Mittwoch, Mai 28, 2008

Langweilige Mordmethode

Das menschliche Gesicht kann über ein Zusammenspiel von Kontraktionen viertausend verschiedene Ausdrücke annehmen, unter seiner Haut befinden sich mehr Muskeln als in jedem anderen Körperteil.

Bormann kannte den Tod. Er hatte schon viele Leichen gesehen. Aber dieses Opfer besaß einen Gesichtsausdruck, wie er ihm noch nie bei einem Toten begegnet war. Einigen war die Panik ihrer letzten Sekunden ins Gesicht geschrieben. Andere wirkten, als hätten sie ihren Mörder mit einem Lächeln im Augenblick des Todes verspottet. Obwohl ihm die Mimik beinahe geläufig erschien, fand Bormann nicht die richtige Bezeichnung für den Ausdruck im Gesicht des Mannes, der in einem schwarzen Kunstledersessel versunken war und trotz der einsetzenden Leichenstarre vollkommen entspannt wirkte.


- Wenn ich nur wüsste, woran mich dieser Gesichtsausdruck erinnert, murmelte Bormann in Richtung seines Kollegen Grimm, ohne ihn dabei anzusehen.

- Schwer zu sagen, meinte Hauptkommissar Grimm und gähnte, ich habe sowas noch nie gesehen. Dabei kommt mir dieser Blick bekannt vor. Ich kann es nicht begründen, aber ich werde das Gefühl nicht los, als sei hier eine außergewöhnliche Grausamkeit geschehen. Obwohl alles friedlich wirkt. Störend friedlich. Warum stirbt ein augenscheinlich kerngesunder Mann in diesem Alter so plötzlich?


Während er sprach, ereilte Grimm ein weiterer Gähnanfall. Bormann musste auch gähnen. Die beiden Polizeibeamten nahmen die Hände nicht aus den Taschen ihrer Mäntel und standen mit gähnenden Mündern vor dem Toten. Einem Außenstehenden wäre die Situation befremdlich erschienen. Aber es befand sich kein Außenstehender im Raum. Die Kollegen von der Spurensicherung und der Pathologe waren mit routinierten Handgriffen damit beschäftigt, ihre Arbeit zu erledigen. Sie kannten die gesamte Bandbreite der Befremdlichkeit. Zwei gähnende Männer neben einer Leiche kamen ihnen nicht befremdlich vor.


Bormann fragte den Mediziner, woran der Mann gestorben sein könnte.

- Das kann ich dir sagen, sobald ich die Leiche auf meinem Obduktionstisch vernommen habe, erwiderte Fettler mürrisch.

Bormann hob die linke Augenbraue und schaute fragend in Grimms Richtung. Der zuckte mit den Achseln.
- Fettler, bei deiner pathologischen Kreativität hast du doch bestimmt eine Idee, provozierte Bormann.
- Bei meiner pathologischen Kreativität habe ich jede Menge Ideen, was ich am liebsten mit Kollegen tun würde, die mir um diese Uhrzeit dumme Fragen stellen.


Bormann gab auf. Fettlers Einsilbigkeit war legendär, und wenn er nicht reden wollte, konnte niemand außer Fettlers Siamkatze diesen Zustand auf unbestimmte Zeit ändern.


Sechs Stunden später konnte Fettler nicht mehr reden, und dieser Zustand war endgültig. Wieder standen Bormann und Grimm gähnend neben dem Tod. Diesmal war außer ihnen niemand im Raum. Sie hatten Fettler neben dem Obduktionstisch auf dem Boden gefunden. Auf dem Tisch lag der Grund ihres Besuchs. Mit geöffnetem Schädel.


- Mensch, Bormann, der Fettler hat den gleichen Gesichtsausdruck wie dieser Kerl hier auf dem Tisch. Beide mausetot, aber sie wirken absolut unversehrt, sagte Grimm fassungslos.

- Bis auf den kleinen Sprung in der Schüssel, fügte Bormann gähnend hinzu.


Am Nachmittag rief Bormann an und bat Grimm, in seinem Büro vorbeizukommen. Eine Zeugin des Mordes an dem Mann im schwarzen Kunstledersessel habe sich gemeldet, sie werde gleich bei ihm sein.


Als Grimm das Büro des Kollegen betrat, saß die Besucherin unbeweglich mit dem Rücken zur Tür. Bormann starrte ihn von der anderen Seite des Schreibtisches mit halb geöffneten Augen an. Er wirkte auf eine leblose Weise entspannt. Obwohl Grimm spürte, dass sein Kollege tot war, musste er unwillkürlich gähnen und empfand nichts als eine betäubende Langeweile, die sich wie ein Gift in ihm breit machte. Plötzlich wusste Grimm, woran ihn der Gesichtsausdruck von Bormann und den beiden anderen Toten erinnerte. Es war ein Ausdruck der vollkommenen Langeweile.


Langsam wendet die Zeugin ihren Kopf in Grimms Richtung. Und er spürt, wie das Blut aus seinen Schläfen weicht. Die Zeugin hat kein Gesicht.


Grimm dreht sich um. Jetzt schaut er mit wässrigen Augen mitten im Satz dem Leser dieses Textes ins Gesicht. Dir. Und du musst gähnen.

Samstag, Mai 24, 2008

Ein typischer Tag in der Hölle

06:66 Wecker gibt satanische Geräusche von sich. Drehe mich auf die andere Seite und verfluche den Fusel der letzten Hexennacht.

11:66 Quäle mich aus dem Sündenpfuhl. Teuflische Kopfschmerzen, wird auch nach einer Kanne Stechapfeltee nicht besser. Schwefelfürze.

12:66 Komme vier Stunden zu spät zum Dienst. Trotzdem kein schlechtes Gewissen. Chef lobt mich für miserable Arbeitsmoral.

13:66 Heimliches Blitzschach mit dem Hingerl Alois.

14:66 Wegen Blitzschach Fegefeuer vernachlässigt. Beinahe Abmahnung bekommen, dann doch befördert worden. Zum Glück ist falsch hier richtig. (Die Deppen.)

15:66 Schon wieder Ärger mit Adolf und Saddam. Streiten ständig, wer der Bösere sein darf. Karrieristen.

16:66 Luzifer gehuldigt. Jeden Tag dieselbe Leier, der Hingerl Alois langweilt sich auch schon. Aber der hat sowieso keine Perspektiven mehr.

17:66 Feuerabend. Gemeinsam mit Hieronymus Bosch in die Sauna gegangen.

18:66 Beim duschen diabolisches Hühnerauge im Spalt des linken Hufs entdeckt.

19:66 Fernsehen angeschaltet. Qualen nicht ertragen und sofort wieder ausgeschaltet. Das muss die schlimmste Bestrafung für alle Todsünden sein!

20:66 Hörner poliert, Schweif gebürstet und Spielhölle aufgesucht. Am Devil's Dare geflippert: 666 Freispiele.

21:66 Freispiele an Hell's Angels aus der Unterwelt vertickt. Anschließend schwarze Messe besucht. Während Zeremonie eingeschlafen, Religion ist Valium fürs Volk.

22:66 In der Hades Karaoke-Bar Tollkirschencocktail bestellt und satanische Verse gesungen.

23:66 Am vierten Tollkirschencocktail verschluckt und versehentlich Feuer gespuckt. Dabei Teile des Tagebuchs verbr

Donnerstag, Mai 22, 2008

Motto #21

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Sonntag, Mai 18, 2008

Kleiner Sport

Die Wahl des Belags hatte sich als richtig erwiesen, mit diesem Schläger würde er auch seinem letzten Gegner ein hohes Tempo aufzwingen. Er war in jeder Hinsicht bestens auf das Turnier vorbereitet und wusste, dass er das Endspiel für sich entscheiden würde.

Er hatte
zahllose Bälle verschlissen und mit seiner offensiven Spielweise alle Gegner im K.O.-System bis zum Finale bezwungen. Nervös federte er nun hinter der Plattenkante in den Knien und wischte sich mit seinem schwarzen Schweißband die Stirn. Das gehörte zum Ritual.

Dann griff er nach dem blauen Planeten und konzentrierte sich auf seinen Aufschlag. Er versetzte den Himmelskörper mit einem geschickten Anschnitt in eine Rotation, und während sich der blaue Planet in Richtung des Sternennebelnetzes auf seine Reise zur gegnerischen Seite der Tischtennisplatte machte, setzte sich der Finalist auf einen freien
Tribünenplatz. Er würde rechtzeitig an der gegnerischen Seite der Platte stehen, um den blauen Planeten anzunehmen und zurückzuschlagen. Aber das hatte noch ein paar Milliarden Jahre Zeit.

Es war faszinierend, wie oft die Planeten während eines Spiels die Farbe wechselten, bis sie schließlich Risse bekamen. Von den Befindlichkeiten der Kleinstlebewesen auf der Oberfläche bekam er nichts mit. Nur einmal hatte er einen Ball genauer untersucht, aber das Ergebnis war ihm unbedeutend erschienen.


Am Ende spielte er immer nur gegen sich selbst, denn außer ihm gab es keinen Gegner. Und auch das Publikum bestand nur aus Spiegelbildern.


Der Sport hält mich zumindest in Form
, dachte er beim Verlassen der Halle. Vor seiner Brust baumelte die Goldmedaille, die er sich während der Siegerehrung selbst verliehen hatte. Plötzlich begann der Boden unter seinen Füßen zu beben, und vor ihm tat sich ein Riss auf.

Samstag, Mai 17, 2008

Thema beendet

Der unauffällige, etwa fünfzigjährige Mann trug eine Kassengestellbrille, die er vermutlich aus seiner Jugend herübergerettet hatte, einen Fusselbart und eine dieser braunen Antiklederjacken ohne Ärmel, aber mit vielen Taschen, in denen man kleine Getränkeflaschen, Werbekulis und Zigarettenschachteln verstauen konnte.

Ich saß ihm schräg gegenüber auf der anderen Seite des Mittelgangs, der Platz neben ihm und die zwei Plätze ihm gegenüber waren frei. Als die S-Bahn am Hauptbahnhof hielt, betraten drei junge Frauen den Wagen. Geschätztes Gesamtgewicht rund 330 Kilo, keine war größer als Einssechzig. Sie quetschten sich unter deutlich hörbaren Atemgeräuschen auf die drei freien Plätze.

Ich bekam mit, wie der Fusselbart ein undeutliches "Oh, mein Gott" in sich hineinmurmelte. Sofort keifte ihn eine der fülligen Damen an:
- Was soll das denn? Wir wollen doch nur sitzen! Haben wir etwa kein Recht zu sitzen?
- Ich hab doch gar nichts gesagt, sagte Fusselbart in einem ruhigen Ton.
- Natürlich haben sie etwas gesagt! Oh, mein Gott haben Sie gesagt, ich hab's genau gehört!
- Schön, dass wir ein Thema gefunden haben, erwiderte Fusselbart gelassen und schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit des Bahnschachts.

Damit war das Thema beendet.

Mittwoch, Mai 14, 2008

Voodoo Display #24

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Donnerstag, Mai 08, 2008

R

Im Lichtkegel der Schreibtischlampe wirkte der Text wie ein Rinnsal aus durchgestrichenen Sätzen, die im Papier versickerten. Vom Starrsinn gegen die Müdigkeit getrieben, bemühte R sich um eine aufrechte Haltung.

Untote Gedanken hatten sich in Leichentücher gehüllt und schwebten durch entlegene Gänge seines Bewusstseins. R lauschte ihrem verzweifelten Atem und dem Geräusch ihrer Ketten. Das graue Licht des Morgens warf Schatten auf die Wortlosigkeit. Sein Körper verweigerte den Schlaf, gleichzeitig wollte sein Geist in der Müdigkeit versinken wie in einem See aus schwarzen Federn - einschlafen und nie wieder auftauchen aus den Tiefen zeitloser Stille.


Aber nach jedem Schlaf wiederholte sich das Erwachen, und jedem Erwachen folgten Variationen von Variationen. Alles verschmolz zu einer konturlosen Masse aus Bedeutungslosigkeit. R hatte Außergewöhnlichkeiten aneinander gereiht, bis sie zu Regeln eines verwechselbaren Alltags geworden waren. Anfangs war jedes Extrem der Beginn einer Steigerung, aber irgendwann stieß R an die Grenzen seiner Vorstellung. Und um die Vorstellungen der Anderen schienen die Grenzen noch enger gezogen.


Der Zauber einer richtungslosen Zukunft hatte sich in berechenbare Banalität verwandelt. Die Inspiration entpuppte sich als ein uneheliches Kind der Monotonie. R konnte Ideen beliebig abrufen, Wirkungen waren die Ergebnisse gezielter Absichten. Denken war eine steuerbare Verkettung biochemischer Prozesse.


Besessen vom Trieb des Jägers und Sammlers schlich sich R in die Festung seines Bewusstseins. R dokumentierte, klassifizierte, ordnete und archivierte. Noch glaubte R an die Existenz unbekannter Kontinente und an die Möglichkeit einer Entdeckung.

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