen übertrieben lächerlich. Aber die Autobiografie "Mein Leben" zählt zum Wertvollsten, was innerhalb dieses Genres hervorgebracht wurde, und seine unverwechselbar lakonische Kolumne "Fragen Sie Reich-Ranicki" in der FAZ werde ich vermissen.
Irgendwann sind wir alle vergessen, aber wenn es im Leben darum gehen sollte, unverwechselbar zu sein, dann wäre Marcel Reich-Ranicki ein phänomenales Beispiel.
Ende der Neunziger habe ich für einige Monate im Frankfurter Stadtteil Eschersheim gelebt. Die Wohnung befand sich in einer Mietskaserne auf der nördlichen Seite der Hügelstraße. Er wohnte, sehr passend, im sogenannten Dichterviertel südlich der Hügelstraße. Allerdings residierte er nicht in einer der großbürgerlichen Villen, sondern in einem waschbetonverkleideten Mehrfamilienhaus. Und nahezu täglich, wenn ich mit meinem Hund in Richtung Grünanlage gegangen bin, sind mir Marcel Reich-Ranicki und seine Frau Tosia begegnet. Sie sind stets in dieselbe Richtung spaziert und haben sich dabei auf Polnisch unterhalten. Jedes Mal, wenn ich den Kritiker und seine Frau eingeholt hatte, verlangsamte ich meinen Schritt und begleitete die beiden für wenige Sekunden auf gleicher Höhe, weil ich herausfinden wollte, ob man sein Lispeln auch in der fremden Sprache erkennen konnte. Aber obwohl er deutlich vernehmbar sprach, war ich mir nie sicher, und um nicht aufzufallen, musste ich das Paar schließlich überholen. Ob sein Sprachfehler international war, kann ich bis heute nicht sagen.
Auf nationaler Ebene war nicht nur sein Sprachfehler von größter Unverwechselbarkeit und höchstem Rang. Von Karl Kraus abgesehen, gibt es - vollkommen unabhängig von der Kunstform - keinen deutschen Kritiker, der eine vergleichbare Bedeutung besitzt. In Erinnerung bleiben nicht nur das Literarische Quartett, seine Fehden mit Martin Walser und die rabiate Ablehnung des Deutschen Fernsehpreises, sondern vor allem die unzähligen Rezensionen, in denen er kein Blatt vor den Mund genommen hat. Welchem zeitgenössischen Kritiker gelingt es, mit Einverständnis seiner Herausgeber, unverblümte Schmähungen wie "wertlos", "furchtbar", "abscheulich" oder "scheußlich" in einem reichweitenstarken Medium zu veröffentlichen?
Seine Begeisterung für Thomas Mann konnte ich nie teilen, und die gespielten Wutausbrüche wirkten zuweilen übertrieben lächerlich. Aber die Autobiografie "Mein Leben" zählt zum Wertvollsten, was innerhalb dieses Genres hervorgebracht wurde, und seine unverwechselbar lakonische Kolumne "Fragen Sie Reich-Ranicki" in der FAZ werde ich vermissen.
Irgendwann sind wir alle vergessen, aber wenn es im Leben darum gehen sollte, unverwechselbar zu sein, dann wäre Marcel Reich-Ranicki ein phänomenales Beispiel.
2 Comments:
Ey! Mein Kommentar wurde geschluckt! Vom System sozusagen.
Nochmals ...
Also, auf mich wirkte er an-maßend. Mochte ihn nicht. Habe seine Qualitäten demzufolge geflissentlich verpasst.
Mit seinem Auftreten verschaffte er sich und der von ihm geliebten ebenso wie der von ihm verachteten Literatur ein Gehör, das viele Texte und Autoren ohne ihn nicht erhalten hätten.
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