Dienstag, November 30, 2010

Hirndekor

Der Schrank am Merianplatz ist als "kleinste Bücherei der Stadt" (Frankfurter Neue Presse) bekannt geworden. Auf den ersten Blick erscheint die Idee - wie einst die weißen Fahrräder in Amsterdam - als Bereicherung des öffentlichen und privaten Lebens. Unbürokratisch und kostenfrei kann sich jeder Passant am Bücherschrank bedienen. Das Prinzip funktioniert unter der Voraussetzung, dass man ein geliehenes Buch entweder zurückbringt oder durch ein anderes ersetzt.



Immerhin steht der Kasten nun schon länger als ein Jahr an dieser Stelle und fiel - im Gegensatz zu den weißen Fahrrädern in Amsterdam - bislang keiner physikalischen Zerstörung zum Opfer. Grundsätzlich funktioniert das System. Aber leider nur in quantitativer Hinsicht. Anfangs stand dort hochwertige Literatur hinter Glas, mit der Zeit wurden diese Bücher zunehmend durch unbrauchbaren Schrott von Konsalik bis Pilcher ersetzt. Dazwischen verstecken sich vergilbte Pamphlete über steuerrechtliche Fragen der 1980er Jahre und ähnlicher Papiermüll.

Bei der inhaltlichen Degenerierung handelt es sich um geistigen Vandalismus, eine grobsinnige bürgerliche Form der Zerstörungswut. Man ist sich offenbar zu fein, die Schillers, Kafkas und Gernhards unverhohlen zu klauen, also werden sie zur Gewissensberuhigung durch wertloses Altpapier ersetzt. Jämmerlich. Aber typisch Mensch.

--
>> Abweichende Beobachtungen

4 Comments:

Anonymous frauh said...

Auf den Gegenmüll bauen? Je nach "Zielgruppe" wird sich das System unter Umständen ja vielleicht auch wieder umkehren... Ein ewiger Kreislauf. Was des einen Altpapier ist des anderen Schatz...
(Und von Konsalik empfehle ich ja nach wie vor: Das Schloß der blauen Vögel. Ein Buch, dass ich (zugegeben) mit 13/14 oder so las und dass mich doch irgendwie beeindruckt hat...also vielleicht nicht so aus Jetzt-Perspektive..aber es hat Ansätze. Ansätze, durchaus. Und ich habe in dem Alter viel Konsalik gelesen, bin also quasi eine Fachfrau ;)...)

30.11.10  
Blogger Christian 55 said...

Und was geschieht jetzt? Bleibt der Müll nun einfach in der Kiste liegen? Unbedingt dranbleiben, Colombo!

4.12.10  
Blogger mq said...

/Frau H.: Kennen Sie etwa kuriose Leute, die Altpapier gegen hochwertiges Schriftgut eintauschen? Den Konsalik könnten Sie mir jedenfalls vorsingen, und ich würde ihn trotzdem nicht gegen eine Erstausgabe von Jean Paul tauschen. Sollten sich jedoch jemals editionsphilologische Fachfragen zu Herrn Konsalik wie WKII Kettenpanzer unter Feindesfeuer vor mir auftürmen, werde ich Sie zu Rate ziehen.

/Christian55: FNP verfolgen, Watson.

8.12.10  
Blogger 100 Goldfischli said...

Den Kulturpessimismus kann ich verstehen. Habe aber in meinem Leben schon zu viele Leute kennengelernt, die sich an steuerrechtlichen Fragen der 1980er Jahre erfreuen können.¹


... 1880er wären seltsam ...



_________________________________
¹ einer ist da schon zu viel

9.12.10  

Kommentar veröffentlichen

<< Home