Sonntag, Januar 24, 2010

Herdenruf

Es hat an einem eisklaren Januartag auf dem Frankfurter Wochenmarkt begonnen. Ein dicker Mann legte eine dampfende Wurst zwischen zwei Brötchenhälften. Als er die Bratwurst seinem Kunden über den Tisch reichte, ertönte vom Gemüsestand gegenüber ein Laut, der wie das Schreien eines Schafs klang: "Mähhh."

Der Wurstverkäufer stimmte in das Gelächter der Gemüsekunden ein, und weil er in der Gunst seiner Wurstkunden nicht minder witzig gelten wollte als sein Standnachbar, schmetterte er ein sattes "Määähhh" in Richtung des Honigverkäufers. Dieser nahm die Herausforderung an und reagierte mit einem schallenden "Möööhhh".


So pflanzte sich das Geblöke kreuz und quer durch den Wochenmarkt fort. Zwischenzeitlich stimmten Marktbesucher in die Herdenrufe ein, und wenn man anfangs nur vereinzelte Laute vernommen hatte, schallte es bald aus allen Ecken: "Mähhh", "Mähähh" und "Möööhhhh". Bald fielen auch die Fahrer, die am benachbarten Taxistand auf Kundschaft warteten, in die Herdenrufe ein und mähten und möhten hemmungslos in ihre Funkgeräte. So ließen sich Taxifahrer am anderen Ende der Stadt von der Herde anstecken, und auch die Fahrgäste wetteiferten bald um das schönste, lauteste, naturgetreuste Blöken. Manche telefonierten mit Mobiltelefonen und schmetterten ihren Gesprächspartnern "Määähhs" und "Mööhhööös" in die Ohren.


Wie eine globale Epidemie verbreitete sich der Herdenruf über Konferenzräume, Tankstellen, Supermarktkassen, U-Bahnen, industrielle Produktionshallen, ungeachtet irgendwelcher Ländergrenzen, bis er weltweit von jeder Straßenecke in die dünn besiedelten Gebiete, Wüsten, Inseln und Urwälder drang. Nur wenige widersetzten sich dem Bedürfnis, in den Herdenruf einzustimmen. Aber das waren die üblichen Kritiker.


Durch ein privates Telefonat ereilte der Ruf einen Mitarbeiter der ESOC. Für den Mathematikstudenten, der gerade ein Praktikum in der Kontrollzentrale des European Space Operations Centre absolvierte, war das Blöken eine willkommene Abwechslung von seiner Beobachtungsroutine, und er sendete sogleich digitalisierte Herdensignale an eine Planetensonde.


Die Millionen von Nullen und Einsen wurden von Raumfahrern aus einer fernen Galaxie, die sich in imperialistischer Absicht der Erde näherten, empfangen, entschlüsselt und an ihren Heimatplaneten weitergeleitet. Von dort pflanzte sich der Herdenruf in alle Winkel des Universums und darüber hinaus fort.


Wie es weiterging, könnt ihr euch, liebe mähhh möhh möhöhhhh mäh möööhhhhhhh määäöööääääh möööh möhhh määähhh mähhh möhh möhöhhhh mäh möööhhhäähhhh määäääöööööääh möh möhhähöö mähhh mähähh möhh möhöhöööhhh mähöö möööhhhhhhh määäääääh möh möhhh mähhh mähhh möhh möhöhäääähhh mäh möööhhhhhhh määäääääh möh möhäääähh mähööhh

Sonntag, Januar 17, 2010

Imagine (Maine, New England)


v.l.n.r.: vorne, hinten (oder umgekehrt).

Donnerstag, Januar 07, 2010

Zeitfiguren

Er ging, jeden Tag, dieselbe Strecke. Schlammig und ausgetreten wand sich sein Weg durch den Park der verlorenen Zeit, wie Escher die Anlage bei sich nannte. Im grauen Himmel verharrten Vögel, deren Gefieder die Farbe der Wolken angenommen hatte, auf dürren Ästen in Gedanken. Nichts rührte sich. Es war, als entspränge die Stille ihrer eigenen Quelle, ebenso wie jeder Laut.

An einem quecksilbernen Nachmittag, der sich in nichts von den anderen Nachmittagen im tauenden Frost der Jahreszeit unterschied, fiel ihm auf, dass an jener Kreuzung, an der Escher noch nie entschieden hatte, die rechte Abzweigung zu nehmen und den gewohnten Weg zu verlassen, um eine neue Richtung einzuschlagen, eine Skulptur errichtet war, eine männliche Figur aus schwarzem Granit, die ratlos auf ihrem Sockel stand, als würde sie sich fragen, wie sie dorthin geraten sein könnte und wie die gesamte Welt um sie herum entstanden ist.

Gesichtszüge und Statur des Mannes aus Stein erschienen ihm vertraut. Escher wunderte sich, dass er die steinerne Figur, die von Efeu überwuchert war, noch nie wahrgenommen hatte. Ohne die Inschrift auf dem Sockel zu beachten, ging er am Denkmal vorbei und schlug seinen gewohnten Weg ein.

Auch am nächsten Tag unterbrach er seinen Gang nicht. Aber an der Wegkreuzung überkam Escher das Gefühl einer begründbaren Angst. Und er hatte den Eindruck, als wäre die Luft im Umfeld der Statue kälter. Der Anlass für seine Angst nahm in den folgenden Tagen Konturen an. Jede Begegnung mit dem Mann aus Granit bekräftigte Eschers Beobachtung, dass sich die Statue veränderte. Sie schien über Nacht eine andere Haltung einzunehmen. Zeichnete sich anfangs noch ein verzweifelter Ernst auf dem, in die Ferne gerichteten Gesicht ab, schien es inzwischen mit einer hinterhältigen Freundlichkeit ausgestattet und in die Richtung gedreht, aus der Escher sich näherte. Als ob die Figur ihn erwartete, empfing sie Escher mit ihrem rätselhaften Blick aus schwarzen Augen.

Es vergingen mehrere Tage. Escher ging, jeden Tag, dieselbe Strecke. Als er an einem Sonntag an die Wegkreuzung kam, war die Figur verschwunden. Nur der Sockel stand verlassen zwischen den Büschen. Zum ersten Mal versuchte Escher, die Inschrift zu entziffern. Ein frostiger Windhauch streifte seinen Nacken. In den Stein waren sein Name und sein Geburtsdatum gemeißelt. Eschers Blick fiel auf ein weiteres Datum und ein Kreuz daneben, aber die Ziffern waren zur Unkenntlichkeit verwittert.

Er stieg auf den Sockel. Von oben beobachtete Escher, wie sich ein Mann der Kreuzung näherte, der denselben Mantel trug wie er. Dann erkannte er, dass Escher selbst auf ihn zukam. An der Kreuzung zögerte Escher kurz. Er schaute ihm kurz in die Augen, bevor er in den linken Weg einbog. Als er nicht mehr zu sehen war, stieg Escher von seinem Sockel und schlug den rechten Weg ein.

Zeit ist ein Wegweiser ohne Beschriftung. Allein Veränderungen markieren Zeit, ohne die Vergänglichkeit von Ereignissen existiert Zeit nicht. Escher betrachtete seine Fäuste, die auf den Armlehnen des Ohrensessels ruhten. Sie fühlten sich hart an, als seien sie aus Granit geschlagen. Sein Blick verfinsterte sich.

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Mittwoch, Januar 06, 2010

Applaus, Applaus für alle!

Wenn der Zeitpunkt naht, an dem das Schiedsgericht sein Urteil fällen muss, das wie ein Damoklesschwert über kostbaren Textbildern hängt, wird plötzlich wieder klar, warum man Wettbewerbe, die sich auf den Vergleich von schöpferischen Leistungen begründen, nur grausam finden kann. Dass sich jenes Schiedsgericht aus einer einzigen Person zusammensetzt und es sich dabei fast nicht um Dionysius handelt, macht die Entscheidung nicht einfacher.

Allzu gerne würde man den Pokal in Stücke reißen und an sämtliche Teilnehmer überreichen, aber sofort stünden die Vorwürfe subversiver Dekadenz oder - viel schlimmer - inflationärer Schleimerei im Raum. Es ist also ein unerbitterliches Urteil des Kartells gefragt.













Der Moment ist gekommen, in dem ich das Rosshaar mit dem Willen des Scharfrichters durchschneide und mein Schwert gnadenlos auf den Text des >>Pathologen fallen lasse. Unter seinem Skalpell finden Sie den nächsten Freitagstexter.

Jetzt soll sich niemand mit nervtötenden Begründungen behelligt fühlen, aber ich bin ein unbedingter Freund des metaphorischen Irrsinns und kam zu dem Ergebnis, dass der Pathologe das Bild gründlich sediert und seziert hat, denn inzwischen glaube
ich selbst, bei dem abgelichteten Kerl handle es sich um den Verkehrssünder Heinz B. Und die Fahne kann ich förmlich riechen.

Freitag, Januar 01, 2010

Freitagstexter

Im letzten Jahrzehnt, den sogenannten Nullerjahren, wurde mir vom >>europäischen Hochadel eine Auszeichnung ersten Grades verliehen. Dabei handelt es sich um den seit Webloggenerationen kursierenden Wanderpokal des Freitagstexters.






Wenn Sie sich in der Sylvesternacht vorgenommen haben, außerordentliche Poetik für das neue Jahrzehnt zu verfassen und sich der Gefahr einer Preisverleihung auszusetzen, erhalten Sie hiermit die Gelegenheit. Regelwerk: Der aktuelle Ordensträger wählt ein Bild (s.u.) und gibt es am Freitag nach seiner Amtseinführung zum textlichen Beschuss frei. Am darauffolgenden Mittwoch wird die Nachfolge verkündet. Die Auswahl erfolgt nach subjektiv messbaren Kriterien. Eine Liste bisheriger Ordensträger und Pokalistinnen finden Sie in der >>Chronik.

Die Kommentare im Freitaxtexter sind steuerbefreite Investitionen zur Anregung der geistigen Konjunktur. Tragen Sie zum sprachlichen Aufschwung der Krise bei und produzieren Sie einen Titel oder Text zu diesem Bild: