München - Venedig (XV): Die Essenz des Erlebten
Erinnerungen sind Verbindungen in eine Vergangenheit, die sich wie ein Containerschiff von uns entfernt und kleiner wird, bis sie hinter der Eintönigkeit des Meeres verschwindet. Wir stehen im Hafen, sehen dem Frachter hinterher und warten auf andere Schiffe. In den vielen Häfen auf unserer Reise entdecken wir manchmal Container, die uns bekannt vorkommen.
Braunauge
Ich habe während meiner Wanderung keine Notizen gemacht. Erlebtes kann nicht den Sinnes- und Geisteseindrücken getreu beschrieben werden. Der zentrale Wegbereiter des Naturalismus, Emile Zola, stand an Pariser Straßenecken und hat versucht, jedes Detail seiner Beobachtungen mit naturgetreuer sprachlicher Präzision festzuhalten. Am Ende blieben Worte, die den Leser mit wachsendem Umfang des Geschriebenen vom Kern eines ursprünglichen Gefühls entfernen.
Aber worin liegt die Essenz des Erlebten? Es sind keine vollständigen Eindrücke, die innerhalb einer verblassenden Erinnerung abgerufen werden, der Inhalt unseres Gedächtnisses besteht überwiegend aus fadenscheinigen Bruchstücken. Und unabhängig von jeder Antwort auf die Frage der Darstellung muss ein Festhalten des Rückblicks zur Verfälschung des Erlebten führen.
Kaisermantel
Nach dem frühmorgendlichen Aufbruch von der Pramperet Hütte schlug ich ein hohes Tempo ein, weil ich an diesem Tag den Abstieg aus den Alpen bewältigen und Belluno erreichen wollte. Über die Forcella la Sud dei Van di Città ging es zum Rifugio Pian de Fontana. Ich hatte keinen Helm gegen Steinschlag im Gepäck, also wählte ich die Umgehung der Chiara und wanderte durch eine dichter werdende Vegetation in grüne Täler, bis ich an der Straße nach Belluno stand.
Die Stille in den Bergen mündete übergangslos im Alptraum eines Verkehrsstroms, dessen Partikel mit größtmöglicher Geschwindigkeit vorbeirauschten. An der Straße gab es keinen Seitenstreifen, so dass nur ein geringer Abstand zu den Fahrzeugen blieb. Jugendliche Motorradfahrer donnerten besonders riskant an mir vorbei, um ihren Sozias zu imponieren, deren üppige Hinterteile mich spöttisch grüßten. Jenseits der Leitplanke begann eine Böschung, dahinter lag der Fluss Torrente Cordevole. Graßler verweist in seiner Reisebeschreibung auf den Linienbus, aber ich wollte jeden Meter bis nach Venedig zu Fuß zurücklegen. Eine Zeitlang versuchte ich, am Fluss entlang zu gehen, was sich aber aufgrund der Beschaffenheit des Flussbetts als noch beschwerlicher herausstellte.
"ATTENZIONE"
Ich überlegte kurz, ob es sinnvoll sei, die Nacht abzuwarten, weil dann vielleicht weniger Fahrzeuge unterwegs wären. Diesen Plan gab ich auf, als ich einer toten Fledermaus auf der Randmarkierung begegnete. Offensichtlich war das Reisen bei Nacht nicht ungefährlicher.
Es wurde schließlich doch noch Nacht, bis ich in Belluno ankam. Die Etappe war anstrengender und staubiger gewesen, als ich am Morgen erwartet hatte. Ich fand ein ruhiges Zimmer in einer Art katholischem Übernachtungsheim, bevor ich in einem Café den größten Eisbecher auf der Speisenkarte als Entschädigung für meine abgasverseuchten Lungen bestellte.
Belluno
(...)
5 Comments:
Selten sind die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation so deutlich - wie an ihren Grenzen.
Beim Lesen fahren Containerschiffe voller Erinnerungen vorüber, randvoll mit stinkenden Abgasen, Lega Nord Schmierereien und Panikattacken wegen Lastkraftwagen, die in 1,5mm Abstand vorbeirasen.
Norditaliens Strassen sind mir als Radfahrer, Wanderer und Tramper in schlechter Erinnerung, nirgends wünschte ich mich mehr in Wildnis zurück.
und was passiert, wenn piraten ein containerschiff voller erinnerungen kapern? werden sie beim betreten der decks ad hoc verrückt?
/mkh: Klingt einleuchtend.
/Andie Kanne: Als Tramper habe ich Italien in bester Erinnerung. Ich wurde damals überraschender Weise häufig von Frauen mitgenommen. Aber das mag an der langen Haartracht gelegen haben.
/MudShark: Wer sich für das Berufsbild eines Piraten entscheidet, muss damit leben, dass seine Tätigkeit Risiken birgt.
Just to complete: Die "Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation" ist ja zum einen räumlich, wenn man beispielsweise aus den Bergen direkt an überfüllte Straßen kommt. Zum anderen ist es eine Grenze der Lebensweise, die in alten Vorstellungen von der Hexe Hagazussa symbolisiert wurde. Sie hockt auf dem Grenzzaun, ein Bein in der Wildnis, eines in der Zivilisation. Lesetipp dazu (falls nicht bekannt) Hans Peter Duerr, Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation. - An der räumlichen Grenze wird auch heute noch etwas von der Grenze der Lebensweise spürbar.
Kommentar veröffentlichen
<< Home