Samstag, Dezember 12, 2009

Hirnverbrennung und Katharsis

Immer, wenn ich ein Theaterhaus besuche, will ich entweder pünktlich zu Beginn der Aufführung wegrennen oder schlafe blitzartig ein. Da kann der Regisseur von der ersten Sekunde an auf die Kacke hauen und mit Titten und Ärschen wedeln lassen, wie er will: Interessant finde ich das Schauspiel exakt bis zu dem Moment, in dem der Vorhang aufgezogen wird. Wenn dann die zumeist hirnverbrannte Inszenierung beginnt, verspüre ich den zwanghaften Wunsch, quer durch den Zuschauerraum und das Foyer, über den Theatervorplatz, durch die Innenstadt in den entferntesten Randbezirk zu rennen und erst wieder anzuhalten, wenn ich von einem finsteren Wald umgeben bin.

Aber bisher bin ich dann doch nie vom Schauspielhaus direkt in den finsteren Wald gerannt, weil ich immer befürchten musste, dass mich sofort nach dem Start diese theatertypische Schlaflähmung überfällt und ich schnarchend zwischen den Sitzreihen in einem fremden Schoß zum Erliegen kommen könnte. Bei manchen Schößen wäre das keine unangenehme Vorstellung, bei anderen der pure Horror. Wahrscheinlich werde ich nie aufstehen und losrennen, weil das Risiko, in den falschen Schoß zu kippen, einfach zu groß ist.

Einer der letzten Nervenkitzel unserer Zivilisation besteht darin, das Mobiltelefon im Theater nicht auszuschalten. Auf diese Weise kann man den Aufführungen einen - zwar künstlichen, aber wenigstens minimalen - Spannungspegel verleihen. Manchmal schaffe ich es sogar, mich durch den Gedanken, das Telefon könnte plötzlich klingeln, phasenweise wachzuhalten.

Einmal hat das Telefon tatsächlich geklingelt. Aber da wurde auf der Bühne ein derartiges Geschrei und Getöse veranstaltet, dass niemand das Geklingel mitbekam. Auch ich hätte es in meiner Theaterbetäubung beinahe überhört. Als ich den Anruf entgegen nahm, war die Person am anderen Ende der Leitung wegen dem Geschrei und Getöse nicht zu verstehen, so dass ich das Gespräch beenden musste und sofort in meinen Dämmerzustand zurückfiel.

Nun könnte der falsche Eindruck entstehen, ich sei ein Theaterfeind. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn mich jener Traumzustand beim Besuch von Schauspielhäusern überkommt, stürze ich im freien Fall durch verborgene Innenwelten und erfahre Katharsis im tiefsten Sinn der griechischen Tragödie. Ich möchte auf meinen Theaterschlaf nicht verzichten und bedanke mich hiermit bei den Verantwortlichen, vor allem für die hirnverbranntesten Inszenierungen.

12 Comments:

Anonymous der Nachbar said...

Hab mich grad gefragt, warum Hirnverbrennung und nicht Hirnverbranntheit und mir dann sogleich die Frage selbst beantwortet, als mir dieser ungewöhnliche Eigengeruch die Nase penetrierte. Doch ich liebe Theater wegen der immunisierenden Wirkung. enn hne eather rennt inem as irkliche eben uf auer as irn eg!

12.12.09  
Anonymous ttr said...

Irgendwie verspüre ich grade einen Hang ein Zitat aus Brodskis Rede an seine Studenten hier abzuladen.
Boredom is your window on the properties of time that one tends to ignore to the likely peril of one's mental equilibrium. It is your window on time's
infinity.

Ganze Rede

Ja und ansonsten ist es mir recht langweilig.

13.12.09  
Anonymous MoniqueChantalHuber said...

fernsehschlaf ist deutlich billiger zu haben.

bietet ja nicht jede stadt einen kulturpass, wo man festwochenkarten im theoretischen gegenwert von 300 euro umsonst verschlafen kann. in meinem falle würde ich das jedoch eher als fluchtschlaf bezeichnen: ich war in einer modernen oper.

13.12.09  
Anonymous andie kanne said...

Als bekennender Home-Theater Purist kann ich mich zum Sachverhalt nicht äußern. Bei meinem letzten Lichtspielhaus-Besuch 1992 erging es mir jedenfalls ähnlich, meine ich mich zu erinnern. Leider gab es damals noch nicht die Handy-Option.

13.12.09  
Blogger MudShark said...

der kick bzw. tipp in einem fremden schoß zu erliegen könnte vielleicht in einschlägigen suizidforen der renner werden.

wortbestätigung sarin hey marcq, langsam habe ich angst.

14.12.09  
Blogger DanielSubreal said...

Zu Weihnachten gibts dann wohl vom Christkind ne Axt - zum "Holzfällen" ... auch wenn ich im Theater gern wach bin, finde ich die Idee des rebellischen Handyklinglers verlocken... ich seh mir ja auch gern tumultartige Boxkämpfe an...

14.12.09  
Blogger mkh said...

Das Schoßrolette halte ich tatsächlich für eine überlegenswerte Option. Zumal alle Anwesenden dies für eine besonders ausgefeilte hirnverbrannte Inszenierung halten werden (vor allem wenn dazu just im selben Moment das Mobilteil loslegt). Aber du hast schon recht - jeder noch zartesten Versuchung ist ein herber Horror immanent.

beysis

14.12.09  
Blogger Frau H. said...

Wenn ich das so lese, kommt in mir der Vorsatz, doch endlich 'mal wieder ins Theater zu gehen um etwas *strike* gegen meine Augenringe*/strike* für meine kulturelle Bildung zu tun siedend in den Sinn....

(Wie war das eigentlich früher bei Ihnen in der Schule, wenn der Lehrer die Rollos herab lies und ein Filmchen zeigte? Oder ähnliches... Fing es da schon an?)

*Code not allowed - bitte denken!

15.12.09  
Anonymous kopffüßelnde said...

Da bekomme ich doch tatsächlich Lust, mich, nach Jahren der Abstinenz, mal wieder vor den Vorhang zu begeben, neige allerdings gerade im Schlaf zu ruckartigen Bewegungen im Sekundentakt.

16.12.09  
Blogger mq said...

/der Nachbar: Das "wirkliche Leben" könnte ein dramaturgischer Irrtum sein.

/ttr: Solange es wenigstens noch gelingt, irgendwen zu langweilen, kann das Dasein nicht vollkommen nutzlos gewesen sein.

/MoniqueChantalHuber: Ich könnte überhaupt nicht so lange schlafen, wie ich bei dem Begriff "moderne Oper" schnarchen möchte.
Zwar besitze ich kein Fernsehgerät, aber ich hielte es für fatal, sich den fremdbestimmten Kulturschlaf in die eigenen vier Wände zu holen. In dieser substanziellen Angelegenheit sollte man weder Kosten noch Mühen scheuen.

/andie kanne: Klarer Fall, "Lichtspielhaus" wird Wort des Jahres 2009. Was wurde damals gezeigt? BR Spacenight?

/MudShark: Man sollte es nicht so weit kommen lassen, dass der Dramenschlummer suizidale Züge annimmt.

/DanielSubreal: Zu Weihnachten gibt es zum mindestens zwanzigsten Mal die Auslöschung und den Untergeher.
Sie werden doch nicht die hohe Schule des Boxens, also des Lebens mit einem weitestgehend programmatischen Kunstprodukt wie dem Theater vergleichen!

/mkh: Im Abhängigkeit von den Besucherzahlen ist von einem Vabanquespiel mit der Möglichkeit, in einen freien Sessel zu fallen, nicht zwingend abzuraten.

/Frau H.: Von diesen Bilologiefilmen mit der knisternden Tonspur über kopulierende Mikroorganismen konnte ich damals nicht genug kriegen. Das war großes Kino auf 16mm!

/kopffüßelnde: Black Metal zum einschlafen?

22.12.09  
Blogger Unknown said...

ich schäm mich immer fremd in theatern. ist vermutlich nicht im sinne des erfinders. einzige ausnahme war mal ein lustspiel namens "der floh im ohr" von feydeau im wiener burgtheater.

frohe weihnachten übrigens!

24.12.09  
Blogger mq said...

So weit lasse ich es aus beschriebenen Gründen erst gar nicht kommen, aber ich traue diesem Volk der Theatermacher jede böse Absicht zu - auch wenn die Absicht in den meisten Fällen ein Versehen ist.

Einen gesegneten Beschluss!

31.12.09  

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