Sonntag, September 26, 2010

Wagner und die Egoshooters

In der Linie 12 erzählt ein strickender Mann seinem Sitznachbarn, dass er in den Neunzigern, als alle mit Doom und Resident Evil beschäftigt gewesen seien, Richard Wagner studiert habe. Das andere Ende des Wollfadens zwischen seinen Fingern verschwindet in einer Jutetasche, wie man sie einst statt Plastik verwendete. Hellbraune Wildlederschuhe, graue Wollsocken, grüne Feincordhose, herbsthimmelblauer Pullover, weinrotes Leinensakko, gelbe Schirmkappe mit Ölfirmalogo, tiefschwarze Sonnenbrille. Der Zusammenhang zwischen seiner Garderobe, Richard Wagner und den Egoshooters wird deutlich, als der Mann an der Haltestelle einen Blindenstock aus der Jutetasche hervorzieht und aufklappt. Er verlässt die Straßenbahn mit zielbewusstem Schritt.

Mittwoch, September 22, 2010

Ob es Menschen gab

Als er an seiner Abstellkammer vorüberging, kam es ihm vor, als hörte er ein Flüstern hinter der Tür. Risse zogen sich wie Spinnweben durch den schmutzgrauen Lack. Er hielt den Atem an und legte sein Ohr an das Holz.

Es roch nach Putzmitteln, und Escher hörte zwei Stimmen, die sich darüber zu unterhalten schienen, ob es Menschen gab. Eine der Stimmen meinte, dass der Mensch existieren müsse, denn schließlich könne es Götter nur geben, wenn jemand an ihr Dasein glaubte.

- Woher sollten wir unseren Sinn beziehen, wenn es kein Wesen gäbe, in dessen Vorstellung wir existierten?
- Aber müssen nicht wir die Menschheit erschaffen haben, damit sie an uns glauben kann?
- Ebenso wenig, wie ich mich an meine eigene Erschaffung erinnere, weiß ich von der Schöpfung einer Welt. Zu welchem Nutzen sollte sie uns dienen? Die Menschheit hingegen musste Götter erschaffen, um uns übernatürliche Kräfte zuzuschreiben und in die Ewigkeit zu verbannen.
- Aber warum sollte die Menschheit uns benötigen, worin bestünde unser Verwendungszweck? Und wenn wir übernatürliche Kräfte besäßen, was fingen wir damit an? Besitzen wir Götter nicht dieselben Eigenschaften, die wir den Menschen unterstellen? Wir schufen eine Vorstellung von Menschen, die uns erhöhen, gleichsam wie unsere Vorstellung, also die Menschheit, erhöht sein will.
- Sie beziehen Kraft aus der Annahme, dass sich die Angst vor dem Tod mittels unserer Existenz überwinden lässt. Mit unserer Hilfe rechtfertigen sie ihren Wunsch nach ewigem Leben, zusätzlich die Furcht vor ewiger Verdammnis als Werte für ihr Dasein.
- Wenn wir aber annehmen, dass es keine Menschen gibt, die uns erschaffen haben, sondern dass die Menschheit nur in unserer Vorstellung existiert, wie können wir sicher sein, dass es uns selbst gibt? Sind wir nicht nur eine Idee im Kopf einer Idee, die wir selbst hatten?
- Gäbe es uns nicht, weil wir nicht als Idee in den Köpfen der Menschen existierten, wie könnten wir uns verständigen?
- Woher wissen wir, dass wir uns verständigen?
- Würden wir uns nicht verständigen, dann befände sich an der Stelle dieses Dialogs ein Teil des Nichts.

Als Escher die Luft nicht mehr anhalten konnte, atmete er geräuschvoll ein. Anschließend vernahm er keine Stimmen mehr aus der Abstellkammer. Escher zögerte. Dann ging er in die Küche und briet sich ein Ei.

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Samstag, September 18, 2010

Voodoo Display #30

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Sonntag, September 05, 2010

Totensülze

Jetzt weiß ich gar nicht,
bin ich hinten verstehbar?
Sonst sprech ich lauter.


Ich habe applaudiert, da waren plötzlich alle Blicke auf mich gerichtet. Sogar der Alte neben mir tauchte aus seiner Versunkenheit auf, kratzte sich das Stoppelkinn und gab durch eingefallene Wangen ein schmatzendes Geräusch von sich. Gehörte das Haiku nicht zum Programm? Sollte es nicht der Verwirrung, sondern unter der Tarnkappe eines versehentlichen Versmaßes der Verständigung dienen? War es möglich, dass der Dichter meinte, was er sagte, ohne sprachliche Vorhängeschlösser, deren Schlüssel er in den Tiefen bedeutungszerwühlter Ozeane versenkt hatte? Der Raum erschien mir kleiner als eine Obstkiste und war höchstens zur Hälfte gefüllt, die hinteren Reihen blieben unbesetzt. Totensülze im Publikum. Verzeihung. Totenstille, meinte ich.

Ich bemühte mich um ein unauffälliges Verebben meines Applauses, was gründlich misslang und mit einem viel zu lauten, trotzig einsamen Geräusch endete. Weil das Haiku keine Kunst war, verstand ich den Anlass der Frage, ob der Dichter hinten verstehbar sei, nicht und regte mich darüber auf, dass ich mich schon zu Beginn der Veranstaltung verapplaudiert hatte. Bereits die erste Äußerung des Dichters, ein Gebrauchstext, fast frei von Hintergedanken, hatte mich zu einer Verapplaudierung verleitet! Das verstärkte aus meiner Sicht die Erwartung weiterer Missverständnisse und ließ mich aus der Sicht des Publikums wie ein Trottel aussehen. Zusätzlich blickte mich dieser Arroganzbolzen vom Podium herab nachsichtig über den Rand seiner randlosen Brille an. Gibt es eine schlimmere Herablassung als nachsichtige Blicke über den Rand einer randlosen Brille? Ich fürchtete mich vor den eigenen Gedanken und beschloss, für den Rest meines Lebens nie wieder Beifall zu klatschen.

Nach einer dramaturgischen Pause, die allein dazu diente, den Triumph über meine Verapplaudierung auszukosten, begann der Dichter, mit knarrender Theaterstimme Gedichte vorzulesen. So klingen die Sprecher beim Abspielen von verkratzten, hundertjährigen Schellackplatten. Seine Unterlagen hatte er zuvor demonstrativ einer Aldi-Plastiktüte entnommen. Schon während der ersten Worte beschloss ich, nie wieder eine Dichterlesung zu besuchen. Das beschließe ich jedes Mal. Die Ahnung nach meiner anfänglichen Verapplaudierung, dass auch der weitere Verlauf des Abends von Missverständnissen in der einseitigen Kommunikation zwischen dem Dichter und mir geprägt sein würde, bestätigte sich. Die Texte waren in imposanter Vollkommenheit unverständlich. Zeitgenössische Lyrik versteht sowieso kein Mensch, einschließlich der Autoren selbst. Aber dann las der Dichter einen Aufsatz, und ich konnte das Thema nicht ansatzweise erkennen, obwohl ich mich wie geisteskrank konzentriert habe. Zuerst dachte ich, es ginge um Menschen, die sich auf einem Berg begegnen, aber im Rückblick könnten es auch Fische gewesen sein, die sich in einer Wüste begegnen.

Grausamer als Dichterlesungen sind nur die Podiumsdiskussionen im Anschluss, die von einer mindestens doppelt promovierten Kuratorin oder Literaturvereinsvorstandsvorsitzenden moderiert werden. Im Vordergrund stehen dabei akademische Monologe, die bezeugen, wie gut die Doppelpromotion während ihres geisteswissenschaftlichen Studiums gelernt hat, sich selbst zuzuhören.

Der Dichter sagte wenig, löste aber mechanisches Nicken im Publikum aus, wenn er scheinbar beiläufig Namen wie Karoline von Günderrode oder Marie von Ebner-Eschenbach erwähnte. Mich lassen allein diese Namen vor den Werken zurückschrecken, und die Diskussion erinnerte mich an eine fast leere Zahnpastatube. Man denkt, es ist nichts mehr drin, aber mit einem angestrengten Drücken kommt doch immer wieder ein kleiner Klecks heraus. Und die Doppelpromotion drückte angestrengt auf den Dichter, diese fast leere Zahnpastatube, und immer wieder kam noch ein Wortklecks aus dem Dichter heraus, und ich fühlte die Wut in mir aufsteigen, denn es war stickig in diesem kleinen Raum, die Luft vom vielen Vorlesen und meiner geisteskranken Konzentration verbraucht.

Genau in dem Moment, als ich mich erheben und apokalyptische Feuersbrünste ankündigen wollte, beendete die Doppelpromotion das Ganze und lud zu einem Glas Wein ein. Wer Interesse hätte, der Dichter würde auch signieren. Noch ein erstaunliches Phänomen. Genau genommen sind es sogar zwei, aber den Wein lassen wir an dieser Stelle aus. Worin besteht der Nutzen, wenn ein Autor seinen Namen oder - noch schlimmer - eine Widmung in den Vorsatz kritzelt? Dann steht dort sowas wie: Für blabla, xy. Oder einfach nur: xy.

Um herauszufinden, worum es bei der Lesung ging, blätterte ich am nächsten Morgen im Feuilleton. Dort wurden die Inhalte der Veranstaltung eindrucksvoll erklärt, nur fragte ich mich, wo eigentlich ich am Vorabend war und ob ich mir das versehentliche Haiku und die Totensülze nur eingebildet habe.

Samstag, September 04, 2010

Mein schönstes Kriegserlebnis

Anfang der 1990er Jahre bin ich ein regelmäßiger Gast im Karlsruher Wildparkstadion gewesen. Der KSC spielte als Nachwuchskader für den FCB (Scholl, Kahn, Fink, Tarnat) ansehnlichen Bundesligafußball, Winnie Schäfer war zum brüllen komisch, wenn er mit purpur angelaufenem Gesicht am Spielfeldrand auf- und abdopste oder wegen unsittlicher Äußerungen auf die Tribüne verwiesen wurde, und auf Oliver Kahn hagelten bei jedem Spiel Bananen und Brunftrufe aus der gegnerischen Kurve.

Aber das Beste war die Ansage vor dem Spiel. Nach altem Stadionritual, das hoffentlich noch viele Jahrtausende in Sportarenen gepflegt wird, verkündete der Sprecher die Vornamen der Heimmannschaft, worauf das Publikum unisono die Nachnamen ergänzte. Mich überkommt heute noch ein frostiger Schauer, wenn ich daran denke, wie der Stadionsprecher in gezielt demagogischer (oder bildete ich mir das nur ein?) Stimmlage "Rainer" - man vergegenwärtige dieselbe Aussprache wie "reiner" - ins Mikrofon bellte, worauf es aus zehntausenden Kehlen dumpf tönte: "KRIEG".

Dieses Massenphänomen erzeugte Schauer und Belustigung zugleich, mit kathartischer Wirkung schien sich das Fußballvolk innerhalb einer Sekunde dunkelster Wallungen zu entledigen. Leider durfte der Stürmer Krieg beim KSC selten von Beginn an spielen, sondern wurde von Schäfer meistens eingewechselt. Später war Rainer Krieg Stammspieler beim Zweitligisten Fortuna Köln. Keine Ahnung, ob Köln mit derselben Inbrunst den Krieg ausrief wie Karlsruhe.

Solch einen eindrucksvollen Namen wie Rainer Krieg hat die Bundesliga jedenfalls nie wieder erlebt. Außer Hasan Salihamidžić oder Kaká, aber diese Lautmalereien hängen in anderen Gallerien.