Der silberne Salamander
Beim Sitzen in Fahrtrichtung neigt der Passagier leicht dazu, einzuschlafen. Setzt man sich jedoch der Fahrtrichtung entgegen, fördert diese Haltung die Aufmerksamkeit.
Lugo Conzani mochte Züge. Mit dem Alpha Romeo hätte er die Strecke zwischen Florenz und Siena deutlich schneller zurücklegen können, aber es gefiel ihm, wenn ein Fahrgefühl seiner Stimmung entsprach. Der eintönige Rhythmus des rollenden Zuges und die Kunstledersitze in den heruntergekommenen Abteilen, wo sich der Geruch von vielen tausend Fahrgästen gesammelt hatte, passten zu der abgründigen Melancholie, die sich seit Tagen in ihm ausdehnte. Er saß allein im Abteil, und während er in die flirrende Landschaft der Toskana starrte, strömte ein heißer Wind durch das halb geöffnete Fenster in sein Gesicht und brannte in den Augen.
Im Walkman lief ein Mixtape, das sie ihm aufgenommen hatte, kurz bevor sie verschwand. Conzani hörte gerade The Passenger von Iggy Pop, als ein elegant gekleideter, aber unrasierter Mann mit müdem Blick die Tür des Abteils aufzog. Der Mann nickte Conzani zu, der die Begrüßung mit einem gemurmelten Bongiorno erwiderte. Nachdem er sich auf den Sessel schräg gegenüber Conzani fallen gelassen hatte, legte der Mann den Kopf zur Seite und schlief sofort ein. Nach wenigen Sekunden klappte sein Kinn nach unten und durch das Fahrgeräusch des Zuges vernahm Conzani das rasselnde Atmen des Schlafenden. Er runzelte die Stirn, als ihm der silberne Ring auffiel, der die Form eines Salamanders hatte und sich um den rechten Zeigefinger des Mannes wand. Während er den ungewöhnlichen Schmuck betrachtete, verschwamm sein Blickfeld wie unter Hypnose und auch er schlief ein.
Als er vom Bahnhofslärm in Siena geweckt wurde, war der Fremde aus dem Abteil verschwunden. Conzani nahm seinen kleinen Reisekoffer aus dem Gepäcknetz und ging zum Taxistand.
Er hatte die Angewohnheit, einen Koffer nie sofort nach der Heimkehr auszupacken, sondern einige Tage mit dem Erledigen dieser lästigen Aufgabe zu warten.
Als er den Koffer am folgenden Wochenende auspackte, fand er einen merkwürdigen Gegenstand zwischen seinen Kleidungsstücken. In einem kleinen, grünlich schimmernden Glasbehälter befand sich ein Finger, der in einer durchsichtigen Flüssigkeit schwamm. Es war ein Zeigefinger. Über dem mittleren Fingergelenk steckte ein Ring aus Silber. Conzani erkannte den Schmuck sofort. Es war derselbe Salamander, den er am Finger des Mannes im Zug gesehen hatte. Ohne die ehemals dazu gehörende Hand sah das menschliche Relikt in Kombination mit dem Ring angsteinflößend aus.
Noch angsteinflößender war der Umstand, dass es sich bei dem Glas um ein Produkt handelte, das er in derselben Art für die Konservierung seiner Präparate verwendete.
Conzani hatte ein ungewöhnliches Hobby. Er präparierte kleine Amphibien und Reptilien, die er auf Sammlerbörsen kaufte. In seinem Hobbykeller betäubte er die Tiere mit Chloroform und legte sie in bunte Glasgefäße ein, die er mit Formalin füllte und luftdicht versiegelte. Wie Flaschenschiffe reihten sich die Präparate auf Regalen aneinander.
Die Glasgefäße in unterschiedlichen Größen, Farben und Formen waren Einzelanfertigungen, die er von einem Glasbläser in Florenz herstellen ließ.
Am Montag nach dem Fund versuchte Conzani, bei dem Glasbläser anzurufen, aber die Leitung war tot. Er wählte die Nummer eines Ladenbesitzers in der Nachbarschaft des Glasbläsers und erfuhr, dass dieser vor wenigen Wochen seine Werkstatt aufgelöst hatte und umgezogen war. Die neue Adresse kannte der ehemalige Nachbar nicht.
Conzani ging mit dem Finger zur Polizei. Nach einer gerichtsmedizinischen Untersuchung stellte sich heraus, dass der Finger zum Körper einer Frau gehörte, die eine Woche zuvor in der Nähe von Florenz ermordet worden war. Da weitere Gliedmaßen des Leichnams fehlten, ordnete der Untersuchungsrichter eine Hausdurchsuchung in Conzanis Villa an. Dabei fanden die Beamten zwar nicht die fehlenden Körperteile der Frauenleiche aus Florenz, dafür aber vier in identischer Weise präparierte Zeigefinger von verschiedenen Frauen, die alle innerhalb des letzten Jahres an verschiedenen Orten in der Toskana ermordet worden waren. Die Finger befanden sich im Keller, eingelegt in bunte Glasbehälter, die zwischen präparierten Salamandern aufgestellt waren.
Am Körper der jungen Toten aus Florenz wurde ein Haar gefunden, das man nach einer genetischen Analyse eindeutig Conzani zuordnen konnte.
Die Geschichte von dem Fremden im Zug glaubte man Conzani vor Gericht nicht. Seinen Gang zur Polizei konnten sich die Richter zunächst nicht erklären, aber der Psychologe interpretierte dieses Verhalten nach mehreren Sitzungen mit Conzani als eine durch inneren Druck ausgelöste Selbstüberführung.
In einer anderen Stadt lächelte eine Frau, die in ihrer kleinen Küche am Frühstückstisch saß. Sie hatte eine Zeitung vor sich liegen und las die Meldung über die Verurteilung des Fingermörders in der Rubrik Aus aller Welt. Die Lautstärke der Stereoanlage im anderen Zimmer war so eingestellt, dass sie die alte, zerkratzte Platte Lust for Life von Iggy in der Küche gut hören konnte. Während sie die anderen Meldungen auf der Seite las, lief The passenger. Sie warf einen kurzen Blick in Richtung des Leguans, der sich auf der Fensterbank sonnte und sich genauso gut zu fühlen schien wie sie.
Bevor Lugo Conzani sich den aus Stofffetzen geknoteten Strick um den Hals legte und auf den Stuhl in seiner Zelle stieg, dachte er, es wäre vielleicht alles anders gekommen, wenn er sich damals im Zug der Fahrtrichtung entgegen gesetzt hätte. Das war Conzanis vorletzter Gedanke.
Zufällig im selben Moment, als zwei Wärter Conzani von seinem Strick abschnitten, griff die Frau in der anderen Stadt zum Telefon und wählte die Nummer eines ehemaligen Glasbläsers.
Lugo Conzani mochte Züge. Mit dem Alpha Romeo hätte er die Strecke zwischen Florenz und Siena deutlich schneller zurücklegen können, aber es gefiel ihm, wenn ein Fahrgefühl seiner Stimmung entsprach. Der eintönige Rhythmus des rollenden Zuges und die Kunstledersitze in den heruntergekommenen Abteilen, wo sich der Geruch von vielen tausend Fahrgästen gesammelt hatte, passten zu der abgründigen Melancholie, die sich seit Tagen in ihm ausdehnte. Er saß allein im Abteil, und während er in die flirrende Landschaft der Toskana starrte, strömte ein heißer Wind durch das halb geöffnete Fenster in sein Gesicht und brannte in den Augen.
Im Walkman lief ein Mixtape, das sie ihm aufgenommen hatte, kurz bevor sie verschwand. Conzani hörte gerade The Passenger von Iggy Pop, als ein elegant gekleideter, aber unrasierter Mann mit müdem Blick die Tür des Abteils aufzog. Der Mann nickte Conzani zu, der die Begrüßung mit einem gemurmelten Bongiorno erwiderte. Nachdem er sich auf den Sessel schräg gegenüber Conzani fallen gelassen hatte, legte der Mann den Kopf zur Seite und schlief sofort ein. Nach wenigen Sekunden klappte sein Kinn nach unten und durch das Fahrgeräusch des Zuges vernahm Conzani das rasselnde Atmen des Schlafenden. Er runzelte die Stirn, als ihm der silberne Ring auffiel, der die Form eines Salamanders hatte und sich um den rechten Zeigefinger des Mannes wand. Während er den ungewöhnlichen Schmuck betrachtete, verschwamm sein Blickfeld wie unter Hypnose und auch er schlief ein.
Als er vom Bahnhofslärm in Siena geweckt wurde, war der Fremde aus dem Abteil verschwunden. Conzani nahm seinen kleinen Reisekoffer aus dem Gepäcknetz und ging zum Taxistand.
Er hatte die Angewohnheit, einen Koffer nie sofort nach der Heimkehr auszupacken, sondern einige Tage mit dem Erledigen dieser lästigen Aufgabe zu warten.
Als er den Koffer am folgenden Wochenende auspackte, fand er einen merkwürdigen Gegenstand zwischen seinen Kleidungsstücken. In einem kleinen, grünlich schimmernden Glasbehälter befand sich ein Finger, der in einer durchsichtigen Flüssigkeit schwamm. Es war ein Zeigefinger. Über dem mittleren Fingergelenk steckte ein Ring aus Silber. Conzani erkannte den Schmuck sofort. Es war derselbe Salamander, den er am Finger des Mannes im Zug gesehen hatte. Ohne die ehemals dazu gehörende Hand sah das menschliche Relikt in Kombination mit dem Ring angsteinflößend aus.
Noch angsteinflößender war der Umstand, dass es sich bei dem Glas um ein Produkt handelte, das er in derselben Art für die Konservierung seiner Präparate verwendete.
Conzani hatte ein ungewöhnliches Hobby. Er präparierte kleine Amphibien und Reptilien, die er auf Sammlerbörsen kaufte. In seinem Hobbykeller betäubte er die Tiere mit Chloroform und legte sie in bunte Glasgefäße ein, die er mit Formalin füllte und luftdicht versiegelte. Wie Flaschenschiffe reihten sich die Präparate auf Regalen aneinander.
Die Glasgefäße in unterschiedlichen Größen, Farben und Formen waren Einzelanfertigungen, die er von einem Glasbläser in Florenz herstellen ließ.
Am Montag nach dem Fund versuchte Conzani, bei dem Glasbläser anzurufen, aber die Leitung war tot. Er wählte die Nummer eines Ladenbesitzers in der Nachbarschaft des Glasbläsers und erfuhr, dass dieser vor wenigen Wochen seine Werkstatt aufgelöst hatte und umgezogen war. Die neue Adresse kannte der ehemalige Nachbar nicht.
Conzani ging mit dem Finger zur Polizei. Nach einer gerichtsmedizinischen Untersuchung stellte sich heraus, dass der Finger zum Körper einer Frau gehörte, die eine Woche zuvor in der Nähe von Florenz ermordet worden war. Da weitere Gliedmaßen des Leichnams fehlten, ordnete der Untersuchungsrichter eine Hausdurchsuchung in Conzanis Villa an. Dabei fanden die Beamten zwar nicht die fehlenden Körperteile der Frauenleiche aus Florenz, dafür aber vier in identischer Weise präparierte Zeigefinger von verschiedenen Frauen, die alle innerhalb des letzten Jahres an verschiedenen Orten in der Toskana ermordet worden waren. Die Finger befanden sich im Keller, eingelegt in bunte Glasbehälter, die zwischen präparierten Salamandern aufgestellt waren.
Am Körper der jungen Toten aus Florenz wurde ein Haar gefunden, das man nach einer genetischen Analyse eindeutig Conzani zuordnen konnte.
Die Geschichte von dem Fremden im Zug glaubte man Conzani vor Gericht nicht. Seinen Gang zur Polizei konnten sich die Richter zunächst nicht erklären, aber der Psychologe interpretierte dieses Verhalten nach mehreren Sitzungen mit Conzani als eine durch inneren Druck ausgelöste Selbstüberführung.
In einer anderen Stadt lächelte eine Frau, die in ihrer kleinen Küche am Frühstückstisch saß. Sie hatte eine Zeitung vor sich liegen und las die Meldung über die Verurteilung des Fingermörders in der Rubrik Aus aller Welt. Die Lautstärke der Stereoanlage im anderen Zimmer war so eingestellt, dass sie die alte, zerkratzte Platte Lust for Life von Iggy in der Küche gut hören konnte. Während sie die anderen Meldungen auf der Seite las, lief The passenger. Sie warf einen kurzen Blick in Richtung des Leguans, der sich auf der Fensterbank sonnte und sich genauso gut zu fühlen schien wie sie.
Bevor Lugo Conzani sich den aus Stofffetzen geknoteten Strick um den Hals legte und auf den Stuhl in seiner Zelle stieg, dachte er, es wäre vielleicht alles anders gekommen, wenn er sich damals im Zug der Fahrtrichtung entgegen gesetzt hätte. Das war Conzanis vorletzter Gedanke.
Zufällig im selben Moment, als zwei Wärter Conzani von seinem Strick abschnitten, griff die Frau in der anderen Stadt zum Telefon und wählte die Nummer eines ehemaligen Glasbläsers.
4 Comments:
Ein rechter Krimi. Spannend, fein gesponnen und auch noch im Zug. Zuggeschichten mag ich besonders.
Sehr schön Herr Quint. Wie immer.
Was soll man da groß kommentieren? Einfach gut geschrieben.
Merci für die Blumen allerseits.
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