Donnerstag, Februar 28, 2013

Die geschminkte Träne

An einer Stelle im Frankfurter Bahnhofsviertel, wo sich Kaiser- und Weserstraße kreuzen, steht ein Mann im dunklen Zwirn. Nervös überprüft er den Knoten der Seidenkrawatte und blickt in kurzen Abständen auf seine goldene Armbanduhr.

Ein scheinbar zufälliger Passant mit verfilzten Haaren, zerlöcherten Jeans und einer tätowierten Träne auf der Wange nähert sich. Er nagt an einer Eiswaffel. Breitbeinig stellt sich der Passant vor den Wartenden und kratzt am Schorf einer Wunde auf seiner Stirn. Nachdenklich mustert er den Mann im eleganten Anzug. Schließlich spricht er ihn an und rollt dabei seine Augen in verschiedene Richtungen.

- Sind Sie Professor von Kaltenbrunner?
- Sehr erfreut. Und Sie müssen Ralf sein.
- Korrekt. Kumpels, Kunden und Mitarbeiter nennen mich Waffelralf. Sie suchen also eine neue berufliche Herausforderung?
- Ich freue mich, dass Sie den Termin für ein Vorstellungsgespräch kurzfristig ermöglichen konnten, Waffelralf.
- Darf man erfahren, wie Sie auf die vakante Position aufmerksam geworden sind?
- Es handelt sich um eine Blindbewerbung. Ich bekam den Tipp von einem entfernten Bekannten, bei dem ich stimmungsaufhellende Substanzen zu erwerben pflegte.
- Konjunkturbedingt ist es derzeit schwierig, qualifiziertes Personal zu finden. Ich hatte Anzeigen in Parkbänke geritzt und die Stellenausschreibung in toten Briefkasten deponiert, aber die Resonanz war dürftig. Zuletzt spielte ich mit dem Gedanken, einen Headhunter zu beauftragen. Warum haben Sie sich als Branchenfremder ausgerechnet auf die Position eines Crackdealers beworben, Professor von Kaltenbrunner?

- Neben einer ausgeprägten Leidenschaft für den Vertrieb und meinem Verkaufstalent besitze ich umfangreiche Erfahrungen als Vertreter für ungewöhnliche Produkte. Wie Sie anhand meiner Zeugnisunterlagen und Referenzen, die mir von namhaften afrikanischen Handelspartnern ausgestellt wurden, erkennen können, habe ich mich bereits auf dem Gebiet der Verteidigungstechnologie bewährt. Ich bin es gewohnt, unter schwierigen Umständen zu arbeiten. Ob Feinstrumpfhosen, Gummiboote, Waffen oder Drogen, die Absatzzahlen sind entscheidend.
- Würden Sie suchterzeugende Substanzen wie Heroin, Kokain oder Crack als ungewöhnliche Produkte bezeichnen?
- Vor dem Hintergrund der rechtlichen Situation erkenne ich zumindest eine gewisse Herausforderung beim Vertrieb von Betäubungsmitteln.
- Haben Sie bereits konkrete Vorstellungen, wie Sie den Crackabsatz im Vertriebsgebiet Bahnhofsviertel steigern würden?
- Nach meiner Einschätzung der Situation gehört das Bahnhofsviertel zu den weitgehend erschlossenen Regionen in Frankfurt. Zunächst würde ich eine Marktforschungsstudie beauftragen, um herauszufinden, in welchen Segmenten wir weiteres Absatzpotenzial vorfinden. Ich könnte mir vorstellen, dass wir durch die Erhöhung der Präsenz im unmittelbaren Einzugsgebiet von Schulen den Umsatz steigern. Auf jeden Fall sollten wir eine konsequente Aufklärung und werbewirksam gestaltete Verbraucherinformationen bei der Akquisition in den Vordergrund rücken. Vielleicht wären Kombiangebote zu Sonderkonditionen denkbar, um den klassischen Kokainkunden mit neuen Produkten vertraut zu machen. Gewiss machen sich auch temporäre Niedrigpreise langfristig bezahlt. Neben der Neukundengewinnung wäre mir vor allem die nachhaltige Kundenbindung ein Anliegen.
- Diese Thematik ist aufgrund der bindenden Eigenschaften unserer Produkte das geringste Problem. Wann wäre Ihr frühest möglicher Eintrittstermin?
- Da ich derzeit an keine Kündigungsfristen gebunden bin, könnte ich mit der neuen Aufgabe kurzfristig beginnen.

Eine Polizeistreife nähert sich der Kreuzung. Waffelralf wirkt plötzlich gehetzt.

- Professor von Kaltenbrunner, mein erster Eindruck ist sehr positiv. Sie werden bald von mir hören, und dann können wir uns über Vertragskonditionen wie Provision, Dienstwagen und Altersversorgung im Detail unterhalten.
- Ich würde mich sehr darüber freuen, schon bald als Mitarbeiter in Ihrem Unternehmen ...

Er beendet seinen Satz nicht, denn Waffelralf ist bereits um die Ecke verschwunden. Der Streifenwagen hält neben dem Mann im dunklen Zwirn. Die Beamtin am Steuer zwinkert ihm zu. Beim Einsteigen fragt er sich, wieviel besser die Welt ohne Drogenhändler sein könnte.

Kurz darauf steigt der Mann mit der Träne zwei Straßen weiter zu seinem Kollegen von der Bundesbehörde in eine schwarze Limousine. Er fragt sich, wieviel besser die Welt ohne Waffenhändler sein könnte.

3 Comments:

Blogger MudShark said...

in zeiten unkontrollierter v-männer und nicht kommunizierender behörden eine leider sehr reale geschichte.

1.3.13  
Anonymous mkh said...

Entscheidende Tipps kommen von mudshark. Vorab bleibt es für mich eine derjenigen Geschichten, die klar zeigen, dass Grippewellen und Gehirnwellen nicht gleichermaßen geeignet sind, um angemessen um die Ecke denken zu können.

1.3.13  
Blogger mq said...

/MudShark: Realismus gehört nicht zu meinen Stärken, aber deine These leuchtet mir ein.

/mkh: Surf the better wave - weiterhin gute Besserung!

5.3.13  

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