Dienstag, September 24, 2013

Sehr geehrte Wahlverweigerer,

zu den vielen Möglichkeiten der Demokratie gehört auch die Freiheit, sich an den Möglichkeiten der Demokratie nicht zu beteiligen. Von diesem demokratischen Recht haben Sie Gebrauch gemacht. Die scheinbar paradoxe Schattenseite dieses demokratischen Rechts besteht darin, dass durch seine Anwendung die Demokratie in Frage gestellt wird. Wenn die Mehrzahl der Wahlberechtigten auf eine Stimmabgabe verzichtet, wird einer demokratischen Regierungsbildung das Fundament der Legitimation entzogen.

Wahlverweigerung ist demokratieschädlich, und die damit verfolgten Ziele bleiben nebulös, sind Ausdruck einer vollgefressenen Wohlstandsgesellschaft. Der Nichtwähler sitzt satt in seinem Schaukelstuhl, in der rechten Hand die Fernbedienung oder das Smartphone und in der linken eine Flasche Bier, während er über die Unfähigkeit der Politiker lamentiert und über mangelnde Alternativen klagt. Es werden Angebote erwartet, die man aus dem bequemen Beobachterposten des Schaukelstuhlbesitzers kritisieren und vernichten kann. Leider handelt es sich bei den Wahlverweigerern nicht ausschließlich um Vertreter bildungsferner Schichten, sondern auch um Personen aus wissenschaftlichen und publizistischen Metiers. Vom rhetorischen Geschwurbel abgesehen, besteht der einzige Unterschied zwischen Ihnen und dem bildungsfernen Wahlverweigerer bestenfalls in der Wahl des Getränks. Immerhin konnten Sie sich zwischen Bier und Wein entscheiden.

Es gibt immer eine bessere Lösung. Das gilt für jede Situation. Wer sich beklagt, sollte nicht nur die bessere Lösung vorschlagen, sondern sich mit ganzer Kraft für deren Realisierung einsetzen. Aber hierfür ist es erforderlich, sich aus dem bequemen Schaukelstuhl zu erheben und Anfeindungen, Spott oder Frustration in Kauf zu nehmen. Bei 80 Millionen Menschen gibt es mindestens 80 Millionen Meinungen. Um ein friedliches Nebeneinander dieser Menschen bei gleichzeitiger Umsetzung von Zielen zur Verbesserung dieses Nebeneinanders erreichen zu können, ist mehr gefordert als herablassende Kritik und eingängige Lösungsohrwürmer.

Vorgestern wurde die Wahl zur Gewinnerin der Wahl. Mit einer Beteiligung von 71,5 Prozent aller Stimmberechtigten gab es erstmals seit 1998 wieder ein Plus auf Bundesebene. Und da Sie sich für ein Erfrischungsgetränk entscheiden konnten, bleibt die Hoffnung, dass Sie bei den nächsten politischen Wahlen auch Ihre Wahl treffen können. Vielleicht stammt dann sogar einer von 80 Millionen oder mehr möglichen konstruktiven Lösungsansätzen von Ihnen.

Mit ausgewählten Grüßen,
mq

Freitag, September 20, 2013

Der Unverwechselbare

Er hat den für mich einzigen plausiblen Grund für die Lektüre von Lyrik genannt. In einem Interview sagte Marcel Reich-Ranicki, dass er in seinem Versteck nicht gewagt habe, sich mit längeren Texten zu beschäftigen, aus Angst, von den Nazis gefasst zu werden und ein Werk nicht zu Ende lesen zu können.

Ende der Neunziger habe ich für einige Monate im Frankfurter Stadtteil Eschersheim gelebt. Die Wohnung befand sich in einer Mietskaserne auf der nördlichen Seite der Hügelstraße. Er wohnte, sehr passend, im sogenannten Dichterviertel südlich der Hügelstraße. Allerdings residierte er nicht in einer der großbürgerlichen Villen, sondern in einem waschbetonverkleideten Mehrfamilienhaus. Und nahezu täglich, wenn ich mit meinem Hund in Richtung Grünanlage gegangen bin, sind mir Marcel Reich-Ranicki und seine Frau Tosia begegnet. Sie sind stets in dieselbe Richtung spaziert und haben sich dabei auf Polnisch unterhalten. Jedes Mal, wenn ich den Kritiker und seine Frau eingeholt hatte, verlangsamte ich meinen Schritt und begleitete die beiden für wenige Sekunden auf gleicher Höhe, weil ich herausfinden wollte, ob man sein Lispeln auch in der fremden Sprache erkennen konnte. Aber obwohl er deutlich vernehmbar sprach, war ich mir nie sicher, und um nicht aufzufallen, musste ich das Paar schließlich überholen. Ob sein Sprachfehler international war, kann ich bis heute nicht sagen.

Auf nationaler Ebene war nicht nur sein Sprachfehler von größter Unverwechselbarkeit und höchstem Rang. Von Karl Kraus abgesehen, gibt es - vollkommen unabhängig von der Kunstform - keinen deutschen Kritiker, der eine vergleichbare Bedeutung besitzt. In Erinnerung bleiben nicht nur das Literarische Quartett, seine Fehden mit Martin Walser und die rabiate Ablehnung des Deutschen Fernsehpreises, sondern vor allem die unzähligen Rezensionen, in denen er kein Blatt vor den Mund genommen hat. Welchem zeitgenössischen Kritiker gelingt es, mit Einverständnis seiner Herausgeber, unverblümte Schmähungen wie "wertlos", "furchtbar", "abscheulich" oder "scheußlich" in einem reichweitenstarken Medium zu veröffentlichen?

Seine Begeisterung für Thomas Mann konnte ich nie teilen, und die gespielten Wutausbrüche wirkten zuweilen übertrieben lächerlich. Aber die Autobiografie "Mein Leben" zählt zum Wertvollsten, was innerhalb dieses Genres hervorgebracht wurde, und seine unverwechselbar lakonische Kolumne "Fragen Sie Reich-Ranicki" in der FAZ werde ich vermissen.

Irgendwann sind wir alle vergessen, aber wenn es im Leben darum gehen sollte, unverwechselbar zu sein, dann wäre Marcel Reich-Ranicki ein phänomenales Beispiel.