Dienstag, September 27, 2011

Gehen bei rot

Die Verkehrsordnung sieht vor, dass Fußgänger eine Straße nicht überqueren dürfen, während ihnen die Fußgängerampel ein rotes Lichtsignal anzeigt. Diese Vorschrift ist verbindlich, auch wenn sich einer mitternächtlichen Kreuzung in der Oberpfalz seit Stunden kein Fahrzeug nähert. So will es der Gesetzgeber, ohne Rücksicht auf die Funktion der Sinne und die Fähigkeiten des menschlichen Verstandes. Das ist aus Sicht der gesetzlichen Instanzen nachvollziehbar, denn zum einen wäre man nicht ganz bei Trost, wenn man auf die Funktion der Sinne und die Fähigkeiten des menschlichen Verstandes in der mitternächtlichen Oberpfalz vertrauen würde, zum anderen ist ohne eindeutige Regeln keine Rechtsprechung möglich.

Ähnlich wie in Ameisenstaaten würden sich alle an die Regeln einer bestehenden Ordnung halten, wenn der Mensch nicht vom Willen zur Freiheit seiner Entscheidungen beseelt wäre. Besonders deutlich wird dieses Bedürfnis, wenn es um die Wahl geht, sich an Regeln zu halten oder bei einem bewussten Verstoß die Gefahr von Sanktionen in Kauf zu nehmen.

Da die Wahrscheinlichkeit einer Sanktionierung, sei es durch Bußgelder oder Straßenverkehrstod, beim Überqueren von Straßen während Ampelrotphasen gering ist und das Strafmaß in den meisten Fällen überschaubar bleibt, steigt die Versuchung, gegen diese Regel zu verstoßen. Wahrscheinlich gibt es in Deutschland keinen erwachsenen Fußgänger, der noch nie eine Straße bei rot überquert hat.

Dieses Verhalten ist gesellschaftlich weitgehend akzeptiert und wird geduldet, solange sich kein Kind in Sichtweite befindet. Wenn man jedoch aus irgendwelchen Gründen, beispielsweise wegen einem entzündeten Backenzahn, ein Kind am Straßenrand nicht wahrnimmt und bei rot über den Fußgängerüberweg latscht, müsste es mit dem Teufel zugehen, wenn nicht irgendwer hasserfüllt brüllen würde: "Es ist rot!" Und dabei spielt es keine Rolle, ob sich der Zögling in diesem Moment viel mehr für einen Taubenschiss am Bordsteinrand interessiert oder im Kinderwagen friedlich vor sich hin schnarcht.

Man kann sich in einer solchen Situation trotzig mit den Worten "Lieber rot als tot" für den Hinweis bedanken oder eine Grundsatzdiskussion darüber starten, wer für die Erziehung des Zöglings verantwortlich sei. Schließlich wolle man den Eltern anhand des schlechten Vorbilds eine Chance zur Verwirklichung ihrer Erziehungsideale geben etc. Und überhaupt sei Großes im Verlauf der Menschheitsgeschichte nur aus regelabweichendem Verhalten entstanden, während sich Ameisenstaaten seit Millionen Jahren kaum weiterentwickelt und keine Fahrzeuge mit Hybridantrieb entwickelt haben.

Im Idealfall verkneift man sich jede Reaktion auf den zornigen Hinweis "Es ist rot!", konzentriert sich auf die Unterdrückung der Zahnschmerzen und verschwindet im Gewimmel des Ameisenstaates. Bis zum nächsten Regelbruch, und vielleicht entsteht dabei sogar irgendwann eine große Idee. Wenn man sich nicht überfahren lässt.

Sonntag, September 11, 2011

Mit dem Riesenrad um die Welt

Als Kind wollte ich Förster werden. Die einzige Alternative wäre Autoscooterchauffeur gewesen. Diese Typen hatten einen Dauerchip am Fuchsschwanz und durften den ganzen Tag lässig auf Autoscootern stehen und rückwärts einparken. Wenn man sich heute auf einer Kirmes für ein paar Sekunden neben die Viertelstarken am Autoscooter stellt, bekommt man Dialoge mit, die sich jedem Versuch einer schriftlichen Dokumentation mittels massivster Peinlichkeitsattacken entziehen und ernste Zweifel daran aufkommen lassen, dass man selbst jemals so jung gewesen und am Autoscooter herumgehangen sein könnte.
Ich lasse keine Kirmes aus und fahre jedes Mal eine Runde mit dem Riesenrad um die Welt, während ich zwei rituelle Mohrenköpfe aka Negerküsse mit Kokosstreuseln esse. Hinterher ist mir dann immer saumäßig schlecht, aber das muss so sein.
Früher hingen an vielen Buden Zettel mit dem Hinweis, dass ein "junger Mann zum mitreisen" gesucht sei. Das war die gängige Formel der Schausteller. Man hätte auch schreiben können "Hilfskraft für Kettenkarussel gesucht", aber jeder hielt sich an die Formel "junger Mann zum mitreisen gesucht". Ich habe schon lange keinen solchen Zettel mehr gesehen. Vermutlich beziehen die Schausteller ihre Eineurosklaven inzwischen direkt aus Weißrussland oder der Ukraine.
Auf einer Kirmes gibt es bizarre Beschäftigungsverhältnisse. Seit den Zeiten, als Autoscooterchauffeur die einzige Alternative zur Försterei gewesen wäre, hat sich einiges getan. Mit seinem Vocoder hat der Witzbold am Mikrofon sicher viel Spaß, wenn er mit Mickymausstimme und vierfachem Echo die Beschleunigung des "Polypen" auf Mach 3 ansagt.
Außer dem Riesenrad betrete ich kein Fahrgeschäft. Vor der Geisterbahn bleibe ich aber immer eine Weile stehen. Dort geistern inzwischen farblich markierte Untote aus echtem Fleisch und Blut zwischen den Besuchern herum. Und wie fühlt sich der Mann auf dem Balkon bei seinen stundenlangen Bemühungen, mit einer Plastikspinne an der Angel Passanten zu erschrecken? Die Geisterbahn wirbt mit dem Slogan "Weg ins Ungewisse". Klingt reizvoll.